Von Apulien nach Berlin und zurück

Mario Desiatis „Spatriati“ ist ein Tribut an die Heimatsuchenden

Von Heike HendersonRSS-Newsfeed neuer Artikel von Heike Henderson

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Spatriati, die Heimatlosen, das sind im apulischen Dialekt die aus der Art Schlagenden, die nicht ganz Dazugehörenden. Desiatis poetischer Roman handelt von diesen Umherirrenden – er erzählt von Herkunft und Suche nach Heimat, von Lust und dem Schmerz der Selbstbefreiung. Die Coming-of-Age-Story folgt dem Leben der zwei apulischen Hauptfiguren: Francesco, aus dessen Perspektive der größte Teil des Romans geschildert wird, und Claudia, die sich ihm eng verbunden fühlt, aber ihn trotz aller Liebe weitgehend auf Distanz hält.

Francesco und Claudia sind beide Abweichler, die den Normen der Gesellschaft nicht genügen, und die gegen diese Normen rebellieren. Francesco, von seiner Mutter schwarze Traube genannt, schminkt sich heimlich und hegt unterdrückte homosexuelle Gefühle – was ihn jedoch nicht davon abhält, Claudia anzuhimmeln und sich nach ihr zu sehnen. Die androgyne Claudia versucht, der dörflichen Enge Apuliens zu entfliehen, und geht erst auf ein Austauschjahr nach London, dann zum Studium nach Mailand, und schließlich in das kosmopolitische Berlin, wohin ihr Francesco ein paar Jahre später nachreist.

Berlin, der Ort der „neuen italienischen Glücksritter“, fungiert in diesem Roman als ein Symbol für Freiheit, Selbstbestimmung und sexuelle Fluidität. Das Berliner Clubleben erlaubt es erst Claudia und später auch Francesco, ihre Fantasien zu erkunden und auszuleben – auch wenn die sexuellen Eskapaden in den Technoklubs für meinen Geschmack etwas zu ausführlich geschildert sind. Der Hunger nach Intensität und neuen Erfahrungen wird mit dem Fokus auf Tradition und Althergebrachten in Apulien kontrastiert und untermauert damit den Gegensatz nicht nur zwischen Deutschland und Italien, sondern auch zwischen Stadt und Land. Das offene Ausleben der eigenen Sexualität steht im direkten Gegensatz zu der Verlogenheit vieler italienischer Familien, die sich wie Francesco und Claudias Eltern einerseits schamlos betrügen, andererseits in der Öffentlichkeit den Schein der intakten Familie aufrechterhalten wollen.

Neben der Sexualität spielt Sprache eine exaltierte Rolle in diesem Roman. Claudia erlebt Deutschlernen als ein Abenteuer; das Ablegen der Muttersprache wird von ihr als eine Häutung und Erneuerung der Hülle der Identität empfunden. Die sechs Kapitel und der Epilog sind mit Schlüsselwörtern und den dazugehörigen Worterklärungen überschrieben. Die ersten drei Wörter stammen aus dem apulischen Dialekt und werden als irgendeine Person, umherirrend und Person, die ein Gleichgewicht zerstört, definiert. Die folgenden drei Wörter sind deutsch: Ruinenlust, Sehnsucht und Torschlusspanik. Der Epilog ist mit Amore überschrieben – aber im Gegensatz zur herkömmlichen Übersetzung des italienischen Wortes ist der Begriff im apulischen Dialekt nur ein Synonym für Geschmack: „Im Dialekt meines Heimatortes gibt es keine Liebe“ (246). Francesco ist zurückgekehrt, wohnt in der Trulli seiner Großeltern und pflanzt eine Olivensorte, die erst in 20 Jahren Früchte tragen wird. Er wird als „der Deutsche“ bezeichnet und, da er keine Frau und keine Kinder hat, ist er immer noch ein Unbehauster, immer noch „spatriato“ (240). Der Roman endet mit einer Hommage an die Literatur Apuliens: Claudia und Francesco tragen einander Gedichte vor und versuchen, Zuflucht zu finden in Texten, die älter sind als sie selbst.

Für Martin Hallmannseckers hervorragende Übersetzung des 2021 in der Originalausgabe erschienenen Romans hat der Autor den Text überarbeitet und geringfügig gekürzt. Es fehlt der in der italienischen Ausgabe vorhandene Anhang mit detaillierten Referenzen, Erklärungen und Beschreibungen, die wohl als nicht notwendig erachtet wurden, und die durch eine kurze Hommage an die Schriftstellerinnen und Schriftsteller Apuliens ersetzt wurden. Hallmannseckers einfühlsame und sehr poetische Übersetzung, die den Stil des Originals ausgezeichnet trifft und widerspiegelt, macht diesen 2022 mit dem Premio Strega, dem renommiertesten Literaturpreis Italiens, ausgezeichneten Roman nun auch einem deutschen Publikum zugänglich.

Titelbild

Mario Desiati: Spatriati. Roman.
Aus dem Italienischen von Martin Hallmannsecker.
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2024.
256 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783803133687

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