Das Abenteuer als zusammenhängendes Schreib- und Lektüreprogramm?
Heiko Christians Studie „Abschied vom Abenteuer” widmet sich (wieder einmal) den frühen Werken Ernst Jüngers
Von Martin Meier
Der Verlag bewirbt das neue Buch des in Potsdam lehrenden Literaturwissenschaftlers Heiko Christians mit einem gänzlich neuen Blick, den der Verfasser auf das Werk des Schriftstellers Ernst Jünger werfe. Zentrale Kategorie dessen Schaffens sei das Abenteuer, das nun auch Christians ins Zentrum seines Werkes stelle. Selten dürfte dem Leser ein Buch unter die Hände geraten, dessen Inhalt sich vom Klappentext derart unterscheidet.
Christians Ansatz ist in der Tat eigentümlich, betrachtet er Jüngers Wirken doch im Kontext seiner Lektüren. In zehn Kapiteln bemüht er sich um Annäherung an einen Autor, dem selbst jeder Tag ohne Lektüre als verschwendeter galt und der nach wie vor begeisterte wie kritische Leser findet; einem geistigen Arbeiter, dessen literaturwissenschaftliche Rezeption geeignet ist, Bibliotheken zu füllen. Dem jungen, dem Abenteuer verpflichteten Soldaten, dem reifenden Expressionisten, dem national-revolutionären Literaten, dem Flaneur und Philosophen – dem Christians zuschreibt, physiognomisch zu argumentieren –, dem Kulturkritiker und schließlich dem Romancier widmen sich die einzelnen Abschnitte.
Eingangs beschreibt Christians die Erfahrungen seiner persönlichen Jüngerlektüre. Diese Passagen sind flüssig geschrieben und versetzen den Leser in die eigene Erfahrungswelt. Dezidiert verweist Christians darauf, eigentlich kein wissenschaftlicher Jüngerkenner zu sein, sondern einfach ein eifriger Leser des „Jahrhundertautors“. Dies weckt Interesse. Der Zugang, den Christians dann jedoch wählt, ist schwere, ja angesichts des einleitenden Abschnittes, kaum zu erwartende Kost. Seine Ausführungen berühren bisweilen Jüngers Biographie und Schaffen im eigentlichen Sinne, schweifen dann jedoch oft wieder derart weit ab, dass nur der eingefleischte Jüngerkenner den biographischen Kontext zu erkennen vermag. So stellt der Verfasser beispielsweise anfänglich Parallelen zu Leben und Werk Lawrence von Arabiens her. Jüngers Werk aber ist kaum vergleichbar mit dem des ichgetriebenen englischen Offiziers, der seine Existenz literarisch auszudrücken wünschte – wie im ersten Kapitel beschrieben. Gleichwohl verbinden ähnliche Handlungsmuster beide Männer: Etwa das des unbeabsichtigt in Gefahr und Bewährung geratenen Draufgängers, der erst im Zuge der Gefahr seine eigene Bestimmung verwirklicht sieht, ja sie erst entdeckt. Lawrence‘ Blick ist geschult an klassischer Literatur, die er zu übertrumpfen trachtete. Jünger schöpft zwar aus den gleichen Quellen, ohne jedoch literarisch derart von Ruhmsucht getrieben zu sein. Es sind diese Momente der Lektüre des Buches, die den Widerspruch des Lesers herausfordern und dadurch durchaus anregend wirken. Lawrence ist nur Krieger und Literat, diese beiden Felder zeichnen ihn aus. Um wie viel weiter gefasst ist der Horizont Ernst Jüngers? Mit der europäischen Literatur vertraut, naturwissenschaftlich gebildet, philosophisch schreibend und als Entomologe wirkend, zeichnete er sich auf dem Schlachtfeld ebenso aus wie in der Literatur.
Christians Versuch im zweiten Kapitel, einen Vergleich des „Abenteuerlichen Herzens“ mit anderen die „Herz-Metapher“ nutzenden Werken (50) wie Joseph Conrads Herz der Finsternis vorzunehmen, hätte ebenso wie das Lawrence-Kapitel als gesonderter Essay in einem Sammelband erscheinen können. Und in der Tat fußt das Buch überwiegend auf bereits an verschiedenen Orten erschienenen Beiträgen. Basiert der Lawrence-Abschnitt etwa auf einem 2004 publizierten Zeitschriftenaufsatz, so fußt das dritte Kapitel auf einem Abschnitt der Dissertation des Verfassers. Dementsprechend ist ein roter Faden der Darstellung nur schwer erkennbar.
