Unter einem Pottwal begraben

Warum der stille Salvatore eine andere Rede hielt als geplant, das erzählt Michael Wäser in einem großartig komponierten Roman

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Michael Wäsers Roman Warum der stille Salvatore eine Rede hielt hat nach einer Jahre zurückliegenden Eigenveröffentlichung nunmehr einen wohlverdienten Platz im Programm des Axel Dielmann Verlags gefunden. Die ansprechende Gestaltung des Bandes und verheißungsvolle Überschriften im Inhaltsverzeichnis (zum Beispiel „Fortinbras und die 60-Watt-Birne“ und „Du riechst gut“) wecken Vorfreude auf die Lektüre.

Schauplatz des Romans ist der Staat Bovnik, der von einer korrupten und verschlagenen Regierung mit dem idiotischen Wahlspruch „WE KNOW!“ beherrscht wird und in Fehde mit dem ebenso verdorbenen Nachbarstaat Thunak lebt, seinem einstigen Mutterland. UN-Beobachter mit Jeeps sind vor Ort, ändern aber nichts an den verheerenden Zuständen. Der vielfache und anregende Wechsel der Erzählebenen kann in der Rezension nicht wiedergegeben werden; Konzentration auf die beiden Hauptpersonen ist vonnöten: Salvatore und Vera.

Der titelgebende Salvatore, Familienname Krig, ein stiller Einzelgänger, wird gleich im ersten Satz von seinem Motorroller gefegt, weil direkt neben ihm ein Pottwal abscheulich stinkend explodiert. Für den Pottwal, immerhin ein „Stück Weltgeschichte“, bleibt hier keine Zeit. Und der Gestürzte wähnt sich in einem schönen Traum, während der Notarzt die Reanimation vorbereitet. Nach zahlreichen Untersuchungen und Operationen wird Salvatore eine Berühmtheit in Bovnik. Angesichts seines irreparablen Rollers sieht er ein, „dass er eigentlich einen tödlichen Unfall gehabt hatte“. Der Kauf eines neuen Rollers füllt die Schlagzeilen der Zeitungen. Ruhe findet Salvatore in einem vermüllten Teich, wo er im Taucheranzug bis zu fünf Stunden zubringt. Dort begegnet er Vera, die ihn später besucht und ihm, etwas Neues für sie, voll vertraut. Er liebt sie, fürchtet erstmals den Verlust eines anderen Menschen.

Auf dem „Platz des Sieges“ veranstalten die Adventisten Bovniks ihre erste öffentliche Versammlung seit Jahren, mit dem prominenten Salvatore als Hauptredner. Er will die wahre Natur des Krieges enthüllen und den Menschen die Augen öffnen, um sie aus Elend und Agonie zu befreien. Doch im letzten Augenblick überlegt er es sich anders und sagt nur kurz, dass alle Bescheid wissen: „WE KNOW!“ Die Adventisten wie auch ihre Todfeinde fühlen sich ertappt. Dann bebt die Erde, und einige bösartige Menschen kommen um. In der Bovniker Bucht beschießen Kriegsschiffe aus Thunak und Bovnik einander. Ein Geheimdienstler denkt „Der Krieg wird nie enden. Ohne ihn wären wir nackt.“ Salvatore fährt auf seinem neuen Motorroller hinaus aus dem unversehens so genannten „Babylon“ .Vera, auf der Sitzbank hinter ihm, umarmt ihn fest. Ein Vergleich Salvatores mit dem „Abenteuerlichen Simplicissimus“ liegt nahe, und die kurze Ansprache Salvatores ist durchaus genial verschmitzt. Doch zwischen dem adeligen und gebildeten Schelm aus dem Dreißigjährigen Krieg und dem einfachen Mann von heute liegen Welten.

Mit einer blonden Perücke getarnt, war Vera am Nationalfeiertag mit einer „chemischen Waffe“ zum „Platz des Sieges“ gegangen. Dort sollte der Präsident sprechen, vor allen Bonzen, sofern sie sich nicht gerade an Hilfsgeldern bereicherten. Veras Einzelaktion, ihre „Reifeprüfung“ für die Untergrundbewegung, war erfolgreich, doch weiß man zunächst nicht, warum darüber gelacht wird. Das Staatsfernsehen spricht von einem feigen Giftanschlag. Genaueres erfährt man durch den Bovniker Geheimdienst: Vera hat ein Frisbee geworfen, das dank einer chemischen Erfindung in für Tauben attraktive Krümel zerfiel. Die Vögel stürzten sich auf das Futter, bekamen Durchfall und beschmutzten die würdelosen Würdenträger. Doch Vera wurde kurz nach der Tat fotografiert; die Fahndung nach ihr läuft.

In einer mit Teil 5 beginnenden, rücklaufend erzählten Geschichte geht es um den Soldaten Lydian Perta. Der liegt als „Held“ aufgebahrt im alten Bovniker Dom, wo ihm die Militärspitze die letzte Ehre erweist. In durchaus widerlicher Detailtreue erfährt man, dass er „der beste Vergewaltiger der Bovniker Armee“ war. Einen Orden bekam er als Anführer einer nächtlichen „Sonderaktion“ vieler Männer gegen eine Frau.

Erschüttert liest man vom moralischen Verfall der Bevölkerungsmehrheit in einer Diktatur, der von lethargischer Anpassung bis zu aktivem Denunziantentum reicht. Parallelen zu den Kriegen nach dem Zerfall Jugoslawiens werden deutlich, und das erste der dem Buch vorangestellten Zitate widerspiegelt die bittere Wirklichkeit: „Wir sind doch nunmehr ganz, ja mehr denn ganz verheeret“ (Andreas Gryphius). Einige negative Gestalten wirken überzeichnet, verdeutlichen aber hart an der Grenze zur Karikatur, wie skrupellos Macht sein kann.

Michael Wäser beherrscht viele Tonlagen und überschreitet mühelos Genregrenzen. Im Roman „Familie Fisch macht Urlaub“ schickte er die vielköpfige Familie zur Zeit des (laut Walter Ulbricht „von niemandem beabsichtigten“) Mauerbaus nicht in Urlaub, sondern auf Republikflucht. Im Roman „In uns ist Licht“ verwob er kunstvoll zwei Zeitebenen zu einer spannenden Geschichte über Lichtbilder aus Porzellan. Im knallharten Krimi „Das Wunder von Runxendorf“ erfand er eine Mordserie in seiner saarländischen Heimat. Das Gedichtbändchen „Am Neuen See“, 2020 gemeinsam mit Inka Bach herausgebracht, war der lyrische Ertrag von Begegnungen der beiden im Berliner Tiergarten

Michael Wäsers Roman ist auch als E-Buch erschienen. Von diesem Autor, der seine Schreibweise bei jeder Veröffentlichung neu erfindet und dabei stets ein Feuerwerk literarischer Einfälle zündet, ist noch viel Gutes in unterschiedlicher Gestalt zu erwarten. Angesichts einer Art Kammerspiel zwischen zwei Sicherheitsleuten, in dem ein einziger Blick klarmacht, wer „ein blondierter karrieregeiler Schnösel und wer ein Agent war, vor dem sich die Staatsfeinde fürchten mussten“, würde man diesen Autor gern als satirischen Dramatiker kennenlernen. Dieser Wunsch verstärkt sich in einer Szene, in der ein aufgebrachter Präsident nicht nur seinen Piloten, sondern sogar die Kaninchen von dessen Kindern mit dem Tode bedroht.

Titelbild

Michael Wäser: Warum der stille Salvatore eine Rede hielt. Roman aus einem fiktiven Bürgerkrieg.
Axel Dielmann Verlag, Frankfurt a. M. 2024.
344 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783866384446

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