Die Jahrhundertdichterin

Das Faszinosum Friederike Mayröcker

Von Herbert FuchsRSS-Newsfeed neuer Artikel von Herbert Fuchs

In einem Interview mit der Rheinischen Post (10.9.2011) antwortet Friederike Mayröcker auf die Frage nach der Zukunft dessen, was sie geschrieben hat:

Es kommt immer auf die Qualität an. Aber auch dann gilt: Wenn man sehr lange schon und auch viel geschrieben hat, werden es am Ende vielleicht vier oder fünf Gedichte sein, die überleben; mehr nicht. Ich habe viele hundert Gedichte geschrieben, und ich muss damit leben können, dass es wahrscheinlich nur wenige sind, die sich dem Leser auch eingeprägt haben

In ihrem Buch brütt oder Die seufzenden Gärten ist die Sicht auf das Überdauern ihrer Texte düsterer formuliert:

Und frage mich aber immer wieder, mitten drin, im hingerissenen Schreiben: wohin soll das alles führen, was ist der Zweck dieses Schreibens, nach ein paar Jahren wird alles vergessen, verloren sein, alle Bücher, die ich geschrieben habe, längst vergriffen, alles, alles verweht, alles vergeblich, jegliche Welle, jeglicher Atemzug, jeglicher Blitzgedanke wie nie gewesen, meine Bücher verramscht, vom Markt verdrängt, ich glaube, es hat mich gar nie gegeben. (S. 20)

Vielleicht drückt sich in diesen Sätzen die größte Angst eines Künstlers aus: vergessen zu werden. Die Kunst ermöglicht es, dass das schöpferische Werk den, der es geschaffen hat, und die Zeit, in der es entstanden ist, überdauert. Dass das vielleicht nicht gelingt, löst tiefsitzende Befürchtungen aus und schürt existentielle Ängste. Diese Ängste sind umso größer, je enger die Verbindung zwischen Leben und Werk einer Künstlerin oder eines Künstlers ist. Bei Friederike Mayröcker ist sie besonders eng. Wenn ihre Werke in Vergessenheit gerieten, bedeutete das für sie den dann wirklich endgültigen Tod, über den sie in ihrem Werk so häufig als Schreckensvorstellung, als das dem Leben und der Poesie entgegenstehende Prinzip schlechthin schreibt.

Friederike Mayröcker hat sich früh dafür entschieden, ihr Leben dem Schreiben unterzuordnen. Das erfordert Bescheidung in der Lebensführung und einen Arbeitsalltag, der sich nach nichts als dem Fortgang des Schreibprozesses richtet; es verlangt, der Versuchung zu widerstehen, sich zu stark auf die Wirklichkeit einzulassen, in der sie, wie sie einmal in Das Herzzerreißende der Dinge (S. 61) schreibt, in den Gesichtern der Menschen vor allem „die Teilnahmslosigkeit, die Enttäuschung, Mißbilligung, Verachtung, die Verlogenheit – eben das Brachland“ wahrnimmt. Das Leben unter den Menschen als „Brachland“ – von daher ist der Rückzug dorthin, wo sie „Schreiblust“ verspürt und ungestört arbeiten kann, verständlich und notwendig. Die Abkehr von der Wirklichkeit, wie Mayröcker sie versteht, ist keine Flucht, sondern ein Schutz, so etwas wie vernünftiges Handeln. Denn aus ihrer Sicht gilt es, das Leben so einzurichten, dass Schreiben – das allein zählt – möglich ist und gelingen kann. Ihre Angst, dass ihr Werk einmal weitgehend vergessen sein könnte, erhält vor diesem Hintergrund eine besondere Brisanz. Das Verschwinden des Werks aus der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit bedeutete ja auch, dass ihr Leben, das sich allein in diesem Werk realisiert, vergeblich gewesen wäre.

Dieser beunruhigenden Sicht stehen andere Sätze in ihrem schriftstellerischen Oeuvre gegenüber voller Selbstbewusstsein und Zuversicht, trotz aller Widrigkeiten des Lebens. In brütt (S. 344) stellt sie die Frage, wie man es anstellen könne, „am Leben zu bleiben ewig am Leben zu bleiben“. Mit Versen aus einem Gedicht von Horaz gibt sie eine Antwort, in der das zweimalige „Ich“ in der vorletzten Zeile jeden Zweifel an der Gültigkeit der Antwort beiseiteschiebt:

Nicht von abgebrauchter und dünngewordener Schwinge
werde ich mich tragen lassen durch den schimmernden Äther,
ein Sänger in Doppelgestalt und ich werde nicht länger auf
Erden bleiben und entrückt dem Neid
werde ich die Städte unter mir lassen
(…)
Ich, ich werde nicht sterben
und der stygische Fluß wird mich nicht haben. 

Und dennoch wird man einräumen müssen, dass es seit Friederike Mayröckers Tod am 4. Juni 2021 ruhiger um die Dichterin geworden ist. Lange Zeit konnten sich die Leserinnen und Leser darauf verlassen, dass manchmal jährlich, wenigstens aber alle zwei oder drei Jahre ein neues Buch der österreichischen Dichterin veröffentlicht wurde. Es waren so wichtige und wunderbare Bücher wie – und es sollen nur die letzten fünf aufgeführt werden – etudes (2013), cahier (2014), fleurs (2016), Pathos und Schwalbe (2018) und, kurz vor ihrem Tod geschrieben, da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete (2020). Dass kein Buch der großen Friederike Mayröcker mehr erscheinen wird, war und ist für viele Interessierte eine schmerzliche Erkenntnis.

Natürlich sind der Name und das umfangreiche Werk nicht vergessen. In Wien, etwa im dortigen Literaturhaus, finden immer wieder Veranstaltungen mit Informationen und Diskussionen über die Dichterin statt. Und es gibt einige junge Autorinnen und Autoren, die durch ihr Schreiben Friederike Mayröckers Dichtung in Erinnerung rufen und lebendig erhalten. Frieda Paris zum Beispiel ist das mit ihrem Debüt Nachwasser hervorragend gelungen. Und wenn Gedenktage wie die Erinnerung an den 100. Geburtstag der Dichterin einen Sinn haben, dann vor allem den, ihr Werk und ihre Person nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

„verwehte Spuren, von Vogelfüßen, […] unser ganzes Leben verwehte Spuren von Vogeltritten“ (brütt, S.123) 

Friederike Mayröcker wurde am 20. Dezember 1924 in Wien geboren. In einer Hörsendung des Bayrischen Rundfunks am 11.12.2014 zu ihrem neunzigsten Geburtstag sagte der österreichische Schriftsteller Bodo Hell, die Lektüre ihrer Texte sei die „beste Nahrung für die vertrocknete Seele“. Der Satz verweist auf die enge Beziehung zwischen der Dichterin und ihrer Leserschaft. Und er spricht von der Sogwirkung, die Mayröckers Literatur auslösen kann.

Mayröcker schreibt über ihre Welt: über die Natur, über Familie und Freunde, über die Liebe, die Freuden des Lebens, über ihr Dichten und die Kräfte, die sie dazu antreiben, aber auch über die Kehrseite dieser Welt, die Abschiede von geliebten Menschen, die Einsamkeit, das Altern, die Beschwernisse beim Schreiben und über den Tod. Es ist eine dem Leben abgelauschte Dichtung. Sie verwandelt Wirklichkeit in Poesie.

Die Dichterin hat ihre Texte einmal als „murmelnde Literatur“ bezeichnet. Eine solche Literatur fordert Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen, die Bemühung des Lesers, sie zu verstehen, seine Sorgfalt im Umgang mit ihrer „Verletzbarkeit“ und Brüchigkeit. Sie kommt eher unaufdringlich daher, mit leiseren Tönen, ruhig und unaufgeregt selbstverständlich.

Mayröckers „murmelnde“ Literatur spricht die Leser nicht so sehr über eine Handlung oder eine Geschichte an, sondern vor allem über die Sprache: über Bilder, die Textkomposition, Schreibstil, Sprachrhythmus und Sprachfluss. Das macht die Lektüre ihrer Werke zu einem Leseerlebnis; die Texte „stärken“ dann in der Tat die Kräfte der „Seele“.

Die Autorin meint mit dem Ausdruck „murmeln“ wohl auch, freimütig das zu sagen, was sie fühlt, denkt, sieht, woran sie sich erinnert, worüber sie Freude und Schmerz empfindet, woraus sie Mut schöpft und wovor sie Angst verspürt. In „murmelnd“ steckt darüber hinaus der Hinweis auf eine ganz andere Art zu schreiben: auf eine beschwörende und magische Weise. Mayröcker verbindet den Begriff mit Glückseligkeit und dichterischer Entrücktheit.

Sie spricht manchmal von ihrer „Biographielosigkeit“:

Ich wollte, dass die Menschen, die meine Bücher lesen, nur auf das Werk zielen und nicht nachforschen, wie mein Leben verlaufen ist. Ich wollte verschwinden hinter meinem Werk… (KulturSPIEGEL 1/2015)

Dennoch sind vielleicht ein paar biographische Anmerkungen erlaubt: Friederike Mayröcker ist die Tochter eines Lehrers und einer Modistin. Zu beiden Eltern hat sie zeitlebens ein enges Verhältnis. In einer Vielzahl von Texten schreibt sie über sie in liebevoller Weise.

