Prächtige Neuausgabe
In der Typographischen Bibliothek erschien eine Auswahl aus Peter Altenbergs Textsammlung „Neues Altes“ aus dem Jahr 1911
Von Günter Rinke
Man muss kein Spezialist für Typographie und Buchkunst sein, um den jüngst erschienenen Band mit Texten des Wiener Originalgenies Peter Altenberg mit Vergnügen zur Hand zu nehmen und darin zu blättern. Auf dem heutigen schnelllebigen Buchmarkt wird es schwerfallen, Vergleichbares zu finden. Ein Buch, das nicht nur Text übermitteln, sondern durch die Schönheit seiner Gestalt bezaubern will. Ein Buch, das nicht nur zum Lesen anregen, sondern auch zum Schauen oder besser: Anschauen animieren will und dafür viel Raum lässt. Es ist bereits der einundzwanzigste Band in der zunächst vom Steidl Verlag, dann vom Wallstein Verlag und der Büchergilde Gutenberg herausgegebenen Reihe, in der laut Programm „bekannte und neu zu entdeckende Texte der Weltliteratur“ in exquisiter Ausstattung und besonderer typographischer Form erscheinen.
Auf die ausgewählten Texte aus dem ursprünglich 214 Seiten umfassenden Buch Neues Altes von 1911 folgen ein humorvoll geschriebenes Porträt Altenbergs von Alfred Polgar sowie der Essay „Schrift und Ornament“ von Klaus Detjen, in dem dieser seine Gestaltungsprinzipien erläutert:
Aus den Miniaturen von Peter Altenberg sind ausgewählte Wörter herausgenommen, die zu illustrativen Figuren werden, die Lettern bekommen hier einen bildähnlichen Charakter, da sie nicht mehr einer strengen Lesefolge nachgehen, sondern sie wollen betrachtet werden, dabei ist die Mittelachse in ihrer klassischen Anlage das tragende Muster dieser typographischen Architektur.
Die Bilder sind entweder aus den Buchstaben des jeweiligen Wortes zusammengesetzt und lassen sich oft von oben nach unten oder gegen den Uhrzeigersinn lesen; sie können das Wort auch verrätseln („Sammler“) oder zerpflücken: „AP: Persönlichkeit“ ist auf vier Seiten verteilt. Das Buch ist also weit mehr als eine Textsammlung, es ist ein Album.
Zugleich bietet es die Möglichkeit, sich mit der Persönlichkeit des kuriosen und auf seine Weise genialen Peter Altenberg bekannt zu machen. Als Neues Altes erschien, hatte er seine bekanntesten und bis heute lesenswerten Bücher Wie ich es sehe (1896) und Was der Tag mir zuträgt (1901) längst veröffentlicht. Sie erlebten immer neue Auflagen, waren also beim Publikum beliebt. Ihre Titel sind Programm, das scheinbar Beiläufige, zufällig Gesehene wird in Sprache verwandelt und dabei mit Bedeutung aufgeladen, wodurch die Zufälligkeit am Ende wieder in Frage steht. Im Zuge der Sinnstiftung kommt es oft zu Übertreibungen und unerwarteten Wendungen, die die Beobachtungen in ein neues Licht rücken. Sie verraten einen Gestaltungswillen, der das Etikett ‚impressionistisch‘, das den Texten oft angeheftet wird, fragwürdig erscheinen lassen.
Im vorliegenden Band sind in den Miniaturen über zwei Künstlerinnen der Zeit Selbstcharakterisierungen des Autors verborgen. Altenberg bewundert die Sängerin Yvette Guilbert, die er „das Wunder des Chansons“ nennt. Im Porträt dieser Dame stößt man auf den Satz: „Aus einem Nichts ein Alles machen, darin könnten alle von ihr lernen, wenn es erlernbar wäre.“ Und weil Altenberg das Französische liebt, folgt eine verknappte Umschreibung dieses Satzes in dieser Sprache: „Le minimum d’effort et le maximum d’effet“ sei „auch“ Guilberts Devise. Das „auch“ weist darauf hin, dass der Autor sich dies ebenfalls zum Programm gemacht hat: minimale Anstrengung, maximaler Effekt. Allerdings muss man das können, oder man kann es eben nicht. Erlernbar ist es nicht.
Das zweite Prinzip, an dem Altenberg sich orientierte, ist in der Skizze mit dem Titel „Tanz“ über die Tänzerin Elsa Wiesenthal enthalten. Sie hat ihn offenbar mehr beeindruckt als ihre berühmtere Schwester Grete, die durch Max Reinhardt bekannt wurde. Altenberg spricht sie direkt an: „Bringst du uns wieder Hoheit, Ruhe und Würde in deinem adeligen Tanzen?! Oder hast du dich vom ‚Geist‘ verführen lassen wie alle, die der geistvollen, geistleeren Herde sich verständlich machen wollen?!?“ Dem ‚Geist‘ zieht Altenberg die ‚Seele‘ vor. Ihr zuliebe verkündet er die „Botschaft eines von den geltenden Normen befreiten, naturhaften Lebens“, wie es Dagmar Lorenz formulierte. Entsprechend heißt der Untertitel eines Buchs von Gisela von Wysocki über den Dichter: Bilder und Geschichten des befreiten Lebens. Dass dieses befreite Leben oft nur auf Kosten anderer möglich war, das war Altenberg sehr wohl bewusst: Selbstironisch nannte er sich einen Schnorrer.