Zeigt Christians im zweiten Kapitel das Verhältnis zwischen Lektüre und eigenem Schreiben, das der Vermittlung eines Selbstbildes dient, so hebt er im dritten Kapitel die enge Verbundenheit Jüngers mit dem Bruder Friedrich Georg hervor. Erkennbar verflochten sind beide Abschnitte nicht. Die Brüder Jünger befanden sich, so Christians, in den 1920er und 30er Jahren in einem „Radikalisierungswettbewerb“. Der Abschnitt gehört zu jenen Passagen, die konkreter auf Jünger bezogen sind. Friedrich Georg verfasste in den späten 1920er Jahren Texte, die an Radikalität und zynischer Inhumanität kaum zu überbieten sind. Um dies zu verdeutlichen, sei zunächst aus dem Original Der Dreikanter zitiert:
Endlich: wäre es nicht ein furchtbarer Gedanke, die Demokraten mit Knüppeln totschlagen zu müssen? Wohin sollen solch fruchtlose Anstrengungen führen. Die wachsende Ökonomie des modernen Lebens verlangt Präzisionsinstrumente der Vernichtung. So erscheint es denn notwendig den Gaskrieg zu studieren und zur Entfaltung zu bringen. Der Geschmack der Zeit wünscht von der Humanität der Gase eine Überzeugung zu gewinnen. Ein verdorbener Geschmack, aber die Spezialisten tun ihr Mögliches.
Es mache die Lektüre unerträglich zu wissen, dass etwa 15 Jahre später Menschen massenweise tatsächlich vergast wurden, erklärt Christians. Hierzu ist zu sagen, dass Friedrich Georg Bezug auf eine ausufernde Debatte, die auch öffentlich in der Zeit nach dem Weltkrieg geführt wurde, nimmt, ob der Einsatz chemischer Waffen nicht humaner sei, als die Tötung mit konventionellen Waffen. Und so argumentierten Personen wie etwa Berthold von Deimling, der Führer des SPD-Kampfbundes „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“, der selbst den Einsatz 1915 in Ypern mit veranlasst hatte auf diese inhumane Weise. Jünger spricht in seiner zynischen Bemerkung vom „Geschmack der Zeit“ und nennt diesen einen „verdorbenen“. Vielleicht wäre durchaus eine historische Einordnung möglich gewesen. Allerdings steht Christians nicht alleine mit seinem Urteil. Nicht nur der von ihm ständig zitierte Ulrich Fröschle, sondern auch Friedrich Georgs Biograph Andreas Geyer nennt den Dreikanter die verstörendste Veröffentlichung Jüngers und die zitierten Zeilen seien angetan, die Beschäftigung mit dem Gesamtwerk zu verleiden.[1]
Jenes dritte Kapitel, das die Überschrift „Radikale Dioskuren“ trägt, verweist auf die Forschungen Fröschles und stellt den Versuch eines Vergleiches Ernst Jüngers mit Carl Schmitt und Martin Heidegger dar. Dieser ist sicher nicht sonderlich gelungen, werden die Texte der drei Autoren doch nur nebeneinandergestellt und ihr Bezug zueinander zwar behauptet, aber wenig belegt. Für sich genommen, enthalten auch diese Passagen interessante Ausführungen, man fragt sich aber nach dem Zusammenhang mit den Brüdern Jünger.
Unter der Überschrift „Neues Sehen und alte Physiognomik“ nähert sich Christians im fünften Kapitel Jüngers Arbeiter, ohne jedoch auf das Werk genauer einzugehen. Vielmehr zeigt er Grundzüge kritischer Zeitbetrachtung, die das Maskenhafte des Modernisierungsprozesses ebenso betonen wie den Geist der Zeit.
Die sozialen und ökonomischen Erscheinungen, die sich in der Physiognomik der Massen spiegelten, beschäftigten nicht nur Ernst Jünger, der im Einzelnen das Ganze zu erblicken vermochte und nach Übergeordnetem suchte. Dies zeigt auch Christians und verweist somit deutlich auf Jüngers stereoskopisches Verfahren, ohne dasselbe auch so zu benennen. Der „sachliche, präzise, disparate und dynamische Charakter technischer Abläufe steht“ für viele Beobachter, „in einer auffälligen Affinität zum Charakter des modernen Großstadtlebens selbst“. (149) Jünger, Benjamin und Nietzsche bezeichnet Christians als Kulturphysiognomiker, die in den maskenhaften Umbrüchen nicht nur eine „Übergangszeit“ (172) sahen. Jünger habe sich gegen die alte Physiognomik positioniert. Tatsächlich spricht der Autor in diesem Zusammenhang von einem „Kultus des Individuums“ (177). Christians mischt Zitate und Gedanken Novalis’, Nietzsches und anderer Autoren – ohne zu erklären, was diese mit Jüngers Werk gemein haben. Besonders nachdenklich stimmt der permanente Hinweis auf Simmel, den Jünger sicher kaum, wenn überhaupt, wahrgenommen hat. Christians behauptet das auch keineswegs, sondern verweist auf dessen Bedeutung für Kracauer und Benjamin. Diese wiederum verbinde mit Jünger, dass sie „auf jeweils verschiedene Weise Opponenten des akademischen Diskurses über Gesellschaft“ (182) gewesen seien. Mag sein. Aber inwiefern nahmen sie Einfluss auf Jünger? Hat er ihre Schriften rezipiert? Statt Antworten auf diese sich im Zuge der Lektüre aufdrängenden Fragen zu geben, geht Christians am Ende des Physiognomikabschnittes auf Jünger als Flaneur ein und wirft die Frage auf, ob Physiognomik nicht „eine Projektion ermüdeter Bibliotheksbenutzer“ sei (182).
