Die Geschichte einer sonderbaren Freundschaft

Sibylle Grimberts Roman „Der Letzte seiner Art“ erzählt die Geschichte von einer einzigartigen Verbundenheit zwischen Mensch und Tier

Von Marisa MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marisa Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Gus hatte nie ein Haustier, sondern einen Gefährten gehabt, er war nie ein Herrchen, sondern ein Freund gewesen.“ Sibylle Grimbert zeichnet die Geschichte von einer einzigartigen Verbundenheit zwischen Mensch und Tier.

Der Roman beginnt auf der isländischen Felseninsel Eldey im Jahr 1834 und endet in den 1850er Jahren. Grimbert orientiert sich mit der im Buch genannten Jahresspanne an der außerliterarischen Realität beziehungsweise an der historischen Situation des Riesenalks. Laut eigener Aussage im Nachwort greift sie auf Dokumentationen „über diese offiziell im Jahr 1844 ausgestorbene Spezies“ zurück. In ihrem Roman ist sogleich die erste Begegnung zwischen Menschen und einer Kolonie von dreißig Riesenalken erbarmungslos: 

Als sich die Mörder wieder aufrichteten, in ihren Fäusten die Köpfe der baumelnden Riesenalken, warfen sie die Tiere auf einen Haufen, wo die weißen Flecken zwischen Schnabel und Augen wie Schmetterlinge aussahen, die auf einem Aashaufen gelandet waren.

Der 23-jährige Zoologe Auguste, der im weiteren Verlauf des Romans ausschließlich Gus genannt wird, entpuppt sich als der stille Beobachter des Massakers. Er entdeckt im Meer einen verletzten Riesenalk und schafft es, diesen aus dem Wasser zu ziehen.

Zunächst hält Gus ihn bei sich zu Hause aus reinem Forschungsinteresse in einem Käfig. Dabei wird das Aussehen des Riesenalks wiederholt akribisch beschrieben. „Bevor der Riesenalk verendete, musste er [Gus] ihn unbedingt aus allen nur denkbaren Blickwinkeln zeichnen.“ Interessant ist der Wandel, der sich bei der Beschreibung des Riesenalks vollzieht. Während der Vogel am Anfang des Romans von Gus mit einem „Stück Holz“ oder einem „zu klein geratene[n] Stein aus Stonehenge“ verglichen sowie als „dumm“ interpretiert wird, erkennt die Hauptfigur erstaunliche Facetten an dem Tier:

Er entdeckte einen intelligenten, zwar misstrauischen, vor allem aber tiefgründigen Ausdruck im Blick dieses Vogels. Der Riesenalk schien nachzudenken, schien sein unbekanntes Gegenüber zu taxieren, ohne dabei zurückzuweichen, was zudem eine gewisse Courage verriet. Während Gus also forschend in das Auge eines durch und durch instinktgeleiteten Tieres blickte, hatte er dennoch das Gefühl, dass hier ein denkendes, mutiges Wesen vor ihm stand.

Das Tier nimmt immer mehr Raum im Leben von Gus ein. Er füttert es jeden Tag und kauft sich ein Ruderboot, um es an einer Leine einmal pro Tag schwimmen zu lassen. Damit zieht er die Aufmerksamkeit und bald schon den Spott und Hass vieler StadtbewohnerInnen auf sich. Die Lage spitzt sich zu, und Gus beschließt, auf die dänischen Färöer-Inseln zu flüchten.

Während das erste von insgesamt drei Kapiteln mit den dauernden Beschreibungen des Vogels und dem unsicheren Protagonisten Gus etwas langatmig für LeserInnen geraten ist, erzählt Grimbert ab dem zweiten Kapitel die Entwicklung einer beeindruckenden Freundschaft zwischen Mensch und Tier – fernab von Oberflächlichkeiten.

Der Riesenalk erhält den Namen Prosp (für das englische Wort prosperity oder das französische prospérité, welche Wohlstand bedeuten) und wird nicht nur Gus‘ bester Freund und stetiger Begleiter, sondern nach einer gescheiterten Wiedervereinigung mit einer Kolonie anderer Riesenalken zum Familienmitglied. 

