Eine Frau mit vielen Leben

Mit „Verkin“ legt David Wagner das Romanporträt einer starken Frau vor

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Katze vom in Ostanatolien gelegenen Vansee sorgt für die Begegnung zwischen dem Schriftsteller David Wagner und einer türkisch-armenischen Frau namens Verkin. Sie hat das Tier nach Berlin geschmuggelt. Er war dabei, als es mit einem Fest willkommen geheißen wurde. Weil er gerade ein Buch über die wie Pilze aus dem Boden schießenden Istanbuler Shopping-Malls schreiben will, führt ihn sein Weg kurz darauf an den Bosporus. Das Paket mit deutschen Wurstspezialitäten – „Leberwurst Pfälzer Art, Hausmacher Leberwurst, Mettwurst und Blutwürste vom Blutwurst-Weltmeister aus Berlin-Neukölln“ –, welches ihrem „Wurstboten“ die neuen Besitzer der Vankatze als Dankeschön für Verkin mit auf den Weg gegeben haben, lässt ihn erneut mit der Katzenschmugglerin zusammentreffen. Und je faszinierter er bei ihren nächsten Begegnungen und gemeinsamen Unternehmungen von ihr und ihren Erzählungen ist, umso mehr rückt sein Shopping-Mall-Projekt zunächst einmal zugunsten des Porträts dieser weltläufigen, umtriebigen und gebildeten Frau in den Hintergrund.

Verkin ist David Wagners dritter Roman – ein Buch, das nicht geplant war, sondern ihm erzählend zugetragen wurde. „Sage mir, Muse, die Taten der vielgewanderten Frau,/ Welche so weit geirrt …“, lässt er es mit einem schelmischen Anklang an Homers Odyssee in der deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voß (1751 – 1826) beginnen. Um dann in einem Prolog und 21 Kapiteln – die sämtlich eine Ortsbezeichnung im Titel tragen um dann, ehe der Text einsetzt, stichpunktartig auf das vorauszuschauen, was Leserinnen und Leser im Folgenden erwartet – wiederzugeben, was ihm Verkin anlässlich gemeinsamer Essen, Gespräche und Reisen erzählte.

Reisen, die zuletzt tatsächlich bis zu jenem sagenumwobenen Vansee im anatolischen Hochland der Türkei führen, an dem die nach Deutschland mitgebrachte Katze mit ihren verschiedenfarbigen Augen, von denen das eine an den Himmel über dem See, das andere an die „Erde Persarmeniens“ erinnert, ursprünglich lebte – „eine Gegend, die Tausende von Jahren von Armeniern besiedelt gewesen sei“, bis diese Anfang des 20. Jahrhunderts umgebracht oder vertrieben wurden.

Ihren Anfang nimmt die Reise der beiden im Laufe ihrer Bekanntschaft miteinander immer vertrauter werdenden Protagonisten, des Mittvierzigers aus Berlin und der ein Jahr nach dem Zweiten Weltkrieg geborenen türkischen Armenierin, aber in Istanbul. In ihrem prächtigen Anwesen auf einer kleinen Anhöhe über dem Bosporus, in dem die Tochter des Mannes, der mit seinem Elektrounternehmen dafür sorgte, dass „auch im hintersten Anatolien Glühbirnen leuchten“ konnten, zusammen mit ihrer Assistentin und einem Hund residiert und Freunde, Geschäfts- und politische Partner empfängt. Hier erfährt der deutsche Gast nach und nach die ganze Geschichte dieser faszinierenden Frau. Und die hört sich in der Tat so an, als hätte Verkin in den sieben Jahrzehnten ihrer bisherigen irdischen Existenz weitaus mehr als nur ein Leben gelebt.

Es ist nicht nur die orientalisch bunte Geschichte einer Frau, der man, vielleicht weil sie so ausschweifend, scheherazadisch raffiniert und detailverliebt erzählt, nicht unbedingt alles glauben kann, sondern die eines ganzen Jahrhunderts, die sich vor dem staunend lauschenden und die Erzählende nur selten mit wissbegierigen Zwischenfragen ausbremsenden deutschen Zuhörer entfaltet. Dabei erzählt Verkin alles andere als chronologisch. Und so ist auch keine Romanbiographie, sondern ein Romanporträt entstanden, mehr Collage als realistisches Lebensbild, ein Flickenteppich biographischer Episoden, etwas, das, wie David Wagner allmählich begreift, gar nicht so unähnlich dem ist, weshalb er ursprünglich nach Istanbul gekommen war: jenen um die hundert thematischen Einkaufstempeln, von denen jeder einzelne um ein bestimmtes Thema kreist.