Viele Sommermonate ihrer Kindheit verbringt sie in Deinzendorf, einem kleinen Ort in der österreichischen Region Weinviertel, der bei ihr einen nachhaltigen Eindruck hinterlässt und oft als „D.“ in ihren Erinnerungstexten auftaucht. Das Haus in Deinzendorf hatte einen Innenhof und war umgeben von einem großen Garten.

Da habe ich meine Kinder-Sommer verbracht; das ist der Grund, warum bei mir so viele Tiere, Pflanzen und Blumen vorkommen. Ich sehe immer noch alles so, wie es damals war. (Meinen Schatten wirft ein Fliederbaum. Hommage zu Mayröckers 90. Geburtstag. Kulturradio SRF)

In der Rückschau wird „D.“ zu einem Ort des Glücks, der Geborgenheit und der Liebe.  Dazu zwei Texte aus fleurs (2016):

damals in D. auf der Schwelle zum Sommerhaus 1000
Schwertlilien, Malven, Ringelblumen, Veilchen, Hyazinthen,
Gauklerblumen, Lupinen, Carolinenrosen ……. ach wie
lieblicher Film vor meinem Auge, (S. 103)

(Fasanen und Schwalben in D., damals,
das rasende Bächlein wo Vater mir einen,
Weidenstock / Wanderstab schnitzte. Im
Waldesschatten, weiszt du, ich sah’s auf
einer alten Fotografie, mit Mutter und
Donnerblümchen. Lusthäuschen, Erdbeeren
im Gras, pustend Löwenzahn….. oh…..
lauter Schwalben sah ich in deinen Augen,), (S.102)

Schwalben, vielleicht Mayröckers Lieblingsvögel, sind Zeichen dieser Harmonie und Idylle. Bilder mit Schwalben, die die ländliche Idylle verkörpern, kommen in vielen ihrer Texten vor und ein 2018 veröffentlichter Prosaband trägt den Titel Pathos und Schwalbe. Schwalben sind für Mayröcker Vögel der Luftigkeit und Leichtigkeit, der Grazie und Unbeschwertheit, der „Unendlichkeit“. Sie findet überraschende poetische Bilder für sie und nennt sie – in ich sitze nur GRAUSAM da (S. 36) – „Freunde des Himmels und der Erde“ und „flüchtige flitzende Freunde, huschende Himmelswunder“. Es sind auch Vögel der Liebe; in den beiden Schlusszeilen des zweiten Gedichts evozieren sie die Erinnerung der einstigen Liebe.

Mayröcker arbeitet nach der Matura und ihrem Studium über zwanzig Jahre als Englischlehrerin an verschiedenen Wiener Schulen. Diese Tätigkeit, die sie 1969 schließlich aufgibt, muss für sie belastend gewesen sein. Selbst als Neunzigjährige kann sie dem ehemaligen Beruf keine schönen Seiten abgewinnen:

Ich hab eine Staatsprüfung in Englisch gemacht und dann an einer Hauptschule unterrichtet, 23 Jahre lang, ohne Lust, ohne Freude, es war halsschnürend, eine Qual. (KulturSPIEGEL 1/2015)

Sehr früh beginnt sie zu schreiben. Die 2004 von dem Freund Marcel Beyer herausgegebenen Gesammelten Gedichte drucken als erste Texte August und Oktober ab, als deren Entstehungsjahr 1939 angegeben wird. Gedichte also, die von einer Vierzehnjährigen geschrieben wurden und siebzig Jahre später von der Autorin und dem Herausgeber als gut genug beurteilt werden, eine umfassende Anthologie ihrer Lyrik zu eröffnen. 1946 erscheinen einige ihrer Gedichte in der Wiener Avantgarde-Zeitschrift Plan. Ihre erste Buchveröffentlichung, Larifari, als Band 18 in der Reihe Neue Dichtung aus Österreich, erfolgt 1956.

Ich habe schon früh das Bedürfnis gehabt zu schreiben, so mit 14, 15 hat das begonnen. Und später, neben meiner Arbeit als Lehrerin, habe ich auch geschrieben, nicht viel und vor allem nicht gut. Das waren die ersten Schritte. 1954 habe ich dann Ernst Jandl kennengelernt, ich war damals verheiratet, mit einem Kollegen, und habe mich scheiden lassen. Ernst und ich – wir haben nie eine gemeinsame Wohnung gehabt, aber ein gemeinsames Ziel: etwas Neues zu machen mit der Sprache. (KulturSPIEGEL 1/2015)

Sie und Ernst Jandl stehen in ihren gemeinsamen Anfangsjahren auch der Wiener Gruppe nahe, in der sich fortschrittliche Schriftsteller, Musiker und Künstler zusammenschlossen. Die Zusammenarbeit mit ihnen war anregend, aber nicht so intensiv, wie das vielleicht ursprünglich geplant war. Später distanziert sich Mayröcker von dieser experimentellen Periode in ihrem Schriftstellerleben.

Seit den 1960er Jahren erscheinen – zuerst für kurze Zeit bei Rowohlt, dann bei Luchterhand und in den letzten Jahrzehnten bei Suhrkamp – in kurzen Abständen Lyrikbücher, Prosabände, Kinderbücher, Texte für das Theater und Hörspiele, die Friederike Mayröcker als herausragende avantgardistische Schriftstellerin bekannt machen. Bald gilt sie im deutschen Sprachraum als eine der bedeutendsten Dichterinnen der Gegenwart und kann sich, vor allem in den letzten vier Jahrzehnten, einer wachsenden Zahl von Leserinnen und Lesern und zunehmender Anerkennung erfreuen. Die Zahl der Publikationen ist nach fast mehr als acht Jahrzehnten nahezu unüberschaubar geworden: Es sind deutlich über hundert Veröffentlichungen. Allein seit dem Jahr 2000 erschienen bei Suhrkamp laut Verlagsverzeichnis mehr als zwanzig Bücher. Friederike Mayröcker erhält eine Vielzahl bedeutender literarischer Preise. 2001 wird sie – spät zwar, aber schließlich doch – mit dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Als hochbetagte Schriftstellerin sagt sie in einem Interview – kritische Untertöne sind unüberhörbar – zu Preisen, Anerkennung und Verkaufszahlen ihrer Bücher:

Ich konnte ja selbst nie vom Schreiben leben, kann es heute noch nicht. […] Aber meine Bücher hatten immer kleine Auflagen. Ein paar Tausend pro Buch vielleicht. Genau weiß ich es nicht. Die großen Herren bei Suhrkamp nehmen mich nicht so wahr, der Enzensberger kennt mich, glaube ich, gar nicht. Und gelebt habe ich vor allem von den Preisgeldern. Ich habe viele Preise bekommen. (SZ Magazin 37/2012)

Friederike Mayröcker und Ernst Jandl 

„weiszt du du mein Vielliebchen“ (fleurs, S. 42)

„Er war ein Dichter, der vom Himmel gefallen ist.“ So spricht Mayröcker in einem Interview aus Anlass ihres neunzigsten Geburtstags von Ernst Jandl, ihrem „LEBENS- und LIEBES- und HERZ GEFÄHRTEN“ (brütt, 1998, S. 48, und Requiem für Ernst Jandl, 2001, S. 12 f.), mit dem sie sechsundvierzig Jahre zusammengelebt, den sie geliebt hat, dessen Tod am 9. Juni 2000 sie erschüttert und dem sie in vielen Texten ein liebevolles Denkmal gesetzt hat und der in ihren Büchern immer noch präsent ist.

Ernst Jandl wird am 1.8.1925 in Wien geboren. Er wächst in einer künstlerisch interessierten Familie auf. Der Vater arbeitet als Angestellter einer Bank, beschäftigt sich aber in seiner Freizeit mit Malerei. Die Mutter schreibt Gedichte und Prosatexte, die zum Teil veröffentlicht werden. Vor allem wohl von der Mutter beeinflusst, beschließt auch der Sohn, Schriftsteller zu werden. Schon mit zwölf Jahren veröffentlicht er sein erstes Gedicht.

Ab 1946 studiert Jandl an der Wiener Universität Englisch und Germanistik. Nach Abschluss seines Studiums, der sich anschließenden Promotion und des Referendariats unterrichtet er an einem Wiener Gymnasium und versucht, ähnlich wie Mayröcker, den Lehrerberuf und die Schriftstellerei miteinander in Einklang zu bringen und zusammen auszuüben. Das Schreiben wird für ihn aber zunehmend bedeutsamer, vor allem auch unter dem Einfluss von Erich Fried, den er bei einem Aufenthalt in England kennenlernt. Mayröcker und Jandl erkennen, dass sie ihre unterrichtlichen Verpflichtungen nicht mehr mit ihren schriftstellerischen Ambitionen vereinbaren können. Beide geben ihren Lehrerberuf auf: Mayröcker 1969, Jandl einige Jahre später.

