Zwei Jungen, ein Schafbock und der Hund Houdini
Der Astrid-Lindgren-Preisträger Bart Moeyaert erzählt mit „Morris“ rührend den Kampf eines Jungen gegen die Natur und einen seltsamen Mann
Von Georg Patzer
Omas Hund heißt nicht umsonst Houdini: Immer wieder gelingt es ihm, sich zu befreien, zu entkommen und abzuhauen. Jeden Tag. Und dann rennt er in die Berge, er liebt die Freiheit und ebenso den Schnee. Morris verbringt den Winter immer bei seiner Oma, die aus Stoffresten Decken näht und sie verkauft, und hat die Aufgabe, ihn wiederzuholen, denn die Oma kommt die steilen Hänge nicht mehr hoch. Und so kennt Morris die Berge mit ihren Felsen, dornigen Versteckbüschen und krummen Fichten bald in- und auswendig. Er hat sogar eigene Namen für die Bergnatur, von der sich die Dorfbewohner gruselige Geschichten erzählen: Einen steilen Felsen nennt er „das Feuer“, die Dornensträucher „den Igel“ und ein besonders großer Nadelbaum ist die „krumme Tanne“, denn „Wenn etwas einen Namen hat, existiert es mehr als ohne Namen.“
Glücklich ist Morris nicht. Warum er bei seiner Oma wohnen muss, erfährt man nicht in dieser packenden, anrührenden Geschichte des niederländischen Astrid-Lindgren-Memorial-Preisträgers Bart Moeyaert. Nur, dass es „bloß für eine Weile“ und „besser so“ sein soll. Von seinen Eltern erfährt man auch nichts. Nur dass Morris nachts heimlich weint und auch tagsüber öfter mit den Tränen kämpft.
Einmal aber gerät er in einen Schneesturm. Und dann steht da plötzlich ein Junge mit einem Fellmantel bekleidet und einem Stock in der Hand und neben ihm ein großer, bedrohlicher Schafbock. Auch Max ist nicht glücklich, etwas später heißt es: „Der Junge lag mit dem Rücken zu ihm. Seine Schultern bebten. Wenn jemand versucht, so leise wie möglich zu weinen, darf man nicht fragen, ob er weint. Und auch nicht warum.“ Aber Morris fragt nicht, von seiner Oma hat er gelernt, geduldig zu sein. Langsam freunden sich die beiden an und lernen voneinander, sich zu unterstützen. Und das haben beide nötig, auch Morris, denn seine Oma kennt zwar viele aus dem Dorf, aber jetzt hat sie einen seltsamen Verehrer, der stundenlang einfach nur dasitzt, Randy Rek. Er macht Komplimente, bleibt immer zum Mittagessen und schaut Morris nie an. Ein unheimlicher Mensch, von dem Morris nicht weiß, was er eigentlich will und wo das alles enden wird.
Wie Moeyaert das Naturerleben sensibel und minimalistisch mit den Gefühlen von Morris und Max verknüpft und verwebt, ist meisterhaft. Seine ständige Suche nach Houdini wird zur Metapher für die Suche nach einer Heimat, einem Ort, wo Morris hingehört und Halt und Liebe findet. Die bedrohliche Natur hängt eng mit Herrn Rek zusammen, der ebenso schweigsam ist wie der Schnee und der Wind und Morris und dem Leser Angst macht. Am Schluss haben Morris und Max zusammen gelernt, welchen Erwachsenen sie trauen können und welchen nicht. Das Ende bleibt offen, aber hoffnungsvoll.
Ebenso meisterhaft illustriert hat Sebastiaan van Doninck die beeindruckende Geschichte, indem er den märchenhaften Charakter durch acht Tuschebilder und seitengroße Illustrationen in gedecktem Orange und Grün, Gelb und Blau noch unterstreicht. Sie begleiten durch die Erzählung, geben ihr etwas zurückhaltende Farbe und schaffen eine dichte, poetische Atmosphäre.
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