Vor 200 Jahren unternahm Heinrich Heine seine berühmte Harzreise
Sein Reisebericht ist längst ein literarischer Klassiker
Von Manfred Orlick
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseVor zweihundert Jahren hatte der Jurastudent Heinrich Heine von den langweiligen Vorlesungen im „gelehrten Kuhstall“ Göttingen und den staubtrockenen Lehrbüchern so die Nase voll, dass er dem „Muff“ des Universitätsbetriebes entfliehen und seine angeschlagene Gesundheit stärken wollte. Harzwanderungen waren zur damaligen Zeit keine Seltenheit, sie wurden regelrecht als „Gesundheitsreisen“ angepriesen. Auch Literaten hatten den Harz bereits erkundet; so hatte der junge Goethe 1777 eine winterliche Harzreise unternommen; später bereisten auch Novalis und Ludwig Tieck das Gebirge.
Im Herbst 1824, am 12. oder 13. September, brach der 27-jährige Heine zu einer Wanderung durch den Harz auf, die er später in seinem Reisebericht Harzreise festhielt. Darin schilderte er in umgangssprachlicher Prosa und eingestreuten Gedichten seine Reiseerlebnisse. Bereits die Eingangsverse enthielten gleichsam das Programm des Werkes, eine Kritik der Gesellschaft und eine entschiedene Hinwendung zur Natur und zu den einfachen Menschen:
Lebet wohl, ihr glatten Säle,
Glatte Herren, glatte Frauen!
Auf die Berge will ich steigen,
Lachend auf euch niederschauen.
Zu Fuß stiefelte Heine einfach los – mit braunem Überrock, gelben Pantalons, gestreifter Weste, schwarzem Halstuch, grüner Kappe auf dem Kopf und einem Tornister aus grüner Wachsleinwand. „Es war noch sehr früh, als ich Göttingen verließ. […] Auf der Chaussee wehte frische Morgenluft und die Vögel sangen gar freudig und auch mir wurde allmählich wieder frisch und freudig zu Mute. Eine solche Erquickung tat not.“ Kaum hatte Heine die Universitätsstadt hinter sich gelassen, fühlte er sich froh und aus dem engen Paragrafenkorsett befreit. Auf dem Lande konnte er sich an der Natur erquicken. Die erste Station war Nörten, wo er in ein Wirtshaus einkehrte und die alte Wirtin Bussenia ihm ein Butterbrot brachte. Zur Mittagszeit war er bereits in Northeim (damals Nordheim). „Hinter Nordheim wird es schon gebirgig“, und so kam der Wanderer erst in „pechdunkler Nacht“ in Osterode an, wo er sich sogleich zu Bette legte. Ehe er am nächsten Morgen das Harzstädtchen verließ, bestieg er noch die Ruine der Osteroder Burg.
Nach dem Gewaltmarsch vom Vortag wanderte Heine am zweiten Tag in Begleitung eines Handwerksburschen nur bis Clausthal, wo er die beiden Gruben „Dorothea“ und „Karolina“ besichtigte. Damals eine lebensgefährliche Kletterei auf meterlangen Leitern. Heine war beeindruckt von der schweren Arbeit unter Tage. Außerdem besuchte er einige Bergarbeiterfamilien und erhielt dabei einen Einblick in ihren schweren Alltag. Als er sich am nächsten Morgen ins Fremdenbuch einschrieb, entdeckte er im Monat Juli „den vielteuern Namen Adelbert von Chamisso, den Biographen des unsterblichen Schlemihl“. Am Abend des dritten Reisetages erreichte Heine das knapp zwanzig Kilometer entfernte Goslar. Nach einem zweitägigen Aufenthalt stieg er zum Brocken auf, wo er nach „einsamen Umhersteigen durch Tannen und Klippen plötzlich in ein Wolkenhaus versetzt“ war. Auf dem Gipfel angelangt, stellte er verärgert fest, dass man hier oben genauso viele deutsche Philister treffen kann wie in jeder Göttinger Kneipe. Beim Brockenwirt „restaurierten“ zahlreiche Studenten aus verschiedenen Universitäten.
Heine war überwältigt vom Brockenblick: „Ja, in hohem Grade wunderbar erscheint uns alles beim ersten Hinabschauen vom Brocken, alle Seiten unseres Geistes empfangen neue Eindrücke, und diese, meistens verschiedenartig, sogar sich widersprechend, verbinden sich in unserer Seele zu einem großen, noch unentworrenen, unverstandenen Gefühl.“ Seit 1956, dem 100. Todestag Heines, erinnert ein Denkmal auf dem Gipfel an den Brockenaufstieg des Dichters.
Im Brockenhaus übernachtete Heine, ehe er dann mit Studenten aus Halle den Abstieg in Angriff nahm. Im Ilsetal ging es vorbei an Wasserfällen und Sumpfstellen und über querliegende Baumstämme: „Es ist unbeschreibbar, mit welcher Fröhlichkeit, Naivität und Anmut die Ilse sich hinunterstürzt über die abenteuerlich gebildeten Felsstücke, die sie in ihrem Lauf findet, so dass das Wasser hier wild emporzischt oder schäumend überläuft.“ Über den sogenannten Schneelochweg erreichte die Gruppe schließlich Ilsenburg, ehe man dann den zerklüfteten Ilsestein erklomm: „Das ist ein ungeheurer Granitfelsen, der sich lang und keck aus der Tiefe erhebt.“ (Übrigens: der heutige „Heinrich-Heine-Weg“ folgt den Spuren des Dichters von Ilsenburg hinauf zum Brockengipfel.)
Mit dem Ilsetal schloss Heines Reisebeschreibung des Harzes. In diesen acht Tagen hatte er mitunter beträchtliche Wanderetappen von bis zu 40 km am Tag absolviert. Über seine weiteren Reisestationen berichtete er nur Freunden in Briefen. Nach der Wanderung durch den Oberharz suchte er in den nächsten Tagen auch den Unterharz mit Wernigerode, Elbingerode oder Ballenstedt auf. Dann ging es, wahrscheinlich teilweise mit der Postkutsche, über Roßla am Kyffhäusergebirge, Eisleben, Halle und Jena weiter nach Weimar, wo er am 20. Reisetag eintraf.
Der junge Heine, der ein großer Verehrer von Johann Wolfgang von Goethe war, bat den Dichterfürsten in einem kurzen Billett um eine Audienz: „das Glück zu gewähren einige Minuten vor Ihnen zu stehen. Ich will gar nicht beschwerlich fallen, will nur Ihre Hand küssen und wieder fort gehen“. Bereits 1821 hatte er dem verehrten Meister einige Gedichte und zwei Jahre später seine Tragödien, nebst einem lyrischen Intermezzo, zugesandt. Am 2. Oktober 1824 wurde er von dem 75-jährigen Goethe im Haus am Frauenplan empfangen; es kam jedoch nur zu einem kurzen Gespräch, über das sich Heine später Freunden gegenüber enttäuscht äußerte: „ungebührlich kalt empfangen“. Auch Goethes Tagebucheintrag zu dem Besuch war ziemlich wortkarg: „Heine von Göttingen“. Ein Grund für das eher unterkühlte Treffen war wohl Heines Antwort auf Goethes Frage gewesen, „mit welchen poetischen Arbeiten er sich zur Zeit beschäftige“. Unvorsichtig soll Heine geantwortet haben: „Mit einem Faust“. Das mochte Goethe gar nicht hören, denn viele dilettantische Schreiberlinge versuchten sich damals an einer Fortsetzung seines Faust I. (An dieser Anekdote gibt es allerdings Zweifel. Heine selbst hat sie nie erwähnt.) Noch am selben Tag wanderte Heine weiter nach Erfurt. Seine weiteren Stationen waren Gotha, Eisenach, Wehretal (Hessen) und Kassel, ehe er dann nach vier Wochen wieder in Göttingen eintraf – eine Woche vor Beginn des Wintersemesters.