Ernst Jandl und Friederike Mayröcker begegnen einander 1954, trennen sich von ihren Partnern und beginnen zu zweit den Kampf um literarische Anerkennung im konservativen Österreich und überhaupt im deutschsprachigen Raum der 1950er Jahre. Sie gehen neue literarische Wege und haben es anfangs schwer, Verlage für ihre schriftstellerischen Arbeiten zu interessieren. Jandl kann schließlich Texte in einem Schweizer Verlag veröffentlichen, Mayröcker bei Rowohlt. Ihre ersten Publikationen werden kaum beachtet. Jandl wendet sich ab Mitte der 1950er Jahre unter dem Einfluss der Wiener Gruppe, der Konkreten Poesie und des Dadaismus experimentellen Schreibformen zu und probiert eine Fülle verschiedener dichterischer Ausdrucksmöglichkeiten. Seine Sprechgedichte und seine prägnanten humoristisch-satirischen Texte machen ihn nach und nach bekannt und etablieren ihn schließlich als einen literarischen „Popstar“. Seine Lesungen werden legendär.

Ernst Jandl und Friederike Mayröcker leben in Wien in verschiedenen Wohnungen. Abends besucht sie ihn oft: Sie hören, wie sie später sagt, manchmal stundenlang Jazzmusik. Diese Abendstunden sind auch ihrer literarischen Arbeit gewidmet:

Ernst hat ja vor allem Gedichte geschrieben. Er hat mir oft vorgelesen, was er geschrieben hat, und gesagt: ‚So, jetzt musst du kritisieren. Ist es gut? Soll ich was ändern?‘ Mir hat fast immer gefallen, was er geschrieben hat, aber er hat mir nicht geglaubt und meinte, dass ich ihn nur trösten will. (SZ Magazin, 37/2012)

Zu einer gemeinsamen Arbeit an Texten kommt es – „von wenigen Ausnahmen abgesehen“ (Spiegel Online, 26. 10. 2001) – nicht. Die Ausnahmen, von denen Mayröcker spricht, betreffen vier Hörspiele, die zwischen 1968 und 1970 entstanden. – Mayröcker betont wiederholt, dass sie eigentlich nur in ihrem „Schreibgehäuse“ schreiben könne. Sie müsse bei der Arbeit nicht nur ungestört, sondern auch allein sein. Trotzdem ist sie natürlich von Ernst Jandl beeinflusst worden. In den 1950er und 1960er Jahren war dessen Einfluss auf ihre Art, mit poetischen Formen zu experimentieren, groß.

Mayröckers und Jandls Texte hätten, nachdem sie ihre gemeinsame experimentelle Phase hinter sich gelassen haben, allerdings nicht unterschiedlicher sein können: Viele von Jandls Gedichten sind nach formalen Regeln aufgebaut, tendieren zu einem satirisch-komischen und pointenhaften Stil, sind politisch und, beispielsweise in den Texten, die religiöse Themen behandeln, provokant und bissig. Mayröcker schreibt Lyrik in meist freien Versen, assoziativ, bildhaft, mit Namen von Orten und Personen, Andeutungen und Hinweisen, die nicht immer leicht verständlich sind. Politische Themen spielen in ihrem Werk keine Rolle; persönlich gefärbte Themen oder solche, die zwischenmenschliche Beziehungen und große existentielle Probleme behandeln, dagegen schon. Die meisten ihrer Texte werden von einem ernsten, melancholischen Grundton bestimmt. Humor vermeidet sie in ihren Veröffentlichungen.

Die unterschiedlichen Arbeitsweisen, ihr unterschiedlicher Stil und ihre unterschiedlichen Sichtweisen auf die Welt beeinträchtigen ihr enges persönliches Verhältnis in keiner Weise. Als Mayröcker viele Jahre später einmal nach Jandls Charaktermerkmalen gefragt wird, zählt sie eine lange Liste von Eigenschaften auf, die sie an ihm geschätzt hat: seinen großen Intellekt, seine kämpferische Einstellung, seinen Mut, seine Hilfsbereitschaft, Bescheidenheit und Wahrheitsliebe. Und in den Magischen Blättern VI (2007) schreibt sie über sich und ihre Herkunft:

Was wußte ich von mir selbst, von meinem Ursprung, von der mich umgebenden Welt, lange blieb ich fremd in dieser meiner kleinen Welt : die kleine Schule, die kleine elterliche Wohnung, alles war auf klein angelegt, auf klein und beengt, ich fühlte mich jederzeit klein, fremd und hündisch, nicht wahr. Meine Mutter bildete vermutlich 1 Ausnahme, sie erschien mir nah und tröstend, und ich hatte großes Vertrauen zu ihr, alles übrige war fremd geblieben, Lehrer, Schulfreunde, Familie, Nichten all das, Innenwelt, Außenwelt, soziale Wolle? von geringer Bedeutung -

In Ernst Jandl sieht sie den engen Freund und Vertrauten, der sie überhaupt erst in die Welt, vor allem die Welt der Kunst, eingeführt hat. Er hat ihr das Vertrauen gegeben, sich vom Elternhaus zu lösen und sich der Wirklichkeit zu öffnen.

Was Friederike Mayröcker Jandl bedeutet hat, kann man seinem Gedicht liegen, bei dir entnehmen. Es ist, gerade in seiner Schlichtheit, eine innige Liebeserklärung an die Freundin und zeigt, welche Nähe und Zuneigung ihre Liebe prägten und welche Kraft von ihr ausging:

ich liege bei dir. deine arme
halten mich. deine arme
halten mehr als ich bin.
deine arme halten, was ich bin
wenn ich bei dir liege und
deine arme mich halten.

Neidlos erkennt Jandl in seiner Rede an Friederike Mayröcker (1994) an, dass die Freundin, aus seiner Sicht, die bedeutendere Literatur schreibt:

friederike mayröcker, von so vornehmen geistern wie bach und hölderlin angeführt, hat in ihrer kunst eine glorreiche höhe erklommen. mein sinn, in richtung einer aufgeklärten massenkultur, konnte sich gleichermaßen durchsetzen. so ergänzen wir einander liebevoll und mit respekt.

Und er beschließt die Rede zu ihrem siebzigsten Geburtstag mit den Sätzen:

kunst allerdings lässt sich nur bewerkstelligen mit dem anspruch, vor allem an einen selbst, auf einen ersten platz, erreichbar, wenn überhaupt, so nur durch unermüdliche arbeit, durch auseinandersetzung und kampf. friederike mayröcker hat einen solchen platz erreicht, wir freuen uns darüber und gratulieren ihr. doch hätten wir von ihr und ihrem werk kaum etwas erfaßt, würden wir nicht in jeder ihrer äußerungen die unerschöpfliche kraft ihrer liebe erkennen.

Jandls gebrechlicher Gesundheitszustand macht es notwendig, dass er in seinen beiden letzten Lebensjahren in Mayröckers Haus umzieht, weil dort ein Lift vorhanden ist. Das Interesse an Literatur hat er in dieser Zeit weitgehend, wie sie in Und ich schüttelte einen Liebling (S. 197f.) schreibt, verloren, hat auch nicht mehr die Kraft zu schreiben; er ist vom Tode gezeichnet. Er stirbt am 9. Juni 2000. Mayröcker hat seinen Tod nie verwunden. Zahlreiche Gedichte und Texte nach 2000, vor allem auch die Prosabände Requiem für Ernst Jandl (2001) undUnd ich schüttelte einen Liebling (2005), geben ein anrührendes Zeugnis von ihrer großen Liebe zu „EJ“ und von ihrer Trauer, ihrem Schmerz und ihrer Einsamkeit nach seinem Tod. Der enge Freund ist in zahlreichen Texten der letzten Jahre direkt oder indirekt gegenwärtig. Er lebt in vielen Versen und in den kleineren und größeren Episoden, die von ihm sprechen, weiter. Der Leser gewinnt den Eindruck, dass die Erinnerungen an ihn Mayröcker immer wieder zum Schreiben antreiben, dass es ihr im Schreiben gelingt, die Trauer, für eine kurze Zeit wenigstens, zu überwinden, und dass sie sich mit Hilfe der Erinnerungen gegen Alter und Einsamkeit und letztlich den Tod aufbäumt.

Das folgende Gedicht, das einige Monate nach seinem Tod entstand, berührt wegen seiner Einfachheit und gibt einen Eindruck von der großen Liebe von einst und der unermesslichen Trauer nach dem Tod des Geliebten:

sagt er :

bin jetzt hier             bist noch dort
dort war Blume Schmerz und Wort
kann dir nicht sagen wie es hier ist —
oh dasz du mir verloren bist

für Ernst Jandl 

Schreiblust

„weil ich ohne Schreiben nicht leben kann“ (SZMagazin, 37/2012)

Mayröcker spricht nicht nur von „Schreiblust“, sondern steigert das Wort zu „Wollust“. In brütt (S. 105) heißt es:

Ich glaube, wenn sich nicht 1 Gefühl von Wollust vor / während des Schreibens einstellt, sage ich zu Alma, wird der Text 1 verdorbener sein, 1 verrenkter, mißratener, verächtlicher, nicht wahr.

