Zwischen Markt und Kunstautonomie
Der Briefwechsel zwischen Wilhelm Raabe und dem Verlagshaus Westermann wurde erstmals vollständig herausgegeben
Von Martin Ernst
Im Vergleich zu anderen Autoren des Realismus wie Theodor Fontane oder Theodor Storm ist das Briefwerk Wilhelm Raabes erst ansatzweise und noch lange nicht systematisch erschlossen. Das im Metzler-Verlag erscheinende Raabe-Handbuch nannte die Lage zur editorischen Verfügbarkeit der Korrespondenz 2016 noch „desolat“. Und wo bei Fontane und Storm der Briefverkehr und die Beziehungen mit ihren diversen Verlegern schon längst ediert, herausgegeben und erforscht wurden, stellt dies in der Raabe-Forschung schon seit langem ein Desiderat dar.
Die Göttinger Germanistin Anne Peters hat 2022 bereits den Briefwechsel zwischen dem Verleger George Westermann und Theodor Storm im Erich Schmid-Verlag herausgegeben; 2023 hat sie mit der Korrespondenz zwischen dem Verlagshaus Westermann und Raabe bei Wallstein nachgelegt. Das ist naheliegend: Das Verlagshaus Westermann bildete eine der frühesten und prägendsten Verlegerbeziehung im Leben des Berufsautors und veröffentlichte zeitlebens die meisten Neuerscheinungen (27). Beide Namen blieben in der interessierten Öffentlichkeit lange verbunden. Anders als Storm jedoch korrespondierte Raabe mehr mit dessen Schriftleiter Adolf Glaser, als mit Westermann direkt.
Das Prinzip Vollständigkeit
Da die Briefe mit Westermann und Redakteuren (neben Glaser später auch dessen zeitweilige Nachfolger Gustav Karpeles und Friedrich Düsel oder der Prokurist Robert Brandt) in bisherigen Briefeditionen bisher nur auswahlhaft publiziert wurden, setzt der neue Briefband zuallererst auf das Prinzip der Vollständigkeit. William Webster stellte als Herausgeber der Briefe 1842-70 zwar fest, dass bisher „wichtige Verlagskorrespondenz deutlich unterrepräsentiert“ sei. Allerdings stehen in dem von ihm 2004 verantworteten Band vor allem die Briefe des jungen Raabe an seine Familie und die Familie Jensen im Vordergrund.
Auch in anderer editorischer Hinsicht will der Band neue Maßstäbe setzen: Unter Hinweis auf die „brieftheoretische Forschung“ will Peters ein weiteres Defizit früherer Editionen beheben und „die Stimmen beider Korrespondenzpartner gleichermaßen berücksichtigen.“ Tatsächlich war eine maßgebende Forschungsarbeit zu Raabes Verlegerbeziehungen wie die von Ulrike Koller 1994 gezwungen, die originalen Handschriften zu sichten und den Dialog ihrerseits zu rekonstruieren. In diesem Sinne wurde erstmals der gesamte Korrespondenzverlauf von 650 Dokumenten zwischen Raabe und dem Verlag Westermann rekonstruiert, von denen 304 überliefert sind. Lücken in der Dokumentation wurden im textkritischen Kommentar durch Tagebucheinträge und andere Briefquellen erschlossen.
Antagonismus von Dichter und Verleger
Was in der 1857 beginnenden Korrespondenz neben Formalia und Vertragswerk immer wieder sichtbar wird, sind die naturgemäß unterschiedlichen Motivationen, welche Westermann, den Unternehmer, und Raabe, den Poeten, antrieben. Am besten illustrieren dies die „Krisen“, zu denen es 1863 und 1869 zwischen Schriftsteller und Verlag kam, als Westermann bemerkte, dass Raabes angebotene Werke hinter dem ausgemachten Umfang zurückblieben.
Raabe reagierte jeweils äußerst verschnupft. Der Konflikt ist ein Beispiel für die entgegengesetzten Herangehensweisen; aber auch dafür, wie sensibel, geradezu idiosynkratisch Raabe auf unternehmerische Argumente reagierte – selbst, wenn sie ohne Druck formuliert waren. Wie Herausgeberin Peters schreibt, zeige der Briefwechsel auch Raabes „Eigenart […], jeglichen wirtschaftlichen Nöten zum Trotz einen Bruch mit dem Verleger zu riskieren, da er den Wert seines Werkes nach poetischen Gesichtspunkten […] bemessen wissen wollte“.
