Wenn Historiker historisieren und sie selbst historisiert werden…
Lebensläufe west- und ostdeutscher Historiker
Von Franz Sz. Horváth
Dass Historiker gerne in die Vergangenheit zurückblicken, überrascht wohl niemanden wirklich. Unterziehen sie hingegen ihre eigene Vita einer selbstreflexiven Rückschau, erscheint dies für Außenstehende vielleicht skurril. Denn was kann ein Historikerleben schon Spannendes bieten außer der Beschreibung des Karriereweges, irgendwelcher Kontroversen und Forschungsstreits?
Wolfgang Hardtwigs In der Geschichte. Historiker in West und Ost 1964-2024 ist der zweite Band seiner Autobiographie. Hardtwig, Jahrgang 1944, durchlief eine allem Anschein nach reibungslose Universitätskarriere mit Studium in Basel und München, Promotion und Habilitation (bei Thomas Nipperdey) ebenfalls in München und ersten Professuren in Erlangen und Atlanta. Schließlich wurde er kurze Zeit nach der Wiedervereinigung 1991 zu einem der ersten Neuberufenen an der Humboldt-Universität in Berlin, zu deren Neuaufbau er in den 1990er Jahren durch die Mitarbeit in unterschiedlichen Gremien Wesentliches beigetragen hat. Eine typisch graue, westdeutsche Universitätskarriere eines Sohnes aus gutem Hause? Es wäre zu einfach, die Autobiographie so abzutun. Wolfgang Hardtwigs Schreibstil und seine selbstreflexive Art, die eigene Position in der jeweiligen Konstellation zu thematisieren oder teilweise zu hinterfragen, machen sein Buch zu einem Leseerlebnis. Hierzu tragen die mitunter eingestreuten Kurzporträts über Reinhart Koselleck, Thomas Nipperdey oder Hermann Lübbe bei, vor allem aber die Beschreibung seiner Berliner Jahre. In manchen Passagen scheint der Historiker als Ethnologe durch, so wenn Hardtwig das Straßenbild der Hauptstadt Anfang der 1990er Jahre beschreibt, die Menschen auf den Straßen, den allmählichen Wandel einer Stadtgesellschaft. Insbesondere beeindrucken die Kapitel über die Etablierung (westdeutscher) wissenschaftlicher Standards an der Universität, über den Umgang mit den teils altgedienten, dogmatischen und verbitterten ostdeutschen Historikern, die Charakterisierung dieser sowie die Beschreibung der Unterschiede zwischen Studenten west- und ostdeutscher Herkunft. Seinen eigenen Umgang mit den ostdeutschen Kollegen sieht Hardtwig durchaus kritisch: So etwa das Schweigen, das zwischen ihm und so manchen Kollegen, die mit der Bewältigung der eigenen Lage beschäftigt waren, vorherrschte. Hardtwigs Autobiographie ist natürlich eine Intellektuellenbiographie und ein ganz besonderer Blick zurück auf ein langes Forscherleben. Seine Interessensgebiete (Begriffsgeschichte, Geschichte des 19. Jahrhunderts, Kunst- und Kulturgeschichte) werden zwar immer wieder thematisiert, mitunter auch die Herkunft der jeweiligen Aufmerksamkeit für ein Thema, und auch Meinungsaustausche mit Kollegen kommen zur Sprache. Doch nie nehmen die eigenen Steckenpferde so viel Platz ein, dass sie den Leser langweilen würden. Im Gegenteil, Hardtwigs Erinnerungen stellen die spannende und uneingeschränkt empfehlenswerte, notwendigerweise persönliche Perspektive eines Historikers auf die Entwicklungen der deutschen Universitätslandschaft dar, deren neuesten Auswüchsen der Autor ziemlich kritisch gegenübersteht.