Sie beschreibt in vielen Texten ihre unbändige Lust zu schreiben. Ohne zu schreiben, könne sie nicht leben, so sagt sie einmal in einem Interview (SZ-Magazin, 37/2012). Sie umgibt sich mit Tausenden von Zettel mit Notizen, hört beim Schreiben Musik und benutzt immer wieder Bilder als Schreibanlässe. Sie taucht, um schreiben zu können, in eine Welt aus Kunst ein, vor allem eine Welt aus Literatur, aus Wörtern, Sätzen und Sprachbildern. Daraus und aus ihren „Verbalträumen“ entstehen wundersame, faszinierende Reisen durch die Welt der Poesie. Aus dem scheinbaren Chaos der sie umgebenden Wörter und Sätze auf Zetteln werden durch ihre dichterische Kraft vollendete, betörend schöne, bis in Feinheiten hinein durchgearbeitete und immer wieder überarbeitete sprachliche Kunstwerke. Wie eine Komponistin formt sie aus verschiedenartigen Materialien, Einfällen, Bildern und Erinnerungen den endgültigen Text. Und dann, wenn das gelingt, wird, wie sie es einmal formuliert (Die Welt, 15. 7. 2001), aus ihrer „Höllen-Wohnung“, in der sie nichts mehr finden kann, „eine Art Himmel“.

Ihre Lust zu schreiben führt, so scheint es, zu einer Art Schreibobsession. Dieser unbändige Schreibdrang ist vielleicht das größte Pfund, mit dem die Dichterin wuchern kann. Er bestimmt ihr Leben und verleiht ihr bis ins hohe Alter hinein die Energie und die Kraft, die sie benötigt, um Werke zu schaffen, die höchsten dichterischen Ansprüchen genügen. Das kostet auf der anderen Seite auch Kraft und Energie. Ein Satz aus dem Buch ich bin in der Anstalt (2010, S. 60) deutet diesen Zusammenhang an. Er verweist auf die emotional-intensive Situation als Voraussetzung gelungenen dichterischen Schreibens hin: „Wenn ich nicht verbrenne beim Schreiben eines Gedichtes, ist es kein gutes Gedicht und wird den Leser kalt lassen.“ Mayröcker kann diese Schreibbesessenheit auch durch ein einfacheres, humorvolles, nicht minder scharfes Bild ausdrücken. Ein Kapitel aus brütt (S. 203) endet mit dem Satz: „(Habe jetzt schon bald keine Leibwäsche mehr, weil vor lauter Schreiben keine Zeit, das Zeug zu waschen..)“

In diesem Buch (S. 219) spricht sie auch einmal vom „inbrünstigen Glauben an das zu Schreibende“; nichts dürfe „nebenher geschehen“. Eine solche Aussage ist ernst gemeint und hat in ihrer Konsequenz weitreichende Auswirkungen. Hinter dem Satz steht die Forderung, dass alles dem Schreiben untergeordnet werden müsse. Das private Leben wird eins mit dem Leben als Schriftstellerin; das eine ist nicht von dem anderen zu trennen. Der berühmte Satz aus Cahier, dass alles, das „Geschriebene“ wie die „Existenz“, poetisch sein müsse, wird in solchen programmatischen Setzungen vorweggenommen. Friederike Mayröcker hat ihr Leben danach wie nach einer Maxime ausgerichtet und in der Tat alles Persönliche dem Schreiben „geopfert“. In Das Herzzerreißende der Dinge geht sie auf den Zusammenhang von Schreiben und Leben ein (S. 121):

ich besitze ja kein eigentliches Intelligenzpotential, das ich bei meiner Schreibarbeit anwenden könnte, sondern ich muß alles mittels meiner ärmlichen Naturexistenz bewerkstelligen und vorantreiben, hauptsächlich mit Leib und Seele, und es scheint mir, kein Bereich ist da auszusparen, so bin ich auch nicht imstande, irgendetwas anderes zu tun als mich meiner Schreibarbeit hinzugeben, nie könnte ich mich zum Beispiel heranwachsenden Kindern widmen oder hinfälligen Elternteilen, etc., […]

Vielleicht ist von daher ebenfalls zu verstehen, welche übergroße Bedeutung die Liebe zu Jandl in Mayröckers Leben gehabt hat. Ihre Liebe hat dem Satz, dass die Existenz selbst „poetisch“ sein müsse, nicht nur nicht widersprochen, sondern war auf ihre Weise die radikale Verwirklichung des Satzes. Beide, Mayröcker wie Jandl, haben sich durch ihre enge persönliche Beziehung in ihrer schriftstellerischen Entwicklung in keiner Weise eingeschränkt, sondern, im Gegenteil, geholfen und gefördert. Vieles von dem, was Mayröcker mit Jandl privat oder auf Reisen oder im Urlaub erlebte, wurde von ihr literarisch verarbeitet. Die Rohrmoos-Erlebnisse sind dafür Beispiele. Mehrere Texte beziehen sich darauf, etwa die Gedichte Rohrmoos 85, Ekloge Rohrmoos (2001), Alpensprache Rohrmoos (2003) und der Text aus den Magischen Blättern VI (S. 264), da so Zungen am Horizont.

Aber das ist die eher vordergründige Seite dessen, was ihre Liebe für ihre künstlerische Entwicklung bedeutet hat. Das Entscheidende ist die „Lebenssicherheit“, die Mayröcker und Jandl ihre Liebe gab. Erst sie hat sie frei gemacht für ihr dichterisches Schaffen und gestärkt in ihrer künstlerischen Entwicklung. Durch ihre Liebe verliert der Satz, dass alles dem dichterischen Schaffen untergeordnet werden müsse, für Mayröcker wie für Jandl seine lebensabweisende Bedeutung. Ihre Liebesbeziehung ermöglicht gemeinsames Schreiben und eröffnet für jeden von ihnen eine echte Lebens- und Wirklichkeitsperspektive. Uneingeschränktes Leben und uneingeschränktes Schreiben fallen in ihrer Liebe zusammen und werden eins.

Es ist von solchen Überlegungen her verständlich, dass Mayröcker Jandls Tod niemals überwinden konnte. Sein Tod hat sie in ihrer privaten wie in ihrer dichterischen Existenz getroffen. Ihr fast schon obsessives Schreiben darüber kann auch als Versuch gedeutet werden, im Schreiben selbst Trost zu suchen, aber auch dem künstlerischen Stillstand, der durch Jandls Tod hätte entstehen können, durch „unaufhörliches“ Schreiben über den Geliebten und über die Leere und Einsamkeit nach seinem Tod zu entgehen. Ihr Schreiben hätte zu einem eindimensionalen, monologischen Schreiben werden können. Indem sie den Partner von einst zu einem Teil ihres Schreibens macht, immer und immer wieder, über ein „Du“ zum Beispiel oder über den Namen Ely oder das Kürzel „EJ“ oder auch über die Erinnerungen an die Zeiten der Gemeinsamkeit, bleibt dieses „Du“ in ihrer Dichtung anwesend und füllt sie mit Leben und Wirklichkeit. Mayröckers Schreiben bleibt ein Schreiben aus einer melancholischen Einsamkeit heraus. Durch die Erinnerung an „EJ“ aber wird ihre „Einsamkeitsdichtung“ gleichzeitig eine überwältigende Liebesdichtung.

Die Dichterin

„dieses ganze wahnwitzige Element der Verwandlung von Wirklichkeit in Poesie“ (brütt, S. 76)

Die Bezeichnungen „Dichterin“ und „Dichter“ werden heute zögerlich verwendet. Eher spricht man vom „Autor“ oder vom „Schriftsteller“. Man bevorzugt Wörter, die das Machen und Produzieren von Texten betonen, den Schreibvorgang selbst in den Vordergrund rücken. Dichten dagegen – die romantische Tradition mit ihrem Geniekult ist unübersehbar – verweist (auch) auf die Spontanität beim Schreiben, den kreativen Einfall oder gar die Schreibbesessenheit, meint ein Schreiben, das von Kräften angetrieben wird, die der Schreibende selbst nur in Maßen oder gar nicht beeinflussen kann.

Wenn der Begriff „Dichterin“ überhaupt noch so verstanden werden kann, dann trifft er auf Friederike Mayröcker zu. Sie selbst hat sich an vielen Stellen ihres Werks und in zahlreichen Interviews zu dieser besonderen Beziehung zwischen Schreiben und Inspiration geäußert. Interessanterweise nimmt Mayröcker einen herausgehobenen Moment ihres Autorenlebens zum Anlass, ihre Sicht von Schreiben und Inspiration darzulegen: ihre Vorstellungsrede bei der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung, die ihr 2001 den Georg-Büchner-Preis zusprach:

Immer wieder stellt sich mir die Frage, warum es heute als fragwürdig, ja anachronistisch gilt, von Eingebung, von Ingenium zu sprechen, man spricht lieber davon, dass es jedermann gegeben ist, einen Text herzustellen. Ich melde meine Bedenken an.

Der zurückhaltend formulierte zweite Satz des Zitats ist eigentlich eine Kritik an der Veröffentlichungssucht einiger Schriftsteller, den Verkaufsstrategien mancher Verlage und der sorglosen Auswahl von Büchern vieler Leserinnen und Leser. Mayröckers „Bedenken“ gegen das „Herstellen von Texten“ entlarven einen Teil des unüberschaubaren Literaturbetriebs. Sie sind – unausgesprochen – ein Plädoyer für Schreiben aus einem anderen Antrieb heraus.