Dickens´sche Prinzipienreiter
Es ist bezeichnenderweise ein Brief des Westermann-Schriftleiters und Raabe-Freundes Alfred Glaser von 1863, welcher den Zwist Raabe gegenüber, der bis 1866 unter dem Pseudonym Jakob Corvinus firmierte, in einem literarischen Gleichnis erfasst. Der Schlichtungsversuch, in der Hoffnung formuliert, den von Raabe soeben verfassten Hungerpastor an Land zu ziehen, gehört zu den lesenwertesten Passagen:
Wäre ich ein großer Romanschriftsteller, so würde ich mir die Vorfälle Corvinus – Westermann nicht entgehen lassen und zwei recht Dickens’sche Gestalten hinstellen, von denen jede sagt: von meinen Bedingungen werde ich nicht abgehen, und wobei jeder etwas für den Andern eigentlich gar nichts wesentliches als Kernpunkt der Frage betrachtet. Wenn ich dann den Corvinus […] als einen gänzlich unkaufmännischen Menschen geschildert hätte, so würde ich bei Westermann an vielen Stellen zeigen, daß es ihm eigentlich auf eine etwas höhere Summe gar nicht ankommt. Das Ganze würde ich „Die Prinzipienreiter“ betiteln, und möglicherweise lachten alle Leute darüber. Die Getroffenen aber würden eher alles andere glauben, als daß sie getroffen wären.
Der Antagonismus zwischen Dichter und Verleger ist eine der Facetten, welche der Band inhaltlich freilegt. Eine andere, dass einige der wichtigsten poetologischen Äußerungen Raabes, der zeitlebens nie eine programmatische Dichtungstheorie formulierte und auch kein Freund des brieflichen Werkstattgesprächs war, im Dialog mit Glaser kontextualisiert werden. Glaser war seinerzeit selbst ein recht erfolgreicher Autor und bleibt in Kunstfragen die Raabe vertrautere, aber auch deutlich kritischere Stimme. Die Referenz auf Dickens ist nicht zufällig: Es ist vor allem der Briefverkehr mit ihm, aus dem ein literarisch-ästhetischer Diskurs herauszulesen ist.
Eine „wehmütige Saite“?
Als Beispiel lässt sich Raabes wohl am häufigsten zitierte Selbstbezeichnung anführen: die vom „deutschen Sitten-Schilderer“ in „epischer Rüstung“, die in kaum einer wissenschaftlichen Arbeit fehlt und gemeinhin als genuiner Ausdruck eines gewandelten künstlerischen Selbstverständnisses verstanden wird. Sie entstammt einem Antwortbrief vom 16. Februar 1866 auf ein Schreiben Glasers vom 5. Februar 1866. Glaser kommentiert den Wendepunkt in Raabes Werk Mitte der 1860er Jahre mit Blick auf die Novelle Gedelöcke und Raabes prominente, als poetologische Selbstreflexion formulierte Antwort ist nun im direkten Kommunikationskontext zu lesen:
Lieber Wilhelm!
[…] Wenn Du wieder eine dieser Geschichten fertig hast, so vergiß uns nicht. Ich habe mich s.Z. zu sehr in den eigenthümlichen Zauber der «Scheibenhart», «Junker von Denow», «Heiliger Born» u.s.w. eingelebt, um so ganz mit dieser neueren Gattung befriedigt zu sein – es fehlt die wehmütige Saite, die dein jungeselliges Herz damals aufgezogen hatte. Nichts destoweniger finde ich mich auch in das Neue und verkenne die Vorzüge nicht. […]
Lieber Adolf !
[…] Deine Bemerkungen über die Veränderung, die in meiner Schriftsteller-Anschauungsweise allmälig sich vollzieht, erkenne ich als begründet an; – man wird eben älter, und auch ich glaube, meine mehr lyrische Periode glücklich hinter mir zu haben. So putze ich denn meine epische Rüstung und gedencke als deutscher Sitten-Schilderer noch einen guten Kampf zu kämpfen. Es ist viel Lüge in unserer Literatur, und ich werde auch für mein armes Theil nach Kräften das meinige dazu thun, sie hereauszubringen; obgleich ich recht gut weiß, daß meine Lebensbehaglichkeit dabei nicht gewinnen wird. […]
„Ich liebe Raabe und Spielhagen“
Dass einige von Raabes wichtigsten werkbezogenen Kommentaren dem Dialog mit Glaser entstammen, lag wohl vor allem an der persönlichen Freundschaft, die beide lange verband. Von ihr legen vor allem Briefe aus dem Jahr 1878 ein Zeugnis ab, als Glaser wegen eines Homosexualitätskandals in Berlin und der folgenden gesellschaftlichen Ächtung zeitweilig aus der Redaktion ausschied. Raabes Briefe an ihn sind nicht überliefert, doch Glasers Dankschreiben aus diesem Jahr spricht für sich: „herzlichsten Dank für die treue Freundschaft, die du in diesem schweren Jahre mir bewiesen.“
In ästhetischen Fragen allerdings lagen Glaser, der stets das breite Publikum im Blick hatte, und der den Massengeschmack zunehmend meidende Autor immer weniger auf einer Linie. Die inhaltliche Entfremdung von 1866 findet in einem Brief von 1887 ihre Fortsetzung, in dem Glaser zwar Raabes Berliner Roman Im alten Eisen lobt, sich aber ebenso zu dessen Antipoden Spielhagen bekennt: „Ich bin darin ein Barbar. Ich liebe Raabe und Spielhagen; Andersen und Ibsen […] Mozart und Wagner. Kanns nun einmal nicht ändern!“ Wenn auch mit Augenzwinkern formuliert, wird hier der Dissens greifbar, der sich zwischen Raabes Schreibweise und den Verklärungsprinzipien des poetischen Realismus manifestiert hatte.
