48. Tage der deutschsprachigen Literatur

Der zweite Vorlesetag bringt einen weiteren Favoritentext

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Den zweiten Tag eröffnete Sophie Stein mit dem Text Die Schakalin. Andrei und Kat haben gerade eine Woche voller unproduktiver Spaziergänge und Strandausflüge am Schwarzen Meer verbracht und befinden sich auf dem Rückweg nach Hause. Ergebnislos war diese Woche vor allem, weil sich Andrei nicht für Kats Experiment der „Korrekturen“ rekrutieren ließ. Dabei suchte sie ihn gezielt aus, weil sie ihn beim Prokrastinieren erwischte.

Kat hatte es nicht fassen können. „Jede emotionale Verletzung im frühen Kindesalter, jedes übernommene Verhaltensmuster, jede Traumatisierung und Kränkung oder negative Beeinflussung kann durch die Korrekturen erfasst und ausgeglichen werden.“
Andrei ließ sie ausreden, wollte jedoch von Methoden, die in Fachkreisen salopp als „Befreiung von der Kindheit“ bezeichnet wurden, nichts hören.

Andrei kehrt zu seinem Mathematikstudium zurück. Kat befasst sich mit ihrem wissenschaftlichen Experiment, die Natur des Menschen gezielt zu verändern. Ergänzt wird dieser Plot durch eine uneindeutige Gesellschaftskritik, Naturbeschreibungen, Tiervergleiche und versteckte Referenzen u.a. zu Ovids Metamorphosen.

Eingeladen wurde Sophie Stein von Mara Delius. Die Jury zeigte sich zunächst positiv. Gelobt wurden die Atmosphäre der Geschichte, die Unbestimmtheit von Kat, die symbolische Darstellung der Orte des Übergangs und der Determiniertheit und Formbarkeit der Natur sowie die Gegenüberstellung von Tier und Menschen, Natur und Zivilisation. Auch die bewusst gesetzten falschen Fährten haben den Jurorinnen und Juroren gut gefallen. Sehr schnell kippte die Diskussion jedoch in einen negativ kritischen Modus: Der Text sei zu brav, er trage einen Sonntagsgewand und leide an Adjektivismus, was ihm zwar dauerhaft einen schönen Ton verleihe, doch den Text abschwäche. Bemängelt wurden zudem die fehlende Dynamik zwischen den Figuren und der literarisch verschenkte Spannungsbogen. Zum Schluss verlagerte sich die Diskussion auf die Frage, was Literatur überhaupt sei.

Im Anschluss las, ebenfalls auf die Einladung von Mara Delius, Henrik Szántó Eine Treppe aus Papier. Der Autor wurde als Spoken-Word-Künstler vorgestellt. Zwar fiel sein Vortrag nicht unbedingt durch eine besondere Artikulation oder Dynamik auf, doch stach sein Text durch seine Form und Komposition hervor.

Wir sind eine Summe aus Rohren, sind gestapelter Stein, verputzte Mauer, ein Labyrinth aus Wand und Decke, wir sind Treppen und Toiletten, Fensterglas und Müllversorgung, Tapete aus Holz, die Briefkästen mit wechselnder Beschilderung, für uns ein Flimmerbild, wir, das Signal, das uns bei Besuch durchfährt, bis es irgendwo in unserem Bauch klingelt, wir sind der Mund, in den du deine Säuglinge trägst, aus dem du uns auf Bahren verlässt, das Echo von Sicherheitsschuh, Stiefel, Sandale, Sneaker, Socke, der Duft gelungener Versuche, das Sonntagsmahl, die Tiefkühlpizza, der Rauchmelder, weil eine Pfanne nicht beschichtet, der Ofen nicht gerichtet oder das heimliche Rauchen doch nicht so heimlich […].