Mayröcker benutzt manchmal ausgefallene Formulierungen, um die geheimnisvolle Seite der Eingebung beim Schreibens zu erläutern. So spricht sie in einem Interview mit Paul Jandl (15. 6. 2013) vom „Heiligen Geist des Schreibens“ und fährt fort:

Ich kann abends oder nachts nicht schreiben. Ich bewundere andere Schriftsteller, die das können. Um diese Zeit ist doch schon so viel Welt in einen hineingestürzt, da kann man nichts Reines mehr machen. […]. Zwischen fünf und sechs Uhr morgens ist man noch rein, oder vielleicht sollte man sagen welt-rein. Und man ist auch noch beeinflusst vom Traum. Ich träume ziemlich viel, nichts Besonderes, aber es beeinflusst mich sehr. Am Abend fühle ich mich beschmutzt. Man hat so viel in sich hineingelassen.

Auffällig sind die Wörter „rein“ und „welt-rein“. Die Quelle des Schreibens ist für Mayröcker ganz sie selbst. Nur ihre Gefühle und Gedanken und das, was an Welterleben und Welterfahrung in ihr steckt und durch sie sozusagen wie durch einen Filter hindurchgegangen ist, kann zu Dichtung werden. Niemals könnte Dichtung durch äußere Ereignisse, die sie nicht direkt betreffen, angestoßen werden. Im Gegenteil, das empfände sie als völlig abwegig und hinderlich.

In einem Interview mit Siegfried J. Schmidt aus dem Jahr 1983 erläutert Mayröcker, dass sie in den Situationen, in denen sie einen kreativen Energieschub erfahre, Zusammenhänge begreife, die ihr normalerweise verschlossen blieben und die sie dann zu Papier bringe. Es ist das, was gemeinhin als dichterische Inspiration bezeichnet wird, ohne dass genau bestimmt werden kann, wie sich Schreiben dabei vollzieht. Mayröcker benutzt zur Erklärung ein sprachliches Bild: „Es schießt zusammen“. Es sind die Wörter, die auch Thomas Mann benutzt (Brief an Philipp Witkop vom 12.3.1913), um seine dichterische Kraft bei der Arbeit an der Novelle Tod in Venedig anzudeuten. Gemeint ist ein plötzliches überwältigendes Ereignis, bei Mayröcker vielleicht nur ein kurzer Moment, in dem sie eine besondere Sensibilität für Wahrnehmungen und Sprache spürt. Es ist offensichtlich ein machtvoller Vorgang, der sie lenkt, gegen den sie sich kaum wehren kann, auch nicht wehren will. Es ist der Beginn dichterischer Kreativität:

Da schießt mir dann vieles zusammen, von dem ich eigentlich intellektuell gar nichts weiß. Es schießt zusammen. Ich kann manchmal gar nichts dafür. Das sind dann wirklich Momente, wo ich so vieles begreife. Ich schreibe es natürlich auch auf, aber ich könnte mich auf intellektuelle Weise noch so mühen und würde es nicht begreifen. Es kommt da etwas in mich herein, in meinen Kopf oder in meine Sinnesorgane, worum ich mich gar nicht bemühe. Und das hängt von allen möglichen Dingen ab. Es schießt also zusammen, ohne dass ich es beschreiben könnte.

Das Buch brütt oder Die seufzenden Gärten aus dem Jahr 1998, das die Dichterin zu ihren wichtigen Büchern zählt, handelt an vielen Stellen von der Beziehung zwischen Schreiben und Inspiration. Mayröcker besteht darauf, dass diese „poetologischen Einschübe […] sehr ernst“ genommen werden. Die beiden folgenden Auszüge erläutern den Zusammenhang:

während draußen 1 Flockenwirbel, eine Sekunde lang 1 FLUIDUM, ich meine ich habe deutlich die Anwesenheit etwas mir Unbekannten gespürt, nein, […] nicht im Raum, nicht im Verkaufsraum schwebend, nein, etwas das gleicherweise in mir und außerhalb wirkte, weste, ausgebrochen war, sich wohltätig vermittelte, usw., es wurde mir WARM UMS HERZ, wie gesagt wird, ich hatte in dieser Sekunde den Aufschwung eines sehr jungen Menschen mit allen heftigen Antrieben, Sehnsüchten, Hoffnungen, Passionen, ich konnte es nicht fassen, ich versuchte mich anzuklammern an diese einzigartige Empfindung, aber sie schwand, kam nicht wieder, (S. 133)

wenn man wirklich arbeitet, das ist dann 1 Geheimnis, ich meine es ist dann alles geheim : 1 grausamer geheimer Vorgang, bei dem niemand anwesend sein darf!, es ist überhaupt das geheimste das man mit sich selber unterhält, also das ist der Inbegriff der Intimität mit sich selbst, das ist nicht nachvollziehbar, sage ich zu ihm, (S. 327)

Die Textauszüge dürfen als Hinweise auf die magische Situation des Schreibens gelesen werden. Friederike Mayröcker betont, dass etwas mit ihr geschehe, wenn sie schreibe, dass sie „Antriebe“ spüre, die einen regelrechten Schreibschub auslösten. Sie betont aber ebenfalls, dass all das „1 Geheimnis“ sei und dass das Schreiben eine besondere „Intimität“ erfordere. Aus Adjektiven wie „geheim“ und „intim“ darf man schließen, dass es ihr schwerfällt, dafür Worte zu finden, die diese Schreibsituation anderen verständlich machen kann. Sie möchte aber auch, so scheint es, das letzte Geheimnis dieses Vorgangs bewahren. Es ist letztlich die Quelle ihrer kreativen Kraft und ihrer sprachlichen Imagination.

Mayröcker spricht, wenn sie sich zu ihrem Schreiben äußert, von einem Schreiben-Müssen oder von einem zum Schreiben drängenden „es”:

wach ich auf, dann sagt es mir, ob ich gleich anfangen kann, im Bett zu schreiben, oder ob ich eben warten muss. Es‘ ist also das, was mich treibt.

Sie erfährt das Schreiben als „große Erregung“: „Ich lebe, ich schreibe. Ich fühle mich nur am Leben, wenn ich schreibe. Man ist so irgendwie im Himmel natürlich.“ (Auszüge aus einer Radiosendung des Bayerischen Rundfunks vom 11.12.2014 anlässlich des 90. Geburtstags der Autorin)

Man versteht, wenn man solche Sätze liest, warum Mayröcker an anderer Stelle von einem Geheimnis spricht. Es ist ein Vorgang, der nicht erzwungen werden kann. Erst wenn „es“ – darin liegt der geheimnisvolle Teil des Schreibens – „einschnappt“, gelingt Dichtung. In anderen Kontexten spricht sie von „1 FLUIDUM“ oder von einer „VERWÜSTUNG“ beim Schreiben. Immer ist damit eine „Schreib-Aufregung“ gemeint, die der Schreiberin Energie zum Schreiben gibt, ihr aber auch alles an emotionaler Kraft und Sprachphantasie abverlangt. Schreiben wird zu einer Gratwanderung zwischen Gipfelsturm und Absturz, zwischen Glücksempfinden und lebensbedrohlichen Momenten: „so dasz mein Blutdruckwert aufs höchste, etc.“. Schreiben in diesem Zustand bedeutet eine Selbstentäußerung und völlige Hingabe an die Sprache. Die Dichterin erfährt das als Rausch; es ist ihr Lebenselixier, das sie den Beschwernissen des Alltags auf magische Weise entrückt und sie in jenen Zustand versetzt, der Dichten im umfassenden Sinn des Wortes möglich macht. Im Schreiben selbst „lebt“ die Dichterin ihr Leben.

Diese kompromisslose Haltung zum Schreiben kommt in einem kleinen Gedicht, das Anfang Januar 1997 entstand, zum Ausdruck:

Jahresbeginn ’97, für Helmut Peschina

die Bademütze kesz
auf dem Kopf im Spiegel, sage ich mir
mich interessiert das nicht was in meinem
Körper vorgeht was mit meinem
Körper geschieht, solange er noch
sitzen kann und Wörter schreiben auf der Maschine

Schreibmagie

„und da siehst du ihn dann diesen KUMPAN, diese leibgewordene Inspiration“ (brütt, S. 222)

Friederike Mayröcker hat die magische Seite des Dichtens in vielen ihrer Bücher beschrieben und sich dazu in zahlreichen Gesprächen geäußert. Wie wichtig der Autorin das Wort „magisch“ im Zusammenhang mit ihrem Schreiben ist, zeigt der Titel der seit 1984 bestehenden Veröffentlichungsreihe Magische Blätter, in der sie hauptsächlich Prosatexte, die zum Teil bereits publiziert wurden, sammelt. Auch die Tatsache, dass sie sich noch 1998 in dem Text an Hans Weigel denkend daran erinnert, dass einige ihrer ganz frühen Prosastücke „schon damals als ‚magische Prosa‘ bezeichnet worden“ seien, unterstreicht, dass diese Charakterisierung offensichtlich ein entscheidendes Moment ihres Schreibens trifft. (Magische Blätter V, S. 75)

Mayröcker hat keine Scheu, das Wort „magisch“ für Sprache und Schreiben zu benutzen. In ihrer Laudatio auf Elke Erb anlässlich der Verleihung des Erich-Fried-Preises am 2. April 1995 in Wien erinnert sie sich an die erste Begegnung mit der Preisträgerin in Ost-Berlin und an Gespräche mit ihr:

Sie redet … sie redet vor sich hin, redet zu mir her, ich kann kaum folgen, die Rede scheint aus einer mir bislang unbekannten Geisteswelt zu kommen. Die Rede fesselt mich, ich möchte festhalten was sie spricht, vielleicht Selbstgespräch, denke ich, magische Sprache, alle Punkte berührend, alle Punkte der Erde, gleichzeitig im Norden und Süden des vorgestellten Globus auftauchend, das Bejahende das Verneinende ins nämliche Satzgefüge in die nämliche Wortfolge eingepaßt, ich lausche gebannt dieser Quelle der Geheimnisse dieser Zaubersprache, wie aus einem fremden Originaltext herübergeholt, diesen bisher nicht erfahrenen verbalen Einsichten, Verweisungen, Phantasien, Einschätzungen, Erkenntnissen.