Bereits kurz nach seiner Ankunft schrieb er an seinen Freund Moses Moser: „Ich habe zu Fuß und meistens allein den ganzen Harz durchwandert, über schöne Berge, durch schöne Wälder und Täler bin ich gekommen und habe wieder mal frei geatmet. […] Ich hätte Dir vieles von der Harzreise zu erzählen, aber ich habe schon angefangen, sie niederzuschreiben.“ Ende November war die Niederschrift schon beendet, aber erst im Januar und Februar 1826 erschien Die Harzreise in 14 Fortsetzungen in der einflussreichen Zeitschrift Der Gesellschafter oder Blätter für Geist und Herz. Bereits im Vorfeld hatte Heine befürchtet, dass der Text durch die preußische Zensur stark entstellt wird: „Ich bin neugierig, wie viel Tannenbäume die Censur auf dem Oberharze streichen wird.“ Auch der Herausgeber Friedrich Wilhelm Gubitz (1786-1870) hatte, um der Zensur zuvorzukommen, zahlreiche Eingriffe vorgenommen. Aus Ärger über „die schändlich mißhandelte Harzreise“ plante Heine, den Text mit anderen Prosastücken und Gedichten in einem separaten Sammelband zu veröffentlichen. Dazu überarbeitete er den Text noch einmal, ohne jedoch den kritischen und fragmentarischen Charakter zu verändern.
Im Mai 1826 wurde Die Harzreise dann als Hauptteil des ersten Bandes seiner Reisebilder im Hamburger Verlag Hoffmann & Campe erstmals vollständig veröffentlicht. Dank des Verlegers hielten sich die Zensoren dieses Mal weitgehend zurück, was zu einem überraschenden Erfolg beim Lesepublikum führte. Allein in Hamburg wurden in kürzester Zeit 500 Exemplare verkauft. Die Publikation machte Heine in der literarischen Öffentlichkeit bekannt, in Göttingen war sie allerdings verboten. Das Verbot, das auch für Leihbibliotheken galt, zeigte, wie empfindlich Heine mit seiner Kritik ins Schwarze getroffen hatte. Heute rühmen sich die Stadt und die Universität jedoch mit ihrem ehemaligen Nestbeschmutzer.
Heinrich Heines Harzreise war jedoch keine Besichtigungstour, sondern eher eine Identitätssuche des Dichters. Heute zählt sie zu den Klassikern der modernen Reiseliteratur. Trotz ihrer 200 Jahre ist die Reisebeschreibung immer noch sehr lebendig, frech, ironisch, scharfzüngig und gleichzeitig voller Poesie. In den wunderbar gezeichneten Landschaftsbildern kommt Heines starkes Naturgefühl zum Ausdruck, ebenso seine Sympathie und Verbundenheit mit den einfachen Menschen. Außerdem ist das Reisebild reich an Anspielungen auf die damals gegenwärtigen politischen Ereignisse, das Philistertum, die weltfremden Akademiker, den Klerus oder die Burschenschaftler. Sie alle mussten sich Seitenhiebe und beißenden Spott gefallen lassen.
Das Harzmuseum Wernigerode würdigt das Jubiläum mit der Sonderausstellung Heine im Harz – Entdeckungen am Rande einer legendären Fußreise (19.09.2024-16.02.2025), die in Zusammenarbeit mit der Berliner Moses Mendelssohn Stiftung auf den Weg gebracht wurde. Die begleitende Publikation zu dieser Ausstellung ist im Hentrich & Hentrich Verlag erschienen. Ausstellung und Begleitband haben jedoch nicht das Ziel einer Neuinterpretation der Harzreise, vielmehr betten renommierte Historiker*innen und Literaturwissenschaftler*innen in mehreren Essays Heines Werk in einen historischen Kontext ein und stellen Bezüge zur Gegenwart her.