„Pfisters Mühle“ bringt das Ende
Zur Trennung kam es ohnehin schon vorher: 1884 endete die Beziehung nach rund dreißig Jahren. Grund ist die Ablehnung der mit naturalistischen Elementen gespickten Erzählung Pfisters Mühle. Da die Originalbriefe nicht mehr erhalten sind, informiert der an dieser Stelle zu lobende, ausführliche Stellenkommentar zu den Briefen unter Hinzuziehung anderer Briefquellen und Tagebucheinträgen darüber, dass ein sofortiger Abdruck im Mai 1884 abgelehnt wurde – und die Nachricht wohl von Glaser persönlich überbracht wurde. Ungefähr zwei Jahre später wird Raabe an Paul Heyse schreiben, der Verlag habe ihm damals erklärt, „das deutsche Publikum habe fürs Erste genug von mir.“
1888 kam es mit dem Lar nochmal zu einem gemeinsamen Projekt, welches dann aber doch den Endpunkt in der Beziehung bildet. Ein anderer Grund für den mitunter bitteren Beiklang der späten Briefe dürfte auch sein, dass es nie zu der von Raabe erhofften Gesamtausgabe kam – die gewährte Westermann zeitlebens einzig dem Konkurrenten Storm. Ein Brief vom Mai 1889 – es war zugleich der Beginn der in Deutschland einsetzenden Raabe-Renaissance – scheint einen Schlussstrich unter die Beziehung zu ziehen. Gegenüber Friedrich Westermann, der als Nachfolger seines 1879 verstorbenen Vaters fungierte, schrieb Raabe:
Nun scheinen aber endlich für mich die Jahre gekommen zu sein, um die Früchte einer Arbeit von mehr als inem Menschenalter zu reifen beginnen. Die Generation, die mit mir heraufgekommen ist, und wenig von mir wissen wollte, ist nicht mehr maaßgebend: ein neues Geschlecht ist herangewachsen; und ich erfahre es zu meiner Freude von Tag zu Tag mehr, daß das deutsche Volk sichendlich zu mir wendet. Ich habe jetzt die jüngere Welt für mich, und dieser jüngern Welt will ich jetzt auch meine älteren Bücher vorlegen. – Lange habe ich mich, offen gestanden, mit der Hoffnung getragen, daß Sie, geehrter Herr, vielleicht einmal den Wunsch haben könnten, mein Gesamtverleger zu werden […]
Auch klagt Raabe über die zu hohen Preise seiner Bücher. Wie der Kommentar erklärt, löst er sich mit billigeren Neuauflagen bei anderen Verlegern von Westermann und sieht darin auch den Grund für seine Wiederentdeckung. Der Kontakt zu Glaser und Westermann reißt nicht ab, beschränkt sich aber auf Formelles und Gratulationen zu den Jubiläen. Seine heute bekanntesten Romane Stopfkuchen und Die Akten des Vogelsangs, zu Lebzeiten unverstanden, aber heute der Stoff germanistischer Seminare, wird er beim Berliner Janke-Verlag herausbringen.
Neubewertung der Dichter-Verleger-Beziehung
Ein Briefwechsel, der vielfältig neues Material für die auch weiterhin blühende Raabe-Forschung sowie die wissenschaftliche Neubewertung der komplexen Dichter-Verleger-Beziehungen oder der Kommerzialisierung des literarischen Marktes im 19. Jahrhundert beisteuert. Ein beredtes Zeugnis deutscher Briefkultur aus der Epoche des Realismus ist er allemal.
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