Mehrere Aussagen in dieser kurzen Textpassage sind aufschlussreich, weil sie in Elke Erb eine Literatin mit dem gleichen Antrieb zum Dichten sieht, eine „Schwester im poetischen Geiste“. Ganz selbstverständlich redet Mayröcker von magischer Sprache als von einer „Zaubersprache“ voller Geheimnisse, „wie aus einem fremden Originaltext herübergeholt“. Diese Sprache ist, so sieht es die Dichterin, in einem Bereich jenseits alltäglicher Erfahrung angesiedelt. Der „Originaltext“, aus dessen Sprachvorrat sich die Dichterin bedient, ist und bleibt anderen „fremd“. Von solchen Formulierungen führen Verbindungslinien zu Ausdrücken wie „Gottessen“ und „Leibspeise“ in anderen Texten, in denen Mayröcker ebenfalls auf eine völlig andere Sprachquelle und einen ganz anderen Schreibvorgang verweist.

In dem Textauszug geht es darüber hinaus noch um die inhaltliche Seite magisch-dichterischen Schreibens. Er handelt von dem weltumfassenden Anspruch von Dichtung und von der Andersartigkeit dichterischer Sprache, da sie – im Gegensatz zu herkömmlichen Sprachzusammenhängen – „das Bejahende das Verneinende ins nämliche Satzgefüge in die nämliche Wortfolge“ einbringt. Vielleicht liegt darin, in dem gleichzeitigen Ja und Nein, der eigentliche Grund für das Geheimnis und die grundsätzliche Fremdheit magischen Sprechens und Schreibens. Dichtung – das besagt das Zitat – überschreitet den konventionellen Verständigungsbereich, betritt neue Sprachbereiche und lässt sich keiner herkömmlichen Kategorie des Sagens oder Verstehens zuweisen. Sie folgt eigenen Regeln und Absichten. Das Inhaltliche ordnet sich wie selbstverständlich der Sprache unter. Diese allein, nicht etwa ein Verstehensprinzip, bestimmt das Geschriebene.

Wenn das Zitat aus der Laudatio für Elke Erb so gelesen wird, dann ist Dichtung im Verständnis von Friederike Mayröcker das ganz Andere, das Unbekannte und Neue, das Verstörende auch, auf jeden Fall etwas, das sich vorschnellen Erklärungen entzieht. Sie nennt dichterische Sprache eine „verhüllte eingehüllte unbetretbare Sprache“ und zitiert Artaud: „Jede wahre Sprache ist unverständlich.“ Die Leser, so darf man folgern, können sich einer magisch-dichterischen Sprache „nähern“. Sie ganz zu verstehen, erfordert Mühe. Und manchmal ist dichterische Sprache nur in Ansätzen verständlich. Aber – und das wiederum belohnt jede Mühe – sie führt zu „bisher nicht erfahrenen verbalen Einsichten, Verweisungen, Phantasien, Einschätzungen, Erkenntnissen“.

In dem Gedicht zu Maria Grubers „Bäume in Rosenrot“ (26.3.06) geht es um das kunstvolle Spiel mit den Farben rosarot, blau und schwarz. Es löst in der Betrachterin einen Schreibimpuls aus. Das Wort „magisch“ verbindet die Kunst des Malens mit dem dichterischen Schreibprozess. Das Ende des Textes lautet:

(es flackert einen Moment lang auf in meinem Herzen : ein
Lichtzeichen das mich zurückholt an den magischen Zustand
der Hervorbringung von Sprache – dann wieder erloschen dann wieder
gewöhnliche Zeit gewöhnliche Welt, usw.)

Gewichtet durch ihre Position im Text, aber auch durch Klammer und Zitatzeichen, beschreiben die vier Schlusszeilen den Moment dichterischer Inspiration. Die „Hervorbringung von Sprache“ gelingt, wenn im „Herzen“ der Dichterin ein „Lichtzeichen“ den magischen Moment ankündigt und zulässt. Es ist ein Zustand jenseits allen gewohnten Arbeitens und aller „gewöhnlichen Welt“. Seine Dauer, wenn er denn „aufflackert“, kann nicht einfach in die Länge gezogen werden. Die Wörter „erloschen“ und „gewöhnlich“ am Ende deuten die Brüchigkeit des magischen Schreib-Moments an.

Für Mayröcker ist die Schreibsituation, in der die „Hervorbringung von Sprache“ gelingt, ein, wie sie in einem Zeitungsgespräch (Zeit Online anlässlich des 80. Geburtstags der Wiener Dichterin) erläutert, „total anderer Zustand“:

Es ist fast, wie wenn ich eine Droge nehmen würde. […] Es ist ein magischer Zustand. Ich rede nicht gerne darüber. Ich empfinde es beinahe als Verrat, darüber zu sprechen. Es ist auch für mich ein Geheimnis. Und wenn ich zu viel darüber spreche, kann ich nicht mehr schreiben. Das Geheimnis verflüchtigt sich. Man sollte nicht darüber nachdenken. Es kommt oder es kommt nicht. Und meistens kommt es.

Die Scheu und das Unvermögen, über den magischen Moment des Schreibens zu reden, werden in dem Gedicht Abendunterhaltung (16.9.81) thematisiert:

in welchem besonderen
Zustand ich mich befinde, fragt
der Arzt, wenn ich schreibe -

ich versuche
mich zu besinnen
die Erfahrung
in Worte zu fassen
aber bin wieder als Kind :
stammelnd und unfrei
ein Prüfling wie damals, mit
gesenkter Stirn und
abschwörendem
Lächeln

Hier wird Dichten als ein Vorgang dargestellt, der etwas Geheimnisvolles hat, folgerichtig auch nicht umfassend erklärt werden kann. Das Bild des „stammelnden“ Kindes zeigt, wie falsch die Frage nach dem „Zustand“, aus dem heraus oder in dem Dichtung entsteht, gestellt ist. Ein Kind macht etwas, kann dafür aber nicht immer Gründe oder Motive nennen. Die Frage danach, vielleicht eine typische „Arztfrage“, setzt auf eine genaue Beschreibung und geht von Analysemöglichkeiten aus. Es ist wie eine Prüfungssituation, die den Prüfling hilflos und sprachlos macht. Dichten, darauf beharrt Mayröcker, funktioniert so nicht, nicht nach einfachen beschreibbaren Kriterien, nach naturwissenschaftlichen Regeln sozusagen. Es ist ein „total anderer Zustand“.

Die Autorin hat für diesen magischen Schreibvorgang, der von Außenstehenden nicht ohne weiteres erschlossen werden kann, eindringliche Bilder gefunden, die etwas von dem Besonderen und der Kraft dieses inspirierten Moments vermitteln. Es ist „etwas“, das sie als Voraussetzung ihres Schreibens vorzufinden hofft, aber nicht von vornherein erwarten kann.

erster Gedanke am Morgen : werde ich schreiben können werde ich heute schreiben können werde ich in die Feuerlilien Verfassung geraten, schreiben zu können. (Mag. Blätter VI, S. 280)

Dann, in dieser „Feuerlilien Verfassung“, gelingt ihr die „Himmelssprache“ (Mag. Bl. VI, S. 154), spürt sie die „Stichflamme der Eingebung (Leidenschaft)“ (Mag. Bl. VI, S. 113), wird sie von einem „WORTGEWIMMEL und WORTGESTÖBER“ (Ma. Bl, VI, S. 113) regelrecht überwältigt und wird ein „innerlich glühendes Wesen“ (Liebling, S. 74); dann gerät sie in eine „Schreib Raserei“ (Liebling, S. 107), eine „Schreib Hysterie“ (Liebling, S. 109), in eine Schreibbesessenheit und „brennt lichterloh“ (Liebling, S. 141). Dann entsteht Dichtung.

In dem Buch Und ich schüttelte einen Liebling (S. 110) schreibt Mayröcker von dem überstarken Erlebnis poetischer Kreativität: „man kann es auch das Gottessen nennen denn man fühlt sich von einer fremden Gewalt übermannt“.