Sein Ideal, dem er bevorzugt im Kaffeehaus frönte, war ein Leben jenseits von bürgerlicher Geschäftigkeit und zweckgebundenem Handeln. Der Text, der dies am besten widerspiegelt, einer der schönsten der ganzen Sammlung, heißt „Sommerabend in Gmunden“. Er beginnt mit den Worten: „Wir, die nicht genug haben an den Taten des Alltages, wir Ungenügsamen der Seele…“ Es folgen wunderbare Impressionen von der Natur und vom Verhalten der Menschen, die er beobachtet. Altenberg war vielleicht seinem Selbstverständnis nach eher ein Prophet oder Verkünder als ein impressionistischer Künstler, dennoch gelangen ihm oft impressionistische Skizzen, die den intensiv erlebten Augenblick adeln. Es ist überraschend, wie oft und enthusiastisch Altenberg das Adjektiv „adelig“ verwendet – so auch in der Skizze über Elsa Wiesenthal oder in „Sommerabend in Gmunden“.
In dem Text „Über Lebensenergien“ nimmt die Überzeugung, dass das Leben zu bewahren und, mehr noch, zu kultivieren sei, eine programmatische Gestalt an. Am wichtigsten sei es, die Lebensenergie zu erhalten. Den besten Dienst erweise man seinem Mitmenschen, wenn man ihn dabei unterstütze, den schlechtesten, wenn man ihn durch Eifersucht, „Ungezogenheiten und Taktlosigkeiten“ dabei schwäche. Die Nähe zu lebensreformerischen Ideen wuchs sich in späteren Büchern Altenbergs zum Spleen aus, er verfasste Texte zur Diätetik und gesundheitsfördernden Kleidung, jedoch war ihm Selbstironie niemals fremd, wie auch die überraschende Schlusswendung von „Über Lebensenergien“ zeigt. Gefragt, weshalb er selbst seine Lehren (bezüglich eines gesunden Lebens) so wenig beherzige, antwortet er schlagfertig, es müsse schließlich verhindert werden, dass er weiter solche Bücher schreibe wie bisher.
Thematisch ist die vorliegende Auswahl weitgespannt, es geht um Persönlichkeiten (Goethe, Hamsun, Strindberg, die erwähnten Künstlerinnen), um Orte (Vöslau, Gmunden, den Trattnerhof), um Befindlichkeiten (darunter vor allem Krankheit, die Nerven) sowie um menschliche Beziehungen und (schlechte) Sitten, über die er meist vornehm hinweggeht. Eine Skizze heißt „Übers Schreiben“, sie preist das Schreiben als spontanen Vorgang und endet mit den Sätzen: „So rasch, so prompt muß man seine Menschlichkeiten ausschütten; denn später wird es eine fade Sauce! Daher die vielen faden Saucen – – –.“ Sicherlich darf man aber auch diese Aussage nicht ganz wörtlich nehmen.
Alfred Polgar bewunderte Altenberg offenbar ebenso wie Karl Kraus, der über ihn einmal schrieb: „Ihr seid Papier; er war ein Element.“ Polgars Altenberg-Porträt im Anhang zur Textsammlung liest sich wie eine Illustrierung dieser aphoristischen Kurzcharakteristik. Sie wird mit den Sätzen eröffnet: „In das manuskriptraschelnde Café Griensteidl kam er, mit wehender Pelerine, und hielt Reden über das Christentum. Zahlkellner Heinrich schwenkte das versoffene Haupt. Seine Macht war machtlos gegen dieses Gastes Tempo.“ Die Wirkung Altenbergs, wenn er einen Raum betrat, muss charismatisch gewesen sein. Durch seine Erscheinung und sein Gehabe wurde er zur Attraktion besonders für jüngere Literaten, während Ältere sich um Distanz bemühten, weil, so merkt Polgar bissig an, „dessen unproduktive Fülle ihre produktive Armut entschleierte“. Anscheinend war Altenberg eine Art lebendes Paradoxon und regte seine Bekannten zu paradoxen Aussagen über ihn an. Man liest Polgars Essay mit größtem Vergnügen, weil man spürt, wie der Essayist sich von seinem Gegenstand zu poetischen Höhenflügen animieren lässt, ohne vor Übertreibungen zurückzuschrecken. Dabei verschweigt er nicht, dass Altenberg auch „ein gewaltiger Narr“ war, von dem man sich nicht einschüchtern lassen musste.
Porträtfotos des älteren Peter Altenberg spiegeln nicht unbedingt das wider, was bei Polgar zu lesen ist. Man sieht einen ziemlich müde wirkenden alten Mann, der vom Leben nicht mehr viel zu erwarten scheint. Auf Fotografien aus jüngeren Jahren, etwa dem Porträt im Vorsatz von Was der Tag mir zuträgt, das ihn als typischen Bohemien mit weichem Hut, Kneifer und buschigem Schnurrbart zeigt, hat er etwas Dämonisches und zugleich Listiges. In einem weiteren Porträt-Essay zu Altenbergs zehntem Todestag schrieb Polgar: „Er konnte über nichts so gut aus tiefstem Herzen lachen, wie über sich selbst. Und nahm sich doch wahrhaftig heilig-ernst!“ Die vorliegende edle Ausgabe einer Auswahl seiner Texte, die er zuweilen auch „Studien“ nannte, gibt Gelegenheit, diesen Mann der Widersprüche kennen- und schätzen zu lernen.
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