Dieses „wir“ ist das Echo der vergangenen Jahre, Jahrzehnte, das „wir“ sind die bereits vergessenen Menschen, es sind in ein Haus eingeschriebene Spuren der Vergangenheit. Diese Aufzählung wird über mehrere Minuten der Lesung durchgehalten, bis sich beim Zuhören ein besonderer Sound einstellt, ein Rauschen der Vergangenheit, aus dem sich – wie aus einem Nebel – zunächst punktuell einzelne Figuren herauskristallisieren, wie z.B. Irma, die ihren Briefkasten verschließt, Irma als Kind, Irma als Greisin. Hier und da wurden autofiktionale Elemente eingeflochten. Es ist kein Text, der sich auf Plot reduzieren ließe. Es ist auf jeden Fall ein Text, der mit der gesprochenen Sprache auflebt und seine ästhetische Seite entfaltet.

Zunächst schien es für die Jurymitglieder bedeutend zu sein, sich darüber auszutauschen, wie schnell sie ihren Zugang zu dem Text gefunden haben. Wobei der lyrische, listenartige Beginn des Textes nicht alle Jurymitglieder gleichermaßen überzeugen konnte. Dennoch lobten sie schnell den innovativen Charakter des Textes, seine Offenheit, die Darstellung des Prozesses der Erinnerung und der Weitergabe, die Darstellung der Vergangenheit in der Gegenwart, des Ungleichzeitigen in der Gleichzeitigkeit. Zusammenfassend ließe sich behaupten, dass mit Eine Treppe aus Papier ein weiterer Anwärter für einen Preis im diesjährigen Wettbewerb zur Debatte steht.

Vor der Mittagspause präsentierte Denis Pfabe seinen Text Die Möglichkeit einer Ordnung. In dem Text präsentiert er ein Ehepaar mit einem unerfüllten Kinderwunsch. Als Allegorie für den Versuch, eine Familie zu gründen, lässt er das Paar sein Zuhause einrichten, ein Nest bauen. Doch die Hoffnung auf Glück wird nicht eingelöst.

Ein Jahr Baustelle lag hinter uns. Im letzten Sommer war ich an manchen Tagen mehrmals hierher in meinen Arbeitsklamotten gefahren, an deren Verschmutzung man die verschiedenen Stadien unserer Hausrenovierung ablesen konnte. Die Kassiererin begann, kleine Nettigkeiten mit mir auszutauschen. […] Ich bekomme das Haus einfach nicht warm, sagte ich, als er fertig war. Die Räume blieben über Tage hinweg kalt. Ich hatte den Ofen angemacht, als wir zurückgekommen waren, vier Monate zu früh und doch nur zu zweit.

Bei diesem Text zeigte sich die Jury überwiegend positiv. Der Text sei formal schön abgerundet, im positiven Sinne des Wortes komponiert. Es sei ein Text, der ständig seine fiktionale Wirklichkeit überschreite. Zudem sei die Perspektive eines unzuverlässigen Ich-Erzählers überzeugend gewählt. Nicht zuletzt verführte er die Jurymitglieder dazu, ihre eigenen Vorlieben oder Abneigungen einem Baumarkt gegenüber zu offenbaren. Es sei zwar für den Text nicht relevant, doch nun weiß auch das Publikum, dass sich Basilikum nach dem Einkauf nicht länger als zwei Wochen halte. Denis Pfabe las auf die Einladung von Philipp Tingler.

Nach der Mittagspause – auf die Einladung von Laura de Weck – präsentierte Olivia Wenzel ihren Text. Hochleistung, Baby entspinnt sich auf zwei Ebenen. In der Rahmenerzählung befindet sich eine Gruppe von Müttern in einem gemeinsamen Urlaub. Eine der Mütter, die Ich-Erzählerin, verlässt das Mutterkollektiv für wenige Stunden, um ein Interview mit einem ehemaligen Fußball-Profi zu führen. Das Interview wird seitens des Fußballers abgebrochen. In der Nacht träumt die Ich-Erzählerin davon, wie sie mit dem Fußballer auf einer unbewohnten Insel strandet, wobei sie aufgrund von Milchstau zu fiebern beginnt.

Ich schiebe meine Hand unter meine Schwimmweste und streife meine linke Brust. Was habe ich erwartet – ein philosophisches Gespräch? Er kratzt sich am Kinn und ich wüsste gern, wie sein Bart sich an meiner Wange anfühlen würde oder zwischen meinen Beinen. Fände er es eigentlich auch merkwürdig, frage ich, dass so bierbäuchige Zuschauer immer so tun, als könnten sie alles besser?
Das sei doch großartig, antwortet er, die Leute würden sich nun mal identifizieren. Am Ende gehe es um Gefühle, um gigantische Gefühle, um Gemeinschaft.