In dem Ausdruck „Gottessen“ steckt ein Anflug von Vermessenheit. Er meint die Einverleibung von Göttlichem, meint Dichtung als einen Zustand, der weit über das Normale hinausgeht und letztlich etwas der Realität ganz und gar Enthobenes ist, der, als letzte Konsequenz, „süchtig aufs Schreiben“ macht. Sie vergleicht einmal in brütt (S. 163) „das Lesen wie das Schreiben (das Beten)“ mit „einer heiligen Handlung“. Es ist Mayröckers Versuch, den magischen Vorgang des Schreibens, so wie sie ihn versteht und erfährt, in Sprachbilder zu fassen, die den geheimnisvollen Schreibvorgang verständlicher machen. Für sie ist es ein zutiefst mystisches Erlebnis. In dem Buch Das Herzzerreißende der Dinge (S. 118 f.) wird das in einem pathetisch-prophetischen Satz aus Großbuchstaben überdeutlich gemacht: „DU WIRST AUS ANDEREN : GEHEIMEN QUELLEN GESPEIST.“ Sie sucht dafür nach Erklärungen:

man fühlt sich von einer fremden Welt übermannt, und man tritt in eine fremde Welt ein, welche aber voll Gloriolen, und das geschieht nicht jederzeit wenn man es sich wünscht sondern es ist von speziellen Voraussetzungen abhängig, und man benötigt dazu ein innen glühendes Wesen, so ist es, ein fremdes Geschehen sprengt die alltägliche Brust, und es ist eine Kopulation mit dem Geist, und es ist ein Exzesz und es ist ein Geheimnis und dann ist man dem Schreiben verfallen und ist süchtig aufs Schreiben geworden, […] und ich brenne lichterloh, aber ich bin dann immer in Entzücken und süszer Panik eigentlich in Neugier und MURMELN also ich bin in einem glückseligen MURMELN. (Und ich schüttelte einen Liebling, S. 110)

Die Textstelle – und es gibt viele dieser Art in den Veröffentlichungen der letzten Jahrzehnte – enthält Wörter, die religiöse Konnotationen haben, aber auch auf eine extrem emotionale Situation verweisen, die durch psychische Abhängigkeit gekennzeichnet ist und fast einer Entpersönlichung gleichkommt. Schreiben ist in einem solchen Verständnis keine selbstgesteuerte und voll geplante Tätigkeit mehr, sondern eher ein Zustand, in dem sich die Schreiberin wie „außer sich“ befindet. Dieser Zustand hat etwas Intimes – Schreiben als „die Preisgabe meiner selbst“ (Liebling, S. 132) – und etwas Geheimnisvolles, das sich vorschnellen Erklärungen entzieht: eben das Magische. Es ermöglicht, das Banal-Alltägliche hinter sich zu lassen und über Erinnerungen, Träume, Phantasien und mit großer sprachlicher Kraft und Energie das Leben in Sprachbilder zu übersetzen, die den Lesern Entscheidendes über dieses Leben mitteilen. Über die Imagination gelingt es Mayröcker, die Menschen, die in ihrem Leben eine Rolle spielen oder gespielt haben, aus der Vergangenheit in die Gegenwart und aus der Ferne in die Nähe zu holen und das Leben in all seinen Facetten und Möglichkeiten darzustellen.

Schon 1962 schreibt sie in dem Gedicht Der Aufruf:

Mein Leben:

ein Guckkasten mit kleinen Landschaften
gemächlichen Menschen
vorüberziehenden Tieren
wohlbekannten wiederkehrenden Szenarien

plötzlich aufgerufen bei meinem Namen
steh ich nicht länger im windstillen Panorama
mit den bunten schimmernden Bildern 

sondern drehe mich wie ein schrecklich glühendes Rad
einen steilen Abhang hinunter
aller Tabus und Träume von gestern entledigt
auf ein fremdes bewegtes Ziel gesetzt :

ohne Wahl
aber mit ungeduldigem Herzen

Das Gedicht ist ein „glühendes“ Bekenntnis zur Macht von Inspiration. Die Dichterin kann sich dagegen nicht wehren. Die Inspiration kommt über sie wie eine (religiöse) Erweckung und verändert ihre Existenz schlagartig. Der Text lässt die Mühen und Risiken eines solchen „neuen“ Schreibens erahnen. Er drückt die Einmaligkeit und Besonderheit dieses Zustands aus. Die Ich-Schreiberin fiebert dem „fremden bewegten Ziel“, ohne zu wissen, was sie erwartet, entgegen. Vierundfünfzig Jahre später steht auf dem hinteren Buchdeckel vonfleurs, also an herausgehobener Stelle, folgender kurzer Text:

diese Zeilen wenn sie so
eng umschlungen : wenn sie
so hingerissen wenn sie so
angeflammt

Die Worte „umschlungen“, „hingerissen“ und „angeflammt“ weisen zurück auf das Gedicht von 1962. Hier wie dort wird von einer inneren Überwältigung durch Sprache und Poesie gesprochen. In den Wörtern „brennen“ oder „glühen“ oder „entflammen“, die immer wieder in Mayröckers Werk vorkommen, wird diese ungeheure Kraft der Inspiration festgehalten. Der dichterische Text gelingt (nur) in einer solchen – im wahren Sinn des Wortes – außergewöhnlichen Schreibsituation, die alle Konzentration und Hingabe fordert und ungeahnte Energien freisetzt. Dann ist der Dichterin alles möglich:

und ich dachte es sei schön, man könne alles AUFBLASEN den ganzen Text aufblasen oder auch reduzieren den ganzen Text DEHYDRIEREN, nicht wahr, man stecke ja drinnen und könne alles tun mit dem Text also man könne sich in ihm bewegen und man liebe ihn, und man könne sackhüpfen in ihm und man könne überhaupt alles tun in ihm und mit ihm und man könne jubeln in ihm und weinen in ihm, und es war überhaupt das schönste was es gab, mit ihm eins zu sein. (Und ich schüttelte einen Liebling, S. 60)

Aus solchen Zeilen sprechen eine große Bewusstheit des künstlerischen Tuns, eine Selbstsicherheit, die keinerlei Zweifel an der Vollkommenheit dessen zulässt, was aus „Schreib Raserei“ entstehen kann. Nicht zufällig vergleicht sie ihre Schreibbesessenheit mit Glenn Goulds „rasendem Spiel“ am Klavier.

Ihre Auffassung von Schreiben verdeutlicht Friederike Mayröcker in fleurs in zwei wundersamen Zeilen: „die / äuszere Welt musz innere Welt werden = das Empfundene. / Die innere Welt musz wieder äuszere Welt werden = das Gedicht.“

Die Zeilen drücken genau aus, was Dichtung in ihrem Verständnis ist: ein geheimnisvoller Vorgang, bei dem Wirklichkeit in Sprache „übersetzt“ wird und der eine neue ästhetische Wirklichkeit schafft. Die Dichterin selbst ist dabei so etwas wie eine „Durchgangsstation“, ein „Medium“. Ihre Aufgabe ist es, für die Empfindungen, die die Wirklichkeit in ihr auslöst, eine sprachliche Form zu finden, die sich von ihr wieder löst, das Persönlich-Private abstreift und allgemein verständlich, also ein dichterischer Text wird. Der Text ist in Sprache gefasste Wirklichkeitswahrnehmung. Es gibt nichts „Wirklicheres“ als das, was Dichterinnen und Dichter über die Welt und das Leben schreiben.

Das „es“, das zu Dichtung führt, und der außergewöhnliche Schreibzustand, aus dem heraus Dichtung entsteht, ermöglichen, davon ist die Autorin überzeugt, Texte, die vollkommen sind, die eine eigene poetische Welt schaffen, die nur auf sich selbst verweisen, nicht auf etwas, das außerhalb liegt. In Und ich schüttelte einen Liebling (S. 65) zitiert sie einmal Jandl: „und EJ sagt, es gibt nichts auszerhalb des Textes, […]“

Das folgende Gedicht greift diese poetische Umwandlung von Wirklichkeit in ein sprachliches Kunstwerk auf. Die Umwandlung bedarf keinerlei Erklärungen oder gar  interpretierender Rechtfertigungen. Sie wird allein legitimiert durch den Künstler, der das Werk kreiert.

für CF am frühen Morgen (15.1.05)
ist das 1 Gedicht, sagt CF, ja
das ist 1 Gedicht : indem ich sage das ist
1 Gedicht ist es 1 Gedicht. Meine
Ärztin sagt, essen Sie 1 Gedicht, ich
weisz nicht wie man es kocht, sage ich. Wenn Antoni
Tàpies sagt, diese weisze Form ist 1 Sessel, erkenne
ich in dieser weiszen Form einen Sessel, ins
Zentrum gerückt. Indem ich von einem Urinoir sage, das
ist 1 Kunstwerk, sagt Marcel Duchamp, ist
es 1 Kunstwerk. Indem ich sage, die
weiszen Schäfchen am Himmel, sind es die
weiszen Schäfchen am Himmel“.

Die Lyrikerin besteht auf der Kraft ihrer Sprache, ist sich des „magischen Zustands“ ihres Schreibens bewusst. Sie versteht sich als „Sprachzauberin“ mit höchster dichterischer Autorität und reiht sich mit diesem Anspruch ein in die Gruppe von Künstlern, deren Kriterium für Kunst, wie sie immer wieder versichern und durch ihre Werke demonstrieren, in ihnen selbst liege: Ihr Werk sei, inspiriert von den Künstlern, immer Kunst. Der apodiktische Ton in den Schlusszeilen des Gedichts verweist auf eine „Tatsache“. Er lässt Widersprüche nicht zu.