Dem sechsten Kapitel „Landschaft als Gelände“, in dem Jüngers Blätter und Steine von 1934 thematisiert werden, stellt Christians das schöne und treffende Goethezitat voran „Ich suche das Göttliche in herbis et lapidibus“ (186). Insgesamt treten in diesem Kapitel die Bezüge zum Jüngerschen Werk wieder deutlicher zu Tage. Landschafts- und Naturbeobachtungen, die Jüngers Leben und Denken prägten, werden thematisiert. Die Interpretationen sind allerdings erneut bemerkenswert. Aus einer Begegnung mit Kroaten, die während eines Zechgelages einen erschossenen kroatischen Bauernführer erwähnen, wie Jünger sie in den Blättern und Steinen beschreibt, schließt Christians ohne den geringsten Beleg: „Er [der kroatische Bauernführer] dürfte die national-revolutionären Brüder an ihr Engagement für Claus Heim (1884-1964) und die Landvolkbewegung erinnert haben“. (193)
Das Kriegerische sei überall sichtbar und verdränge die Naturkunde, etwa wenn Schakal und Esel beobachtet werden. Die Geländebeschreibung gerät zur „reflexhaft anmutenden Sondierung des Geländes nach den militärisch-taktischen Sichtverhältnissen“ meint Christians, wenn er Jüngers Zeilen liest: „in einem großen, steinernen Blockhause, das sich am Rande des Fichtenwaldes inmitten der Einsamkeit erhob“ (195) habe man Rast gehalten.
Das Buch ist durchzogen von interessanten Bemerkungen zur Geistesgeschichte. Ein Beispiel hierfür stellt auch das siebente Kapitel dar. Hier wendet sich Christians dem mit Jünger eng befreundeten Philosophen Hugo Fischer zu und verweist eingangs auf die dürftige Forschungslage zu diesem merkwürdigen Autor. Er versucht die Arbeitsbeziehung beider Freunde zu verdeutlichen, geht aber erneut kaum auf Jünger ein, sondern schildert Methoden und Ansichten Fischers, ohne Bezüge in Jüngers Werk konkret durch den Anmerkungsapparat nachzuweisen. Beide hätten die hermeneutische Physiognomik essayistisch und publizistisch modernisiert. Sie hätten dabei der Oberfläche der Erscheinungen den Vorzug vor der Tiefe gegeben. Fischer wird zitiert mit: „jetzt, in diesem Augenblick, ist die Tiefe die einzige Gefahr und in die eine grenzenlose Oberfläche mit einzugehen, das einzige ernsthafte Ziel des Lebenswillens.“ „Eine angefaulte und abgestandene Innerlichkeit“ werde aus dem Menschen „herausmassiert“ (227). Das darauf folgende Jüngerzitat zeigt vielleicht ähnlichen Bezug, kann aber wohl kaum hinreichend die übereinstimmende Gedankenführung beider Autoren nachweisen. Damit sei nicht gesagt, dass Christians sich irre; allein es mangelt an nachdrücklichem Beleg. Ernst Jünger wird in diesem Kapitel dreimal zitiert, Hugo Fischer siebenundvierzigmal.
Erst im achten Kapitel wendet sich der Autor Jüngers Hang zur Abenteuerliteratur zu. Es verdeutlicht einmal mehr Christians Ansatz, Jüngers Lektüre essayistisch weitläufig einzubetten und dabei teilweise weit abzuschweifen. So stellt sich durchaus die Frage, inwiefern es von Relevanz ist, dass die Abenteuerliteratur erst ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu einer Massenerscheinung wurde und noch in Johann Gottfried Schnabels Inselutopie der „Wunderlichen Fata“ ein Abenteuerverbot für Neusiedler ausgesprochen wird. Jünger sei der einzige ihm bekannte Autor, der der Gefahr eine „eigenständige Abhandlung“ (246) gewidmet habe.