Hardtwigs Perspektive muss natürlich kontrastiert werden, damit die von ihm geschilderten Situationen, Personen und Konstellationen auch in einem anderen Licht betrachtet werden können. Der von Christof Dippers und Heinz Duchhardt herausgegebene Sammelband Generation im Aufbruch versammelt 29 autobiographische Selbstporträts der zwischen 1933-1943 geborenen westdeutschen Historikergeneration. Dem Vorwort der beiden Herausgeber kann der Leser bereits erste verallgemeinernde Hinweise auf Gemeinsamkeiten, Fehlstellen und Lücken der Lebensläufe entnehmen. Die Abwicklung der ostdeutschen Historiker nach der Wende wird hierbei durch den auch von Hardtwig erwähnten Günter Vogler thematisiert, dessen Beitrag zugleich die Schwäche solcher Texte offenbart – sschreibt doch Vogler mit keinem Wort von seiner inoffiziellen Mitarbeit für die Stasi, die ihm laut Hardtwig aber nach 1990 zum Verhängnis wurde. Voglers Selbstporträt verdeutlicht, dass sich der Wert der Texte in diesem Sammelband vor allem zusammen offenbart, wenn sie trotz ihrer Vielfalt als eine Einheit gelesen werden. Sie ergeben dann einen Beitrag zur bundesdeutschen Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, verdeutlichen Netzwerke und Beziehungen und eine recht überraschende Ähnlichkeit der Lebensläufe. Unter den Autoren (nur zwei Historikerinnen sind nämlich vertreten: Adelheid von Saldern und Gisela Bock) findet man eine Reihe von aus der Presse, den Medien und historischen Dokumentationen bekannte Namen (Heinrich August Winkler, Jürgen Kocka, Wolfgang Benz), aber auch Kultur- und Althistoriker (Wolfgang Reinhard, Alexander Demandt), Mediävisten (Arnold Esch), Osteuropahistoriker (Norbert Angermann) und Fachdidaktiker (Jörn Rüsen), deren Namen vielleicht eher einem kleinen Kreis von Spezialisten bekannt sind. In ihren autobiographischen Texten setzen alle Personen, obwohl ihnen von den Herausgebern einige Themen vorgegeben wurden, andere Akzente: Manche gehen streng biografisch vor, andere theoretisieren eher oder beziehen sich konkret auf eigene Quellen. Erstaunlich ist, wie wenig in den Selbstauskünften von biografischen Zufällen die Rede ist. Dast scheint es, als sei der jeweilige Werdegang naturgewollt. Dabei war diese „Generation im Aufbruch“ wohl eher eine im Glück, denn beinahe alle Karrieren starteten Ende der 1950er Jahre (oder nahmen in den 1960ern an Fahrt auf) im Kontext einer einmaligen wirtschaftlichen Prosperität, unter dem Zeichen des Abschieds von der althergebrachten Ordinarienuniversität und in einer Zeit des Ausbaus der deutschen Universitätslandschaft fiel (mit all den damit einhergehenden Berufschancen). Die meisten Autoren entstammten allerdings Intellektuellenfamilien, soziale Aufsteiger waren die wenigsten. Selten daher das Bewusstsein für den Ausnahmecharakter der eigenen damaligen Lage (so zum Beispiel bei Demandt). Kritisches, Selbstkritisches und Selbstrevision findet der Leser in den Texten daher kaum, dafür mitunter überraschende Informationen darüber, wer wessen Doktorand (oder Doktorvater) war, wer wen verhindern wollte und Intrigen spann und so weiter. Winkler und Rüsen fokussieren sich in ihren Texten vor allem auf Fachliches und geben (wie die meisten Autoren) eher wenig Persönliches preis. Auch der Zusammenhang Beruf und Familie wird selten thematisiert. Hier stechen vor allem Rüsen und Werner Eck hervor, die kurz von ihren Frauen erzählen, während Adelheid von Saldern in ihrem Beitrag mehrfach von den Kindern spricht, die Doppelbelastung Karriere und Familie benennt und auf die Abwehrkämpfe ihrer Kollegen gegenüber neuen Themen verweist. Selbstlob und teils sonderbare Selbststilisierung findet sich in manchen Selbstporträts ebenfalls (Angermann: „Sonderweg“; Reinhard: „Querkopf“), je nach Temperament des Autors mehr oder weniger (sympathische) Angeberei. Es wäre selbstverständlich ein Leichtes, dem Band bzw. den Herausgebern einige Mängel der Beiträge, der Auswahl der Personen (Dominanz der Sozialgeschichte) uvorzuwerfen, aber damit verfehlte man die Zielsetzung des Buchs: Es bietet ein buntes, außerordentlich spannend lesbares Prisma an Lebensläufen teils prominenter Historiker. All jenen, die sich für Intellektuellenbiographien interessieren, aber auch jenen, die eine wissenschaftliche Karriere in einer Geistes- oder Gesellschaftswissenschaft anstreben, sei der Band empfohlen.