Dieser Text führte die Jury an ihre Grenzen. Denn während manche diesen Text als den besten des diesjährigen Wettbewerbs betrachten oder darin eine hochinteressante literarische Form erkennen, bezeichnen ihn andere als ein Thesenstück und attestieren ihm eine erzählerische Konventionalität. Zudem setze der Text, so Philipp Tingler, den modischen Begriff der Identität ein, einer, der sich von der Zugehörigkeit bestimmter Gruppen ableitet. Auch in weiteren Punkten war sich die Jury bei diesem Text hochgradig uneinig, denn während die einladende Laura de Weck die Dialoge und die hochrealistische Sprache lobte, funktionierten gerade diese für Brigitte Schwens-Harrant überhaupt nicht. Zudem scheine der Text überladen zu sein, indem er auf zu viele aktuell behandelte Diskurse rekurriert.

Zum ersten Mal in diesem Jahr mischte sich die Autorin in die Jurydiskussion ein, fragte Mara Delius danach, warum der Text für sie konventionell sei, und erklärte, wo im Text die Traumebene beginnt. Eine mutige Tat. Schade nur, dass sich dieses nicht aus dem Text heraus entwickelte.

Den zweiten Lesetag schloss Kaśka Bryla, die auf Einladung von Brigitte Schwens-Harrant gelesen hat. In ihrem Text Der Kakerlakenschwarm geht es um eine Ich-Erzählerin, die an Corona erkrankt, sich einer kleinen Krähe annimmt und den Eltern verspricht, deren Lebensgeschichte aufzuschreiben. Eine Aufgabe, die nicht einfach zu bewältigen ist. Außerdem versucht sie auf digitalen Wegen, Kontakt zu anderen Menschen zu halten, und wünscht sich, dass Estha sie vermisse.

Es gibt einen Schmerz, der zwischen den Schulterblättern beginnt, entlang einer Linie bis zur Kopfmitte zieht und sobald ich hinfasse, wie ein Blitz in mich fährt, während ich kraftlos vor meinem Haus auf Rädern im Liegestuhl sitze und den Wolken nachsehe, die heute schneller als gestern vorbeiziehen, aufgeplustert und prächtig auf mich herabsehen, den matten Körper, der im besten Fall den Weg zum Dixi-Klo und zurück schafft, weil seine Mitbewohner*innen mir ein Dixi-Klo hingestellt haben, damit ich ihres nicht mit der Krankheit verseuche, diesem Kakerlakenschwarm, der sich über der Welt ausbreitet […].

Zunächst meldete sich Laura de Weck und verriet, dass sie zwar den Text gerne gelesen habe, aber von dem langsamen Vortrag überrascht sei, da der Text an sich nur über Kommas und lediglich über drei Punkte, d.h. über drei Sätze verfüge. Sie verglich diesen Text zudem mit einem Instagram-Feed. Die übrigen Juroren und Jurorinnen zeigten dem Text weniger Gnade. So wurde bemängelt, dass die Verbindung zwischen den verschiedenen Erzählebenen sowie die Dialoge nicht funktionieren würden. Der Text sei selbstbezüglich und ähnelt mit seiner Ästhetik Bachmann-Preistexten aus den frühen 80er Jahren, konstatierte Philipp Tingler. Zudem sei, so Philipp Tingler, die durch Brigitte Schwens-Harrant vorgeführte Interpretation interessanter als der Text selber.

So endete der zweite Lesetag mit einem schwachen Text. Doch sowohl für Henrik Szántó als auch für Denis Pfabe scheinen die Chancen auf einen Preis noch zu bestehen. Ob sich Olivia Wenzel mit ihrer Wortmeldung nun beim Publikum beliebt machte und den Publikumspreis gewinnt, wird sich erst am Sonntag herausstellen. Es bleiben noch vier Texte offen.

Auf zum letzten Wettbewerbstag!

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen