Hip und begehrt: die Datscha
Warum die Datschen-Kultur nach der Wende mehr denn je blüht
Von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim
Rätsel des Lebens. Was, um Himmels willen, bringt Hunderttausende Deutsche dazu, ihre komfortablen Stadtwohnungen zu verlassen – und am Wochenende in eine zugige Baracke im Kiefernwald zu ziehen, in der eine tropfende Dusche, ein müder Grill und überaus nahe Nachbarn in ähnlichen Hexenhäuschen auf sie warten und wo ein Jauchewagen alle zwei Wochen anrückt, um die Sickergrube zu leeren?
Die Immobilien-Institution der sogenannten Datscha – unkorrekt: Datsche – stammt aus der Zeit der DDR und blüht und gedeiht auch 35 Jahre nach der Wende auf das Schönste. Mehr noch: Datschen sind hip, Datschen sind gesund, Datschen sind eine gute Investition. Nur-Dach-Häuser, kleine Bungalows und Holzhütten wechseln in den Wäldern des Spreewaldes, der Schorfheide, an den Seen Brandenburgs und Mecklenburgs für unterschiedlich große Summen die Besitzer. Für 23.500 Euro gibt es auf Ebay schon in der nicht so begehrten Dahlener Heide bei Leipzig eine Datsche von 35 Quadratmetern, und in der Schorfheide kann man für 65.000 Euro einen Bungalow von 1964 in Leichtbauweise mit zwei Räumen, Küche und Toilette und einem 900 Quadratmeter großen Grundstück erwerben. Ein 50 Quadratmeter großes Haus mit spektakulärem Seezugang und Grundstück von 2.000 Quadratmetern mag aber auch 400.000 Euro kosten. Es gilt: je mehr See und umso näher an Berlin, umso teurer.
Aus der russischen Tradition der „Datscha“ – ursprünglich einem fürstlichen Landgeschenk – war in der sozialistischen Zeit der DDR ein begehrtes Lebensmodell geworden: Kolonien von Landhäuschen, die als saisonaler Zweitwohnsitz den Werktätigen Erholung schenken sollten. Im ostdeutschen Staat gab es Schätzungen zufolge einige Millionen Datschen, in deren Gärten Obst und Gemüse angebaut wurde und in denen ein ganz eigenes Sozialleben stattfand. Alte Datschenbewohner erzählen davon, wie sich die Bewohner der Datschenkolonien einmal im Monat zum sogenannten „Subbotnik“ trafen, einem freiwilligen unbezahlten Arbeitseinsatz. Meist am Sonnabend wurde das Gelände gemeinsam instandgesetzt. Ein Ritual, an das manche mit Wehmut zurückdenken, da es Gemeinschaft stiftete.
Im Westen der Bundesrepublik regelte das „Bundeskleingartengesetz“ von 1983 alles bis heute so ordentlich: Die Laube darf nicht größer als 24 Quadratmeter, auf jeden Fall nicht zum dauernden Wohnen geeignet sein. Die meist erheblich größere Datscha hingegen wird auch heute von den meisten ihrer ostsozialisierten Bewohner als Sommer- oder Wochenendwohnsitz genutzt. Als Zweitwohnsitz der Erholung vom Stadtleben ist ihre durchgehende Nutzung erlaubt, auf jeden Fall geduldet. Selten wird reklamiert, dass die „Erholung“ kein zeitliches Ende zu haben scheint. Die Figur der „Nachbarin Immerda“ ist keine kinematografische Erfindung.
Aber es tut sich was: Betrachtet man heute die Datschenkolonien, kann man feststellen, dass auch in dieser Szene in den vergangenen Jahrzehnten eine Gentrifizierung und die Entwicklung hin zu Gated Communities stattgefunden hat. Und dass das Datschenleben wie das Schrebergärtnern im Westen der Republik nicht mehr als spießig, sondern als hip eingeordnet wird. Zumindest in klar segregierten Abschnitten.
So kann man in einem durch Zaun, Tor und Code gesicherten Terrain an einem See in der Schorfheide, das zu DDR-Zeiten Zollbeamten als Erholungsgebiet diente, eine erstaunliche räumliche Abgrenzung der Untersiedlungen zwischen Akademikern und Nicht-Akademikern feststellen. Die ersteren trinken ihren frühabendlichen Aperitif auf den Freisitzen ihrer mehr oder minder massiven Neubauten mit Fußbodenheizung, Siebträger-Kaffeemaschinen, Thonet-Möbeln und großer Sauna. Solche Liegenschaften gehören nun beispielsweise einer Berliner Hochschullehrerin, einem französischen Schwulenpaar oder dem Direktor im Ruhestand eines großen Hauptstadtmuseums.