Zu den gängigsten Diffamierungen, die sich Historiker gerade im Zeitalter der Massenmedien anhören müssen, gehört, sie seien Propagandisten von Staatsideologien. Dass Geschichte nur allzu oft als Legitimationswissenschaft missbraucht wurde, ist unbestritten. Die mit DDR-Geschichtsfachdidaktikern Ende der 1990er Jahre von Marko Demantowsky geführten Interviews bestätigen die im Buchtitel eindeutige Kennzeichnung der Interviewten als „DDR-Geschichtspropagandisten“. Wenn bereits die Biographien der doch anerkannten und bekannten westdeutschen Koryphäen vorrangig für ihre Kollegen von Interesse sind, so muss zu den Protagonisten von Demantowskys Sammelband eindeutig festgestellt werden, dass der Kreis jener Personen, die mit den Namen solcher marxistischer Fachdidaktiker wie Helmut Scheibner, Ehrenfried Schenderlein, Sigrid Kretschel oder Heinrich Rühmann etwas anfangen können, noch viel kleiner ist. Liest man die hier gebotenen Interviews durch, verdient der Leser bereits wegen der erduldeten öden, langweiligen und drögen Selbstdarstellungen eine Auszeichnung. Diagnostizierte der Rezensent bereits bezüglich der westdeutschen Autobiographien die fehlende Selbstkritik, so tritt dieser Mangel bei den allermeisten der 17 Interviewten in diesem Band noch potenzierter auf. Die Ausführungen sind zumeist sehr formal und beschränken sich auf den Werdegang, doch inhaltlich-ideologische Aussagen werden selten getroffen. Dies ist allerdings auch bedingt durch die Art der Gesprächsführung, die man nur allzu oft als unbedarft und unkritisch bezeichnen muss. Selbst bei hochproblematischen Aussagen bleiben Nachfragen aus, so wenn Helmut Scheibner die Ereignisse des 17. Juni 1953 als „eine von außen organisierte Entwicklung“ bezeichnet (54) und seinen Stolz bekundet, dass in seiner Heimatregion damals alles ruhig geblieben sei. Selbstverständlich bestand die DDR-Fachdidaktik „auf der Grundlage des dialektischen und historischen Materialismus“: Eine Grundlage, die Martin Richter auch 1999 nicht zu hinterfragen vermag. Kuno Radtke spricht zwar von einer Verbiegung der Realität, doch setzt er das Wort „Verbiegen“ in Anführungszeichen. Nach so viel Unbelehrbarkeit, Sturheit und ideologischer Verbohrtheit ist der Leser Herausgeber Demantowsky dankbar, dass er in seinem Nachwort die richtigen Worte der Kritik an seinen einstigen Interviewpartnern findet, die nach eigenem Bekunden und Darstellung wohl meinten, alles richtig gemacht zu haben. Mitnichten war das der Fall, doch die immense Energie, selbstkritisch nach dem eigenen ideologischen Anteil am Unrecht der ostdeutschen Diktatur zu fragen, brachten diese Didaktiker leider nicht auf. Und sie haben damit wohl jedes Recht verspielt, weiterhin als Intellektuelle wahrgenommen und bezeichnet zu werden; ihr Werk und sie selbst dürften wohl zu einer unbedeutenden Fußnote in der Geschichte der deutschen Geschichtswissenschaft herabsinken.
![]() | ||||||
|
||||||
![]() |