Ein sensationeller Held im Mittelalter?
In einem reich illustrierten Band stellt Emmanuele Arioli die „Legende des Drachenritters“ vor und sucht dessen Abkehr von höfischen Traditionen zu erweisen
Von Jörg Füllgrabe
In medial definierten Zeiten, die sich seit Aktenzeichen XY deutlich weiterentwickelt haben, was Dynamik im positiven wie negativen Sinne angeht, und in denen true crime öffentlich-rechtliche Medienanstalten zwar nicht unbedingt dominiert, aber auch in bisweilen absonderlicher Form präsent geworden ist, mag das Verschwundensein – und das plötzliche Wiederauftauchen – einer mittelalterlichen Romanfigur wohl nicht weiter bemerkenswert sein. Für die mediävistische Gemeinde hingegen ist das Wiederauffinden des Helden Ségurant eine ganz andere Angelegenheit. Der hier Erfolgreiche entstammt zwar auch dem französischen Sprachraum, heißt jedoch nicht Hercule Poirot, sondern Emanuele Arioli, und dieser ist auch kein hauptberuflicher Meisterdetektiv, sondern Schauspieler und Mediävist, der nach seinen Studien in Paris und Pisa nunmehr an der Université Polytechnique Hauts-de-France im nordfranzösischen Valenciennes unterrichtet.
So weit, so gut – es ist in jedem Fall eine positive Bereicherung der Welt mittelalterlicher ritterlicher Protagonisten, wenn es eine echte (Wieder-)Entdeckung eines ‚verschollen gegangenen‘ Recken gibt und es sich bei der Figur nicht lediglich um eine Erfindung aus der Ideenwelt gegenwärtiger Fantasy-Literatur handelt, sondern sich das literarische Leben des Protagonisten tatsächlich im Rahmen mittelalterlicher Erzähl- und Schrifttradition abspielte. Ob das Ganze allerdings – ungeachtet aller Wertschätzung des Drachenritters und seines Wiederentdeckers – unbedingt unter die Rubrik „Weltsensation“ fallen muss, wie uns der hintere Buchdeckel informiert, kann zumindest in Zweifel gezogen werden.
Hier erfahren die Interessierten auch alsbald: „Ségurant ist von allen Artusrittern vielleicht der heutigste.“ Das macht mehr nur als ein wenig neugierig, ist hier doch ein Konnex nicht nur angedeutet, sondern beinahe schon als alternativlos definiert. Denn dieser ‚heutigste‘ Artusritter, so scheint es, besitzt die Möglichkeit, alle, die sich darauf einlassen, zu Ritterinnen und Rittern zu schlagen und damit mehr zu generieren als jedes Reenactment-Abenteuer. Oder, wenn das schon nicht gegeben ist, zumindest eine erweiterte Plattform der (Selbst-)Erkenntnis anzubieten.
Der von Andreas Jandl adäquat übersetzte Text des Ségurant lässt auch nach mehrfacher Lektüre die Frage nach der „Weltsensation“ zumindest in der Hinsicht offen, als die Artusliteratur nicht umgeschrieben oder doch zumindest um vollkommen unerwartete Aspekte erweitert werden muss. Der Beginn der hier vorliegenden Abenteuer des Drachenritters steht gewissermaßen vor dem Beginn, wird doch – in den ‚konventionellen‘ Artustexten nicht ungewöhnlich – zunächst auf die Vorfahren Ségurants eingegangen. Nach einer ebenfalls nicht unüblichen ‚Übertragungslücke‘ wird erzählt, wie Ségurant den Ritterschlag empfängt und erst damit gewissermaßen die Voraussetzungen für seine weiteren Abenteuer erfüllt.
Fortan durchstreift er dem Aventiuregedanken gemäß die Welt, um die Erwartungshaltungen der (höfisch-literarischen) Welt an das Rittertum zu erfüllen, welche vornehmlich in der Bewährung gegen andere sowie der Selbstbewährung gegenüber eigenen Schwächen bestehen. Insgesamt 22 Kapitel werden unter der Überschrift Ségurant. Die Legende des Drachenritters den Taten des Ritters gewidmet, die sich letztlich auf die Jagd nach dem zaubermächtigen Drachen konzentrieren, der wohl eine Inkarnation des Leibhaftigen ist. Da der dieser Bearbeitung der Abenteuer Ségurants zugrunde liegende Text, der sich in der Bibliothèque de l‘Arsenal in Paris befindet, gewissermaßen im ‚Nichts‘ endet, hat Emanuele Arioli weitere Quellen hinzugezogen.
