Quantenphysik für Babys?
Über den Boom von Sachbüchern für Kinder seit der Jahrtausendwende
Von Elena Hoch
„Es ist niemals zu früh, ein Wissenschaftlicher zu werden!“, findet Chris Ferrie, Dozent am Zentrum für Quanteninformatik an der University of Technology in Sydney und Gründer der Sachbuchreihe Baby Universität (Original: Baby University). Mit bunten Bildern und wenig Text möchte der promovierte Physiker Wissen über Astrophysik, Elektromagnetismus und Co. schon an die Jüngsten vermitteln und Neugier für die Welt der Naturwissenschaften wecken. Seit 2017 sind in den USA 24 Bände dieser erfolgreichen Reihe erschienen, von denen bislang acht ins Deutsche übersetzt wurden.
Nicht nur naturwissenschaftliche Themen im Kinderbuchformat kommen gut bei Eltern und Kindern an: Der Markt für Kindersachbücher erlebt seit der Jahrtausendwende insgesamt einen regelrechten Boom. Ob Kunstrestauration, Schüchternheit oder Hausgeburten – es gibt inzwischen fast nichts, zu dem es kein Kindersachbuch gibt. Einige Themen stehen bereits seit mehreren Jahrzehnten im Fokus. Dazu gehören Natur, Tiere, Geschichte, Wissenschaft & Technik und Sport. Vergleichsweise neuere Themen, die besonders seit fünf bis zehn Jahren auffallend häufig in Sachbüchern verarbeitet werden, sind Umwelt(schutz), Klima(wandel), Umgang mit Gefühlen, Freundschaft, Tod, Behinderung und Rassismus.
Obwohl im Alltag oft klar zu sein scheint, was ein Sachbuch ist, gestaltet sich eine wissenschaftliche Definition überraschend schwierig. Meist wird das Sachbuch dadurch bestimmt, was es nicht ist: Es ist kein Fachbuch und auch kein Lehrbuch. Was macht ein Sachbuch aber noch aus? Im Kern ist es ein Werk, das einen bestimmten Aspekt der Welt – sei es Natur, Geschichte oder Technik – auf verständliche Weise darstellt, um den Leser:innen Wissen darüber zu vermitteln. Zentral ist dabei, dass sich ein Sachbuch nicht an Expert:innen, sondern an ein Laien-Publikum richtet und der Freizeitlektüre dient. Die Sprache ist entsprechend einfach, zugänglich und verzichtet in der Regel auf komplexe Fachbegriffe.
Speziell bei Kindersachbüchern kommt natürlich hinzu, dass sowohl die Sprache als auch die Darstellung der Inhalte an das junge Zielpublikum angepasst werden. Eine weitere Besonderheit des Kindersachbuchs ist, dass die Leser:innen häufig direkt angesprochen oder zu Handlungen aufgefordert werden. Hierfür beinhalten Bücher, gerade für jüngere Kinder, oft interaktive Bestandteile wie Klappen oder Fühlelemente. Zudem wird in Kindersachbüchern meist eine fiktive Figur eingesetzt, die die Kinder durch das Sachbuch führt und ihnen das Thema des Buches spielerisch näherbringt.
Seit wann gibt es aber überhaupt Sachbücher für Kinder? Die Geschichte des Kindersachbuchs reicht bis ins 17. Jahrhundert zurück. Als erstes Sachbuch für junge Leser:innen gilt der Orbis Pictus (eigentlich Orbis sensualium pictus, deutsch: Die sichtbare Welt) von Johann Amos Comenius. Dieses Werk war in zweierlei Hinsicht außergewöhnlich: Zum einen richtete es sich explizit an Kinder und das zu einer Zeit, als Kinderliteratur noch keine eigenständige Gattung war – diese entwickelte sich erst im 19. Jahrhundert. Zum anderen war es in deutscher Sprache verfasst, während faktuale Texte damals üblicherweise noch in Latein geschrieben wurden.
Comeniusʼ Buch fand große Verbreitung und über die Zeit zahlreiche Nachahmungen, weshalb es als ein wegweisendes Werk in der Geschichte des Kindersachbuchs gilt. Während der Orbis Pictus allerdings – wie typisch für die damalige Zeit – noch stark belehrend und didaktisch geschrieben war, ist der Ton von Kindersachbüchern in der Gegenwart deutlich anders. Heutige Kindersachbücher sind stärker darauf ausgerichtet, Wissen auf eine ansprechende und unterhaltsame Weise zu vermitteln.
Kindersachbücher wie wir sie heute kennen, entstanden erst nach 1945. Parallel zur englischen Bezeichnung ‚non-fiction‘ etablierte sich der Begriff ‚Sachbuch‘, geprägt durch die zunehmende Produktion von Titeln, die nicht der Belletristik zuzuordnen waren. Der Trend hin zu dieser neuen Gattung entstand maßgeblich in den USA und insbesondere durch die Einführung des Fernsehens in den 1940er Jahren. In Folge der veränderten Rezeptionsgewohnheiten der Kinder wurde die Textmenge in Sachbüchern erheblich reduziert und durch bunte, großflächige Illustrationen ergänzt, systematisch auf Doppelseiten arrangiert. Dieses Doppelseiten-Prinzip ist bis heute charakteristisch für Kindersachbücher. Auch Illustrationen (und Fotografien) spielen weiterhin eine wichtige Rolle.
In Deutschland war der Verlag Tessloff einer der ersten, der diesen Ansatz aufgriff: 1961 brachte er die ersten Titel der Reihe How and Why, auf Deutsch Was ist was, als Monatshefte heraus. Zwei Jahre später folgte mit Unsere Erde die erste Hardcover-Ausgabe – ein Bestseller bis heute. Mit diesem neuen Stil veränderten sich aber nicht nur Aufbau und Gestaltung des Sachbuchs, sondern auch die Zielgruppe: Erstmals rückten Vorschul- und Kindergartenkinder in den Fokus der Sachbuchproduktion. Inzwischen gibt es Sachbücher für nahezu jedes Alter.
In den vergangenen Jahrzehnten haben sich verschiedene Kindersachbuch-Typen herausgebildet, darunter das Bildersachbuch, das Sachbilderbuch und das Erzählsachbuch. Unterschieden wird auf dem Markt außerdem zwischen informierenden Sachbüchern und erzählenden Sachbüchern. Reihen wie Was ist was zählen zum Beispiel zur ersten Kategorie – hier stehen die vermittelten Informationen im Vordergrund. Es gibt in der Regel wenig Text und viele Bilder wie Illustrationen, Fotografien und Grafiken. Diese Bücher richten sich meist an ein eher jüngeres Lesepublikum. Erzählende Kindersachbücher hingegen werden für älteren Kinder und Jugendliche geschrieben. Wissen wird hier eingebettet in eine Geschichte vermittelt, es gibt einen Spannungsbogen und verschiedene Figuren. Meist steht eine Hauptfigur oder der:die Autor:in selbst im Zentrum der Geschichte. Im 2013 im österreichischen Leykam Verlag erschienen Kindersachbuch Faszination Qualle. Geheimnisvolle Schönheiten erzählt der Autor Michael Stavarič beispielsweise von seiner persönlichen Faszination für die mysteriösen Meeresbewohner und teilt mit seinem Publikum, neben Fakten über Quallen, wie er bei der Recherche für sein Buch vorgegangen ist.
Auffallend ist, dass Sachbüchern generell ausschließlich positive Attribute zugesprochen werden: Sachbücher – selbst jene für die Jüngsten, wie zum Beispiel Babybücher – fördern den Erkenntnisgewinn bei Kindern, wecken Neugier für und vermitteln Wissen über relevante Themen. Sie regen zudem zum Mitdenken an und bilden eine Basis für Freude an lebenslangem Lernen. Versprechungen wie diese finden sich auf Verlagswebsites ebenso wie in diversen Online-Foren und Blogs. Alle scheinen sich einig zu sein: Sachbücher haben das Potenzial, einen wesentlichen Beitrag zur Bildung und persönlichen Entwicklung eines Kindes zu leisten. Eine wissenschaftliche Überprüfung dieser Auffassung steht hingegen noch aus.
Sicher ist jedoch, dass der Kindersachbuchmarkt spätestens seit dem sogenannten PISA-Schock im Jahr 2000 stetig wächst. Kindersachbücher wurden von vielen als sinnvoller Teil der Bestrebungen betrachtet, die Qualität des deutschen Bildungssystems anzuheben. Besonders Eltern hofften, dass das Lesen von Sachbüchern dazu beitragen würde, Informationslücken zu schließen und die allgemeine Lektüreaktivität ihrer Kinder zu erhöhen. Unmengen neuer Sachbücher fluteten in der Folge den Markt und erzeugten zunehmend höhere Produktions- und Umsatzvolumen.