Nur wenige Schritte auf dem sandigen Feldweg entfernt und in unmittelbarer Nähe der Akademiker-Kolonie haben die Nicht-Akademiker den Hüttencharakter ihrer alten Schlumpfhäuser sorgsam konserviert. Oder sich mit dem neu erworbenen Blockbohlenhaus „Greta“ mit traditionellem Spitzdach ein „naturnahes Lebensgefühl“ geschaffen. Gartenzwerge – nicht eindeutig erkennbar als ironisch gemeint – und Hinweise auf den wachsamen Schäferhund signalisieren ein anderes Biotop als die akademische Ikebana-Welt neben der Garage für den Tesla. Hier wird noch gegrillt und Fassbrause getrunken. Für manche dieser Menschen, vor allem die Älteren, wurde ihre Datscha zum Corona-Asyl, über dem die Deutschlandfahne flattert. My Datscha is my castle.
Alles das ist nichts Neues: Die Sehnsucht nach dem Leben im Wald ist viel älter als die DDR oder die Sowjetkultur. Die Schorfheide etwa war früher Jagdgebiet der preußischen Könige und der Nazi-Bosse. Und wurde abstandslos zum Wochenendrefugium der SED-Elite, die hier ihre Datschen bewohnten. Von Erich Honecker geht die Sage, dass er offizielle Gespräche abbrach und sich in die Schorfheide fahren ließ, wenn ihm ein Zettel mit der Nachricht gereicht wurde: „Der Hirsch steht“. Heute stehen die Buchenwälder als UNESCO-Weltkulturerbe unter strengem Schutz, und es gilt absoluter Baustopp. Auch deshalb kommen dort so gut wie keine Datschen auf den Markt, denn die meisten werden in Ostfamilien vererbt.
„Hier ist nachts nichts als tiefe Dunkelheit, da es keine Lichtverschmutzung wie in Berlin gibt, wir werden am ersten Abend ganz schnell total müde und schlafen bei der reinen Luft herrlich“, schwärmt ein Neu-Berliner Publizist, der mit seinem Mann vor einigen Jahren eine kleine Hütte an einem See gekauft hat. „Als wir das erste Mal bei Vollmond hier waren, dachten wir, es ist ein Auto mit Fernbeleuchtung, weil der Wald so silbern hell war“, erzählt er, immer noch kindlich staunend.
Die beiden Kreativen sind heute voll in der Wald-Nachbarschaft integriert – viel besser, als sie jemals gedacht hätten. „Als wir das erste Mal hier ankamen – zwei Schwule mit einem großen Pudel im Volvo SUV! – hatten wir eher Bedenken, ob das nicht schief gehen könnte“, erinnert sich der eine amüsiert. Doch die direkten Nachbarn wurden ihre besten Freunde im Wald. „Hier wird viel gefeiert, mit Eierlikörchen und so.“ Das urbane Paar musste dafür erst die ungeschriebenen Benimmregeln im Waldleben lernen. „Der größte Fehler, durch den ich mir beinahe die Zuneigung der Anwohner verspielt hätte, war, dass ich mir habe Holz liefern lassen“, erzählt er. „Als echter Mann macht man das natürlich überhaupt nicht, sondern Du gehst mit der Kettensäge in den Wald und haust nach Rücksprache mit dem Förster einen Baum um!“ Um sich diesen Sitten anzupassen, unternahm der schöngeistige Autor den Versuch, in Begleitung seines großen Pudels einen Motorsägenschein zu machen – mit nicht ganz erfolgreichem Ausgang. „Im Seminar waren lauter zwei Meter große Waldarbeiter, die wirklich mit einer Stihl-Säge umgehen konnten, ich habe dann bald aufgehört“, gibt er zu. Stattdessen sorgt ein Nachbar, genannt „der Handwerkergott“, für fein ordentlich gestapeltes Holz am Haus: „Ohne den können wir nicht leben.“
Laut Freizeitmonitor 2024 der BAT Stiftung für Zukunftsfragen wünschen sich 73 Prozent der Deutschen mehr Zeit in der Natur – statt, wie sie es tatsächlich zu 97 Prozent tun, online zu daddeln. Das Datschenleben ist gesundheitlich gesehen unübertreffbar: Keine Lichtverschmutzung. Ruhiger Schlaf. Waldbaden. In die Pilze gehen. Biber und Kraniche beobachten. Den Eulen lauschen. Vielleicht ist das Datschenleben ein Lifestyle, der von den Krankenkassen bezuschusst werden sollte, möglicherweise sogar für Akademiker.
Anmerkung der Redaktion: Der Beitrag gehört zur monatlich erscheinenden Kolumne „Rätsel des Lebens“ von Dirk Kaesler und Stefanie von Wietersheim.