Den 22 Abenteuern werden sieben unter dem Titel „Fortsetzungen (Ergänzende Fassungen. 13. Jahrhundert)“ nachgestellt, in denen der Titelheld mit seinem Gefährten Golistan diverse Abenteuer durchlebt und schließlich auf den auch im Haupttext agierenden Ritter Dinadan trifft. Dieses Zusammentreffen ist der ‚Einstieg in den Ausstieg‘: Ségurant verlässt nach einem Zusammentreffen mit Lancelot die Bühne der Artuswelt. Und entschwindet somit, gemäß der Ausführungen Ariolis, dem ‚kollektiven Gedächtnis‘. Zuvor jedoch werden noch Weissagungen Merlins in einem „Prophetischen Epilog“, der das 29. Kapitel umfasst, aufgelistet, in denen nicht zuletzt heldische Leistungen Ségurants im Kampf gegen die Heiden vorhergesagt werden. Drei „Neubearbeitungen (Alternativfassungen. 13.–15. Jahrhundert)“ schließen die Berichte über die Taten des Drachenritters ab; im letzten Kapitel wird schließlich auch der Erwerb des Beinamens des Titelhelden beschrieben.
In einem Anhangsteil werden nicht nur Glossar und Abbildungsverzeichnis ausgewiesen, sondern unter den Überschriften „Legende des Drachenritters“ sowie „Epilog auf einen Drachenjäger“ Gedanken und Überlegungen Ariolis sowie Susanne A. Friedes zum Ségurant zusammengefasst. Während die Ausführungen des ersteren mitunter eine gewisse Indiana Jones-Attitüde aufweisen, dem Roman respektive den Romanfragmenten aber auch ‚neue Werte‘ attestieren, die vornehmlich in der Abkehr von höfischen Werten (hier vor allem dem Dienst an einer Dame) und Wendungen liegen sollen, die laut Arioli eine „Robinson Crusoe-Mentalität“ erkennen lassen, geht Susanne A. Friede breiter vor. In teils ernsthafter, teils humorvoller Weise stellt sie den Titelhelden als eine Art ‚Drachenritter ohne Drachen‘ vor, da er Zeit seines Ritterlebens den – womöglich sogar nur imaginären – Drachen gejagt, aber nie besiegt hat, was einen Kontrast etwa zum Löwenritter Iwein darstellt, dessen Löwe vollkommen real ist. Dass Artus als schwacher Herrscher dargestellt wird, ist hingegen in der klassischen Artusepik auch nicht unbedingt anders, und auch die schwächere Darstellung prominenter Artusritter gegenüber dem Titelhelden des vorliegenden Romans ist ein Schicksal, das diese in den meisten Sprossdichtungen zum arrivierten Artus-Kanon durchleben müssen. Ist dieses Werk also wirklich so neu und außergewöhnlich?
Die von Friede explizit geäußerte Vermutung, das Verschwinden des Drachenritters aus der tradierten Artus-Überlieferung hinge damit zusammen, dass seine Eigenschaften sukzessive auf andere Artusritter übertragen worden seien, erscheint nicht nachvollziehbar. Viel eher ist davon auszugehen, dass Ségurant aus Versatzstücken der altüberkommenen Artushelden ‚konstruiert‘ wurde – und deren Weltbild sehr wohl folgte. Wie sehr er trotz gegenteiliger Aussagen sowohl Ariolis als auch Friedes dem höfischen Ehren-Kodex verbunden ist, wird in der Episode „Ségurant, Golistan und Dinadan“ der „Fortsetzungen“ deutlich, in der der Titelheld drei Bauern tötet, die einen Ritter, welcher eine Bauerntochter vergewaltigt hatte, gefesselt zu ihrem Grundherrn bringen wollten. Daraufhin trägt er dem überlebenden Ritter auf, keinesfalls jemals wieder gegen einen Ritter zu kämpfen, sondern Rache für erlittenes Unrecht einem anderen Ritter zu übertragen. Soll das gesellschaftliche Rahmen sprengen und als Identifikationsmöglichkeit für Gegenwärtige taugen, wie etwa Friede konstatiert? Immerhin kommt auch sie zu dem Schluss: „[V]iele Fragen bleiben offen“.
Das Buch besticht zunächst durch seine Fertigung und Gestaltung. Fest gebunden, mit einem Schutzumschlag versehen und durch zahlreiche mehrfarbige Illustrationen aufgelockert, strahlt es Wertigkeit aus. Allerdings ist es trotz seiner epiloghaften Ausführungen sowie gelegentlichen, bibliographischen Informationen liefernden Einschübe keine auch nur im weitesten Sinne kritische Ausgabe, sondern das, was es trotz großer Gesten ja auch eingestandenermaßen sein sollte: eine Übertragung eines mittelalterlichen Romans ursprünglich ins Neufranzösische und hier eben ins Neuhochdeutsche. Das ist einerseits gelungen, andererseits nicht: Statt eines stringent durchkomponierten und dann auch von der Vorlage abweichenden lesefreundlichen Textes in der Tradition eines Gustav Schwab werden hier am mittelalterlichen Original ausgerichtete Formulierungen und Strukturen geboten, die es erschweren, den Abenteuern des Ségurant entspannt zu folgen. Ein Hybrid also, mit dem manches geht, vieles aber nicht. Ein schön gestaltetes Buch gewiss, das allein aus diesem Grunde seinen Preis wert und durchaus als Geschenk geeignet ist – doch eine „Weltsensation“?
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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