Im Laufe des Romans entwickelt sich eine grundlegende Dependenz zwischen Gus und Prosp. So stellt Gus den Vogel auf eine (ähnliche) Stufe mit der seiner Frau Elinborg:

Ohne die beiden fühlte er sich auch körperlich seltsam reduziert, als wäre seine ganze Person nur eine ungelenke Skizze. Wenn er fern von den beiden war, klebte etwas Ungenaues, Hingepfuschtes an jedem seiner Schritte; er empfand sich als unfertig. 

Auf einigen Seiten finden die LeserInnen zahlreiche ethische Fragen, wie beispielsweise zu möglichen Gemütszuständen oder einer artgerechten Haltung von Tieren. Diese als auch philosophische Textpassagen wechseln sich ab mit der wachsenden Fürsorge, die Gus und seine Frau dem Tier entgegenbringen, als Prosp beispielsweise krank wird und sie diesen im Haus gesund pflegen. Diese Fürsorge ist nicht einseitig:

Wenn ein Kind hinfiel oder sich an etwas stieß und Elinborg gerade nicht in der Nähe war, schrie er aus voller Kehle, bis sie kam. Sobald sie wieder da war, entfernte er sich leicht verärgert, den langen Schnabel steif vor sich her tragend [sic!], aber wohl auch mit dem Gefühl erfolgreicher Pflichterfüllung und dazu einem Hauch mitleidigen Bedauern mit dieser Mutter, die ohne ihn verloren wäre. Gus fragte sich wie Prosp den Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen ausmachte – woran er die Zerbrechlichkeit und Abhängigkeit kleiner Menschen erkannte, die Hilfe und Unterstützung brauchten.

Mit der Zeit verändert sich nicht nur der Riesenalk, sondern auch das Wesen der Hauptfigur Gus. Dessen Gedanken kreisen ständig um das Aussterben der Riesenalken. Die Frage nach dem Artensterben steht immer wieder im Fokus des Romans und Gus wird zum „Besitzer einer Anomalie, eines Wesens, von dem es auf dieser Welt kein anderes gab.“ Mitte des 19. Jahrhunderts war die Vorstellung, eine Tierart könne für immer verschwinden, unvorstellbar. Die Tragweite dieses Gedankens und das brutale Verhalten seiner Mitmenschen gegenüber Tieren entfremdet Gus zunehmend von ihnen. Diese Entfremdung reicht schließlich so weit, dass er sich zusammen mit dem Riesenalk von seiner eigenen Familie abkapselt; ähnlich wie der Vogel von seinen eigenen Artgenossen abgesondert lebt. Die Grenze zwischen Tier und Mensch verschwimmt:

In der ersten Zeit dieses Zusammenlebens kam es vor, dass Gus sich fragte, wer von beiden eigentlich der Riesenalk und wer der Mensch war, denn durch die Zweisamkeit und die gemeinsamen Gewohnheiten schienen sie eine hybride Spezies erschaffen zu haben, eine Chimäre aus Seevogel und Mensch.

Die Abhängigkeit erreicht in dieser selbst gewählten Isolation ihren Höhepunkt, als Gus schwer erkrankt. Er überlebt nur, weil er von Prosp mit Fisch gefüttert wird. Dieses Mal ist es der Alk, der seinen menschlichen Freund gesund pflegt:

Gus brauchte den Riesenalk. Und der Riesenalk, so schien es Gus, brauchte auch ihn. Sie waren wie zwei Verrückte, die sich von der Gesellschaft abgesondert hatten, zwei Zauberwesen aus den Zeiten von Merlin, die zurückgezogen in einem Wald lebten, den niemand betrat. 

Grimberts Der Letzte seiner Art ist kein x-beliebiger Mensch-Tier-Roman. Die Autorin erzählt eine erwärmende und zugleich tragische Geschichte über den letzten Vertreter der Riesenalken. Fast nie ist die Freundschaft zwischen Mensch und Tier gleichberechtigt; Akteur ist immer der Mensch. So wie Gus‘ Vogel als domestiziertes Tier ein degeneriertes Abbild seiner Art darstellt, so ist auch die Art im Gesamten abhängig von den Handlungen der Menschen. Grimbert betrachtet in doppelter Hinsicht den Niedergang einer Tierart. Zurecht wurde die Autorin für ihren Roman für den Prix Femina und den Prix Renaudot nominiert sowie ausgezeichnet mit dem Goncourt des animaux.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sibylle Grimbert: Der Letzte seiner Art. Roman.
Aus dem Französischen von Sabine Schwenk.
Eisele Verlag, München 2023.
256 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783961611683

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