Wo man nicht viele Ziele haben kann
Domenico Müllensiefen schreibt auch in seinem zweiten Roman über sogenannte „kleine Leute“ in der ostdeutschen Provinz
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseBereits in seinem Debütroman Aus unseren Feuern (2022) stellte Domenico Müllensiefen jene „verlorene Generation“ in den Mittelpunkt, die – um 1985 geboren – Wendezeit und Wiedervereinigung nicht mitgestalten konnte und „eigentlich nie zu Wort kam“. Schauplatz war Leipzig, das der in Magdeburg geborene Autor so gut kennt wie die Altmark, in der er aufwuchs.
Hier, im (fiktiven) Nest Jeetzenbeck, für das Müllensiefens heimatliches Beetzendorf (PLZ 38489) im Altmarkkreis Salzwedel das reale Vorbild war, gilt der mehrdeutige erste Satz des zweiten Romans: „Es gibt nicht viele Ziele, die man bei uns haben kann.“ Nur wenige Orte sind von dort leicht erreichbar, vor allem aber mangelt es in der ostdeutschen Provinz an Lebenszielen und Perspektiven.
Das gilt auch für den 1986 geborenen Marcel, der auf dem Schulzeugnis nur in Sport eine Eins hatte und trotz Lehre als Kfz-Mechaniker irgendwie „falsch abgebogen“ ist. Nun schneidet er „Fleischpampe vom Spieß“ in einem Imbiss, verkauft also Döner, die hier „Drehspieße“ heißen.
Das Buch zieht sofort in seinen Bann, zunächst mit bissigen Formulierungen wie über Feuerwehrleute, „nicht ganz so modern wie ihr Gerätehaus“, doch sehr früh mit einer bösen Überraschung. Ein harmlos beginnender Absatz („Man kann aber auch in Jeetzenbeck in ein Auto steigen“) endet mit dem gespaltenen Kopf und den gebrochenen Beinen Vanessas, der durch Selbstmord in einem Citroën endenden Schwester Marcels.
Die tote Vanessa und die (nicht völlig) verschwundene Steffi, Marcels rätselhafte Beinahe-Freundin, gehören zu den weiblichen Hauptfiguren des auf drei Zeitebenen spielenden Romans. Zu ihnen gesellen sich noch Marcels trinkende und rauchende Mutter und die forsche Frau Baumann, die Marcels Lehrerin und zugleich Steffis Mutter ist.
Ansonsten gibt es vor allem Männer – so wie in der Realität, wegen der vielen davongegangenen Frauen. Erfreuliche Mannsbilder präsentiert uns der Autor nicht, wohl aber genau beobachtete und trotz all ihrer Macken nicht der Lächerlichkeit preisgegebene Kerle. Am schlechtesten schneidet Marcels Vater ab, offenbar nur im Bett gut, ansonsten ein Lügner und Versager. Interessanter ist Dirk, der Vater von Marcels Freund Pascal. Bei ihm wird „Vergangenheitsbewältigung“ zum bitteren Lacher, wenn er erzählt, wie man in der GST (der vormilitärischen „Gesellschaft für Sport und Technik“ in der DDR) erst mit Kartoffeln und dann mit Handgranaten in Richtung Westen schoss, weil dort der Feind saß. Die Frage, ob der Feind auch mal kam, bejaht er und ahmt Helmut Kohl nach. Aber da hätten sie nicht geschossen, sondern geklatscht. „Ihr hättet schießen müssen!“ ruft ein kleiner Junge, und Dirk erwidert in pfälzischem Dialekt, der Feind habe die stärkste Waffe gehabt: Geld. Dann werden Treuhandunrecht, Rückgabe vor Entschädigung und dergleichen in einem Dialog zusammengefasst, der in die Schulbücher (oder wenigstens ins Kabarett) gehört: „Und dann haben die euch mit so viel Geld beschossen?“ „Ja. Und dann holten sie es sich zurück, aber da war schon alles egal.“
So deutlich wird der Autor auch, wenn er aussprechen lässt, dass sich keine der Parteien wirklich um die Interessen der Menschen kümmert und dass man die seinerzeit bezuschussten und als „ABM“ abgekürzten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen als „Arbeiten bis Mittag“ deutete.
Über Marcel sagte sein Autor in einem Interview, dass ihm manchmal ein bisschen die Worte oder die Gestaltungsmöglichkeiten fehlen. Das trifft auf ihn selbst natürlich nicht zu – sowohl die zupackende Sprache als auch die Figurenzeichnung und der souveräne Umgang mit den Zeitebenen weisen ihn als Meister aus. Man darf ihm dankbar für die Anlage seiner Hauptperson sein, die niemals in Gefahr gerät, nach gehabtem Klischee zum Schriftsteller werden zu wollen.
Besonders wohltuend widerspiegeln sich die Lebenserfahrungen von Domenico Müllensiefen als Techniker und Bauleiter in der Treue zum Detail und in der kernigen Sprache der Menschen. Ihre zuweilen verqueren Eigenheiten und Sprüche nicht ohne Nähe zum rechten Rand wirken lebensecht, gerade weil keine Rücksicht auf „kompatibles Sozialverhalten“ genommen wird. Und dass die Begeisterung für eine Fußballmannschaft bedenklich überschwappen kann, gesteht der Dresdner Rezensent den Fans des 1. FC Magdeburg gern zu.
|
||