Der Techniker werde nicht zum Abenteurer, sondern der Abenteurer „modernisiert“, meint der Verfasser. Auf jenes achte Kapitel nimmt der Klappentext Bezug. Hier erklärt Christians das Abenteuer zum Schreibprogramm Jüngers. In seinem Werk pendle er zwischen den „Polen des neuen sachlichen-heroischen Abenteuers und der altern kolportagehaft-empfindsamen Abenteuerer von Sherlock Holmes bis Old Shatterhand“ (256).
Das Abenteuer „verbindet“ keineswegs die „biographische und ästhetische Ansicht“ Jüngers, wie der Klappentext es ausdrückt, sondern – wie Christians es im achten Kapitel zutreffend formuliert – zeigt sich im Werk des Literaten der Widerstand gegen eine zunehmende Ökonomisierung der Welt. „So kalt distanziert der Stil sein soll, wenn es um die Gefahr als kollektive Technisierung der Lebensräume geht […] werden ihr jedes Mal ein langer Waldgang, eine als grausam empfundene Eberjagd, eine subtile Jagd im Unterholz oder eine hölzerne Kinderzwille entgegengesetzt.“ (257) Abgesehen davon, dass Jüngers „Waldgang“ nicht das Wandern im Wald meint, trifft Christians hier sicher den Kern Jüngerschen Denkens.
Während im neunten Kapitel unter der Überschrift „Kulturkritik” als Rhetorik erneut die Bedeutung des Lesens, Exzerpierens, Ausziehens und Kompillierens, das dem emsigen Fleiße einer Mörtelbiene gleiche, gewidmet ist, wendet sich Christians im abschließenden zehnten Kapitel der Zwille zu, jenem Roman, in dem Jünger auf seine Schulzeit verweist und den jugendlichen Helden von banaler Lektüre zu literarischer Lektüre führt. Die Aktivität des Lesens sei Jünger wichtiger gewesen als die vita activa. Christians ist der Auffassung, man sollte das fleißige Mörtelbienchen als „Schnittpunkt von Gelehrsamkeit und Zeitdiagnostik“ ernst nehmen, um somit Jüngers Arbeit mit den Lektüreergebnissen zu beschreiben und sein Spätwerk, vor allem das Tagebuch, nicht als Chronik des 20. Jahrhunderts zu sehen, sondern als Lektüretagebuch. Jünger habe das Bild vom Mörtelbienchen dann in der Atlantischen Fahrt und später in den Gläsernen Bienen noch einmal aufgegriffen. Das feine Summen der Bienen erinnere Jünger an eine Unruhe, die überall auf der Erde zu fühlen sei.
Wenngleich der Autor eingangs betont, kein Jünger-Experte zu sein, setzen die Studien den eingefleischten Jünger-Leser voraus. Jünger bleibt in vielen Kapiteln, wie gezeigt, scheinbar Randfigur. Aber eben nur scheinbar. Der Jüngerleser erkennt die Bezüge, weiß um die Lektüren seines Autors. Er kennt die Bedeutung de Quincys, Hamanns, Rimbauds und Hugo Fischers für dessen Werk. Christians gelingt es so, ein Bild des Lesestoffs zu zeichnen, indem er wesentliche Bezüge zu Jüngers Schaffen herausarbeitet, ohne ständig explizit auf Textstellen bei Jünger zu verweisen. In den letzten drei Kapiteln bezieht Christians dieses Spätwerk zumindest am Rande in seine dem Band resümierende Betrachtungen ein.
Christians Studie widmet sich – wie die meisten jüngeren wissenschaftlichen Untersuchungen – also wieder einmal vor allem den frühen Werken Jüngers, sieht man einmal von der Zwille ab. Es sind gerade Schriften wie Sgraffiti, Subtile Jagden, Siebzig verweht, die den reifen Jünger als Meister der kurzen Form zeigen. Dass sein Text An der Zeitmauer kaum im Fokus wissenschaftlicher Betrachtung steht, ist umso bemerkenswerter, als dass Jünger dort das Anthropozän vordenkt. Ein philosophischer Text, von dem Hermann Hesse schrieb, es sei das Buch, das ihn überhaupt am meisten beschäftigt habe. Wann wird endlich der reife Jünger „entdeckt“?
[1] Andreas Geyer, Friedrich Georg Jünger. Werk und Leben, Wien, Leipzig 2007, S. 62 f.
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