Zum Auftakt äußert Joseph A. Kruse in „Nichts ist dauernd als der Wechsel“ einige Gedanken zu Heines 200-jähriger Harzreise. So polarisierte Heine über die Jahrhunderte hinweg, und der Harz wurde „mehrfach geschunden und gebeutelt“, von der jahrzehntelangen deutschen Teilung bis zu den Trockenschäden der letzten Jahre. Anschließend gewährt Irmela von der Lühe mit ihrem Essay „,Ein zusammengewürfeltes Lappenwerk‘: Heinrich Heines Harzreise (1824) zwischen Wanderlust, Naturbegeisterung und Zeitkritik“ einen Einblick in das Deutschland zu Heines Zeit. Neben dem Reisebericht und der heiteren Naturlyrik lieferte Heines Harzreise auch viel Kritik an der Gesellschaft des Vormärz und der politischen Situation Anfang des 19. Jahrhunderts – eingepackt in beißendem Spott. Unter dem Titel „Heine als Harzwanderer“ wagt Uwe Lagatz eine Annäherung aus tourismusgeschichtlicher Perspektive. Der Tourismus im Harz und in seinem unmittelbaren Umland besitzt eine lange Tradition. Bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts hatten Sommer- und Winterfrischler das markante Gebirge aufgesucht. Der Bibliothekar Kaspar Friedrich Gottschalck (1772-1854) hatte daher 1806 ein Taschenbuch für Reisende in den Harz herausgegeben, dessen 1817er Ausgabe Heine für seine Harzreise genutzt hatte.
Gemeinsam mit Norbert Perner ist Uwe Lagatz dann auf einer Bilderreise durch den Harz unterwegs. Sie folgten der Route, die Heine vor zweihundert Jahren bewältigte. Ihr Beitrag ist mit zahlreichen historischen Abbildungen und aktuellen Farbfotos illustriert sowie mit Textpassagen von Heinrich Heine und Friedrich Gottschalck ergänzt. Während Jutta Dick (unter Mitwirkung von Sarah Jaglitz) sich der Geschichte der jüdischen Gemeinde in Halberstadt widmet, beleuchtet Elke-Vera Kotowski den satirischen Blick auf das deutsche Gemüt am Beispiel von Heinrich Heine und David Kalisch (1820-1872). Kalisch hatte 1848 die Satire-Zeitschrift Kladderadatsch, ein Witzblatt mit bissigem Humor und zeitkritischem Blick gegründet.
In der zweiten Hälfte des Begleitbandes wird Heines Harzreise in Beziehung zu Originaltexten (in Auszügen) von Kaspar Friedrich Gottschalck, Adolph Glassbrenner (1810–1876) und David Kalisch gestellt, die ebenfalls in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Harzbesucher waren. Bei seiner zweibändigen Publikation Meine Streifereyen in den Harz und in einige seiner umliegenden Gegenden (1800/1801) hatte sich Gottschalck aus Vorsicht noch des Pseudonyms Wilhelm Ferdinand Müller bedient, da er neben der Landeskunde des Harzes auch Kritik an gesellschaftlichen Missständen übte. Es ist jedoch nicht sicher, ob Gottschalck die Harzexkursion tatsächlich unternommen hatte oder sein Reisebild nur das Resultat von Recherchen und Berichten war.
Im Sommer 1832 unternahm der Berliner Satiriker Adolph Glassbrenner mit Begleitern eine Harzreise. Unmittelbar nach der Rückkehr erschien sein mit spitzer Feder verfasster Reisebericht Meine Reise nach dem Harz als Fortsetzung in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Don Quixote. Nachdem das Blatt im Königreich Preußen verboten worden war, veröffentlichte er 1834 eine überarbeitete Fassung im sächsischen Leipzig. In den Humoristischen Reisebildern – Schultze und Müller im Harz (1853, mit 30 Illustrationen von Wilhelm Scholz) ließ David Kalisch zwei Berliner Originale eine Harzreise unternehmen, von der sie in ihrem unnachahmlichen Berliner Dialekt, gelegentlich auch ihren daheimgebliebenen Ehefrauen – der „wohljeborenen Frau“ und der „jeehrten Jattin“ – berichteten.
Neben der erneuten Lektüre der Harzreise, die man vielleicht zuletzt in der Schulzeit gelesen hat (oder lesen musste), wollen die Sonderausstellung und der Begleitband auch zu persönlichen Unternehmungen inspirieren. Dazu gibt es im Buchhandel zahlreiche Publikationen und Wanderführer, mit denen man auf Heines Spuren den Harz erkunden kann.
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