Verkins Thema freilich ist sie selbst. Immer wieder angestachelt von ihrem Gesprächspartner – „Das ist deine Schuld, David, dass sie plötzlich anklopfen“, heißt es, sich auf die Schatten der Vergangenheit beziehend, an einer Stelle – erzählt sie von ihren Männern, ihren Ahnen, ihren Begegnungen in aller Welt, dem Leid, das den Armeniern einst widerfuhr, und den Kämpfen, die es noch heute auszutragen gilt, will man als Angehörige dieser Volksgruppe in der modernen Türkei bestehen.

An gut ein Dutzend Männer – darunter zwei deutsche –, die in ihrem Leben eine mehr als ephemere Rolle spielten, kann sie sich erinnern. Begegnungen mit John Lennon und Yoko Ono, Angela Davis, die ihr die Zubereitung von „Black Panther Chili con Carne“ beibringt, und Jimi Hendrix, dem sie bei New Yorker Freunden begegnet, gehören wie selbstverständlich zu ihrer Biographie dazu. Mit ihrem Reichtum protzenden türkischen Waffenhändlern ist sie genauso gegenübergestanden wie Dichtern der Neuen Frankfurter Schule. Beim späteren Papst Johannes XXIII. hat sie als Kind auf dem Schoß gesessen, als der noch Giuseppe Roncalli hieß und apostolischer Legat in Konstantinopel war. Die 1968er Studentenunruhen erlebte sie vor Ort in Paris und als sich in den 70er Jahren in New York eine neue, schillernde Kunstszene entwickelte, war sie selbstverständlich mittendrin. It-Girl, politische Aktivistin, Kosmopolitin, eiskalte Geschäftsfrau – Verkin hat von allem etwas, vor allem aber viel Liebe zum Leben und den Überraschungen, die es an jeder Ecke für den bereithält, der bereit ist, sich darauf einzulassen.

Und natürlich hält Verkin auch mit ihren ganz eigenen Meinungen zu Deutschland und den Deutschen nicht hinter den Berg. Letztere sind für sie entweder „Krieger, Denker, Dichter, Ingenieure oder Mörder“. Ein Talent zur Dekadenz traut sie ihnen nicht zu. Ebensowenig einen Umgang mit dem „moralischen Totalbankrott Deutschlands“ in der Zeit des Faschismus, der den Namen einer schuldbasierten Bewältigung verdienen würde. Als Geschäftsfrau hat sie mit ostdeutschen Firmen verhandelt. Als Privatperson war sie Männern zusammen – ihr zweiter deutscher Kurzzeit-Partner, Reinhart, „ein Schriftsteller und Kommunist, der sich aus Solidarität mit der Arbeiterklasse weigerte, in ein Taxi zu steigen“, erwies sich letztlich dank seiner moralischen Überzeugungen als ungeeignet fürs Jetset-Leben. Diese repräsentierten für sie dieses Deutschland , das sich einerseits an seinen „Wiederaufbau- und Wirtschaftswundergeschichten“ ergötzte, andererseits aber auch dabei war, den Mantel des Schweigens über seine unrühmliche Vergangenheit zu breiten.      

Mit Verkin hat David Wagner einen Roman vorgelegt, der sich aus Dutzenden von Erzählsplittern zusammensetzt. Er nimmt seine Leserinnen und Leser mit in eine Welt und zu einer Frau, die uns zur gleichen Zeit real, ein bisschen exotisch und – bei aller punktuellen Fremdheit – doch auch menschlich vertraut vorkommen. Seine Hauptfigur ist nicht frei von Widersprüchen. Als Armenierin, der das Schicksal ihres Volkes im Osmanischen Reich bewusst ist, ist es doch auch ein Teil des Schicksals der Familie, der sie entstammt, kämpft sie andererseits als Politikerin und demokratisch gewähltes Stadtteiloberhaupt (Muchtar) an der Seite der türkischen Präsidentengattin für Ziele der AKP. Türkischem Alltagsrassismus begegnet sie mit der überlegenem Haltung ihrer Klasse und dem Wissen, was Armenier alles für die moderne Türkei geleistet haben und weiterhin leisten. Als Geschäftsfrau kann sie unerbittlich sein, als Liebende und Mutter so streng wie gerecht. Alles in allem eine bemerkenswerte Frau, die mehr als ein Leben gelebt hat. Und deren Lebensweg nachzuzeichnen man vielleicht das voransetzen sollte, was sie selbst bei einer Gelegenheit fast am Anfang von David Wagners Buch ihrem Zuhörer gegenüber äußert: „Willkommen im türkischen Surrealismus …“.          

Titelbild

David Wagner: Verkin.
Roman.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024.
400 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783498002244

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