Der Vers „indem ich sage das ist / 1 Gedicht ist es 1 Gedicht“ und die Schlussvers erinnern sowohl in ihrer sprachlichen Form wie in dem, was sie „feststellen“, an einen Tagebucheintrag (19. Februar 1911) von Franz Kafka:

Die besondere Art meiner Inspiration […] ist die, dass ich alles kann, nicht nur auf eine bestimmte Arbeit hin. Wenn ich wahllos einen Satz hinschreibe z. B. Er schaute aus dem Fenster so ist er schon vollkommen.

So wie sich Kafka als „vollkommenen“ Dichter sieht, sieht sich die Lyrikerin als eine Schöpferin von Sprachbildern, deren Wahrheit durch nichts als den dichterischen Text selbst konstituiert wird und darin vollständig zum Ausdruck kommt.

Ähnlich äußert sie sich in einem Zeitungsgespräch:

Es gibt sogar Momente, in denen ich darüber nachdenke, was wohl die Leser zu einem bestimmten Satz sagen werden. Trotzdem würde ich ihn nie deswegen ändern. Er kann nur so lauten, wie er da steht. Mir geht es immer nur um die Sprache. Um ihre Funktionsweise, vor allem ihre Schönheit. Handlung, Botschaft, interessiert mich alles nicht. (SZMagazin 37/2012)

Friederike Mayröcker ist eine wahre Sprachartistin, die wohl beeindruckendste Sprachmagierin im deutschsprachigen Raum. Man erleichtert sich den Zugang zu ihren Texten, wenn man bereit ist, die Dominanz von Sprache in ihrem Werk anzuerkennen, und nicht vorrangig nach Inhalten sucht. Die Sprache vor allem hält Überraschungen bereit. Über sie ergeben sich Zusammenhänge, Verklammerungen einzelner Zeilen und Sätze und ganzer Absätze und Verbindungslinien zwischen den Texten und zwischen verschiedenen Büchern. Solche Sprachlinien zu erkennen und ihrer Sogwirkung zu vertrauen, ist eines der Erlebnisse bei der Lektüre Mayröcker’scher Texte. 

Mayröcker produziert – ihre wunderbaren Gedichte, ihre Prosawerke, ihre Kinderbücher, ihre Hörspiele und ihre zahlreichen anderen Veröffentlichungen beweisen das auf das eindrücklichste – keinen „BUCHSTABEN SAND“, wie sie die Figur „m“ in ihrem Hörspiel‚dein Wort ist meines Fußes Leuchte‘ oder : ‚Lied der Trennung‘ (1999, Magische Blätter V, S. 63) einmal über die eigene Schreibschwäche klagen lässt. „Schreibschwächen hat Mayröcker nicht gekannt. Und eine „zerriebene zerrissene“ und „abgebrauchte“ Sprache würde beim kleinsten Windhauch „verwehen“, ohne Spuren zu hinterlassen. Mayröcker hat als Dichterin sichtbare Spuren, unverwischbare hinterlassen. Ihr „Weiterleben“ wird durch ihr einzigartiges, eindrucksvolles Werk gesichert: für lange Zeiten.

‚was brauchst du‘

Das Gedicht was brauchst du aus dem Jahr 1995 hat Friederike Mayröcker häufig öffentlich vorgetragen. Es ist wohl eines ihrer Lieblingsgedichte und in mehrfacher Hinsicht bezeichnend für ihr Werk.

was brauchst du

was brauchst du? einen Baum ein Haus zu
ermessen wie grosz wie klein das Leben als Mensch
wie grosz wie klein wenn du aufblickst zur Krone
dich verlierst in grüner üppiger Schönheit
wie grosz wie klein bedenkst du wie kurz
dein Leben vergleichst du es mit dem Leben der Bäume
du brauchst einen Baum du brauchst ein Haus
keines für dich allein nur einen Winkel ein Dach
zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel 

Dieses einfache Gedicht, das in seiner Sprachhaltung und Intensität einem Gebet ähnelt, zählt auf, was der Mensch „braucht“: mehr als alles andere wohl die Erkenntnis, dass das Leben „grosz“ und „klein“, also nicht ohne weiteres greifbar oder bestimmbar ist und dass es darauf ankommt, das zu erkennen, was wirklich zählt. Es ist ein Text darüber, dass zu einem Leben gehört, unterscheiden zu können und sich zu bescheiden. Es geht nicht um falsche Bescheidenheit. Gemeint ist eine Selbst-Bescheidung, die eine neue Perspektive auf das Innere des Menschen und die Größe der Welt um ihn herum ermöglicht.

Es ist auch ein Gedicht über die Existenz einer Dichterin. Die Verhaltensweisen und Wahrnehmungen, aus denen die dichterische Kraft erwächst, werden am Ende aufgezählt. Es sind kontemplative Eigenschaften, die so alltäglich sind, dass sie leicht übersehen und vernachlässigt werden, aus denen aber eine große Energie erwachsen kann und die deshalb offensichtlich für das Gelingen von Sprachwerken wichtig sind. Diese werden auch bestimmt durch das Wissen und die Erfahrung der Dichterin, dass ihr Werk Dimensionen hat – in Ausdrücken wie „Gestirne“ oder „Himmel“ werden sie angedeutet –, die den Alltag weit übersteigen. Nicht zufällig endet der Text mit dem Wort „Himmel“. Es deutet eine religiöse Seite dichterischen Schreibens an.

Friederike Mayröcker geht an mehreren Stellen ihres Werkes, aber auch in Interviews auf diesen religiösen Bedeutungsbereich ein. In dem Text Gott beispielsweise spricht sie über ihre religiöse Haltung, ohne allerdings Einzelheiten mitzuteilen. „Ich glaube sehr fest an den Heiligen Geist“, sagt sie und wiederholt damit Sätze, die sie so ähnlich manchmal in Gesprächen mit Journalisten äußert und die auch Ernst Jandl über sie gesagt hat. In demselben Zusammenhang betont sie aber auch: „das ist mein Geheimnis“, und blockt damit weitere Nachfragen ab.

Mayröcker verknüpft ihr Schreiben mit einer Dimension, die über die Wirklichkeit, die sie vorfindet, hinausgeht. In Ausdrücken wie „Gottessen“ oder „Fittichen“ oder „Manna / Himmelsbrot“ und ähnlichen Sprachbildern wird diese „überirdische“ Ebene des Schreibens beschworen. Eindringlich stellt sie das in den folgenden Sätzen aus den Magischen Blättern VI (S. 154) dar; das Wort „Himmelssprache“ wird dreimal wiederholt:

ich fiebere leicht in den Himmel, so rumoren 1 bißchen, sage ich zu ihr, in dieser Himmelssprache, sage ich, so hingaloppieren, hineingaloppieren in diese Himmelssprache, süße Himmelssprache, sage ich zu ihr, mehr verlange ich gar nicht mehr in dieser meiner mir verbleibenden Zeit

Schreiben ist Teil des Lebens. Beide sind nichts Getrenntes, sondern bilden eine Einheit. Der berühmte Satz aus Cahier(2014) „nicht nur das Geschriebene auch die Existenz musz poetisch sein“ erhält von diesem Gedicht und besonders von den Schlusszeilen her noch einmal eine besondere Bedeutung: Schreiben als künstlerische Tätigkeit wird wie selbstverständlich eingerahmt von Wörtern, die alltägliche Beschäftigungen ausdrücken.

zu sitzen zu denken zu schlafen zu träumen
zu schreiben zu schweigen zu sehen den Freund
die Gestirne das Gras die Blume den Himmel

Dichten, wenn man diesen Zeilen folgt, braucht die Genialität, aber auch die einfachen Verrichtungen und Tagesabläufe. Leben geht in Dichtung über und umgekehrt. Beide Bereiche durchdringen und bedingen sich und bilden eine Einheit. In Friederike Mayröckers Werk ist diese Einheit wie selten spürbar.

Quellen

Die Zitate von Friederike Mayröcker stammen aus folgenden Büchern, die im Suhrkamp-Verlag veröffentlicht wurden:


Die Abschiede, 1980
Das Herzzerreißende der Dinge, 1985
mein Herz mein Zimmer mein Name, 1988
brütt oder Die seufzenden Gärten, 1998, 2014
Magische Blätter V, 1999
Requiem für Ernst Jandl, 2001
Die kommunizierenden Gefäße, 2003
Gesammelte Gedichte, hrsg. v. Marcel Beyer, 2004
Und ich schüttelte einen Liebling, 2005
Magische Blätter VI, 2007
dieses Jäckchen (nämlich) des Vogel Greif, Gedichte 2004 – 2009, 2009
ich bin in der Anstalt, 2010
vom Umhalsen der Sperlingswand, oder 1 Schumannwahnsinn, 2011
ich sitze nur GRAUSAM da, 2012
Von den Umarmungen, 2012
études, 2013
cahier, 2014
fleurs, 2016
Pathos und Schwalbe, 2018
da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete, 2020

(Die Reden im Zusammenhang mit der Verleihung des Büchner-Preises an Friederike Mayröcker wurden aus dem Internet heruntergeladen. Die Zitate stammen aus diesen Downloads.)

Die Zitate von Ernst Jandl stammen aus:
Ernst Jandl: lechts und rinks, sammlung luchterhand, 1995, 2002