Die weiterhin schlechten Ergebnisse Deutschlands bei den PISA-Studien (zuletzt im Jahr 2022 – deutsche Schüler:innen schnitten so schlecht ab wie noch nie) zeigen, dass Kindersachbücher keineswegs das ausgleichen können, was in Schulen oder in der privaten Erziehung versäumt wird. Sind Sachbücher für Kinder also gar nicht so lehrreich, wie zumeist angenommen und ihre angeblichen Vorzüge nichts als hohle Werbesprüche?
Das zu behaupten, wäre wohl zu hart – und auch ungerecht. Denn Kindersachbücher haben nicht den Anspruch, systematische Defizite in Bildung und Erziehung auszugleichen. Darin liegt weder ihre Aufgabe noch ihr Wert. Vielmehr sollten sie als das geschätzt werden, was sie sind: Freizeitlektüren, die Kindern auf ansprechende Weise Wissen vermitteln, Neugier wecken und zum Nachdenken anregen.
Kindersachbücher bieten jungen Leser:innen (im Idealfall) spannende Einblicke in die unterschiedlichsten Themen, beantworten Fragen und laden dazu ein, die Welt aus neuen Perspektiven zu betrachten – ganz ohne Leistungsdruck. Sie sollen nicht das Lesenlernen, das Üben von Rechenfertigkeiten oder Prüfungsvorbereitungen ersetzen. Stattdessen ergänzen sie den schulischen Bildungsweg, indem sie Kinder dazu ermutigen, sich außerhalb des Unterrichts mit Inhalten zu beschäftigen, die sie wirklich interessieren.
Kindersachbücher boomen übrigens nicht nur in Deutschland, sondern weltweit – auch wenn sie im Vergleich zu fiktionalen Texten in der öffentlichen Wahrnehmung oft im Hintergrund stehen. Dabei verdienten sie weit mehr Aufmerksamkeit als ihnen bislang zuteil wird, denn sie leisten einen wichtigen Beitrag, der weit über die bloße Wissensvermittlung hinausgeht: Ob Naturwissenschaft und Technik (Wie funktioniert ein Radio?), gesellschaftliche und politische Themen (Warum gibt es Armut?) oder persönliche, emotionale Herausforderungen (Wie gehe ich mit Trauer um?) – Sachbücher bieten Kindern Orientierung und Antworten. Besonders in einer Zeit globaler Herausforderungen wie Klimawandel, Digitalisierung oder sozialer Ungleichheit können sie eine Schlüsselrolle spielen, indem sie komplexe Zusammenhänge auf verständliche und zugleich spannende Weise vermitteln. Dieses Potenzial verdient es, stärker in den Fokus der Öffentlichkeit zu rücken.
Verwendete Literatur
Oels, David: Wissen und Unterhaltung im Sachbuch. Oder: Warum es keine Germanistische Sachbuchforschung gibt und wie eine solche entstehen könnte. Hrg. vom Forschungsprojekt „Das populäre deutschsprachige Sachbuch im 20. Jahrhundert. Berlin/Hildesheim 2005.
Porombka, Stephan: Regelwissen und Weltwissen für die Jetztzeit. Die Funktionsleistungen der Sachliteratur. Hrg. vom Forschungsprojekt „Das populäre deutschsprachige Sachbuch im 20. Jahrhundert. Berlin/Hildesheim 2005.
Pohlmann, Carola: „Vom Eigen-Sinn der Bilder. Text-Bild-Relationen im Orbis sensualium pictus am Beispiel von Drucken aus drei Jahrhunderten“. In: BildWissen – KinderBuch. Historische Sachliteratur für Kinder und Jugendliche und ihre digitale Analyse. Hrg. von Sebastian Schmideler und Wiebke Helm. Berlin 2021, S. 63–81.
Zöhrer, Malene: „Ausgangspunkt: Bild. Annäherungen an Bildästhetik und Wissensvermittlung im Sachbilderbuch“. In: Jahrbuch der Gesellschaft für Kinder- und Jugendliteraturforschung 2023. Hrg. von Gabriele von Glasenapp et al. Frankfurt 2023, S. 62–76.
Von Merveldt, Nikola: „Sachbuch“. In: Handbuch Kinder- und Jugendliteratur. Stuttgart 2020, S. 189–200.