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In „Die Gemeinheit der Diebe“ erzählt Alem Grabovac von den Träumen und Enttäuschungen Smiljas, einer Gastarbeiterin aus Jugoslawien

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Drei Jahre nach seinem Debüt Das achte Kind (2021) widmet sich Alem Grabovac in seinem zweiten Roman erneut der eigenen Familiengeschichte. Abermals geht es um das Gastarbeiterkind Alem, um bereits bekannte Schauplätze und ein minimal erweitertes Figurenensemble, nur dass in „Die Gemeinheit der Diebe“ Smilja, seine Mutter, weitestgehend im Mittelpunkt der Handlung steht. Der Autor arbeitet diesmal mit seinem Text, so könnte man meinen, (s)ein verpasstes Mutter-Sohn-Leben auf und versucht, stellvertretend für viele andere Gastarbeiterinnenschicksale, den prekären (und verpassten) Lebenserfahrungen seiner Mutter in der Erzählung gerecht zu werden. Gäbe es nicht die Frage der Repräsentation, die sich nach der Lektüre aufdrängt.

Der Roman beginnt 2020 in Frankfurt am Main. Alems Mutter ist 71 und es geht ihr nicht gut. Sie fragt sich und ihren Sohn: „Was bleibt von einem Leben, das nie gelebt wurde?“

Die Frage scheint mehr als berechtigt, hat sich Smilja ein Leben lang zu wenig gegen die falschen Männer gewehrt, falsche Entscheidungen getroffen, immer und zu viel (für andere) gearbeitet und das eigene Leben dabei vernachlässigt. Haben diese gemeinen Diebe auf diese Art ihr Leben gestohlen oder trägt sie selbst die Schuld daran, indem sie es zugelassen hat?

Die Schilderung des Werdegangs der Mutter, ihrer Jugend im kleinen kroatischen Dorf Maovice und die Arbeitsmigration über Zagreb nach Würzburg und Frankfurt liest sich wie eine lebenslange Folge von Entbehrungen und Aufopferung, zu denen das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Jugoslawien 1968 seinen Teil beigetragen hat.

Arbeit gab es in Deutschland und auch einen viel besseren Lohn als zuhause. Aber der Preis, den Smilja dafür bezahlen muss, ist hoch. Wer wie sie allein in einem fremden Land die Tage nur mit Arbeit verbringt, um der Familie im Heimatland Geld schicken und die Miete, Versicherung und sonstige Rechnungen begleichen zu können, ist einsam. Der Einfachheit halber wendet man sich den Landsleuten zu, weil sie jenseits der gemeinsamen Sprache und Kultur sowie Sichtweisen und Werten nicht nur ähnliche Probleme haben, sondern auch passende Lösungen von unschätzbarem Wert.

Alems Vater, den bosnischen Taschendieb Emir, lernt Smilja dementsprechend auf einer Jugo-Party in einem Würzburger Tanzlokal kennen. Er taugt zu nichts und schon bald muss er vor brutalen Geldeintreibern in die Heimat fliehen. Sein Nachfolger, der serbische Bauarbeiter Dušan, steht ihm in nichts nach. Das Familienleben gleicht einem Teufelskreis aus Fernsehen, Alkohol, Zigaretten und männlichen Gewaltausbrüchen zu Lasten von Mutter und Kind. Es gibt nichts, worauf man sich nach Alems Meinung freuen kann. Die Mutter zeigt sogar noch Verständnis für die inakzeptablen Entgleisungen des neuen Familienoberhauptes, wenn sie ihrem Sohn erklärt, dass es in Jugoslawien halt so sei: „Die denken, dass man mit Gewalt alles erreichen kann.“

Nicht nur die Unterbringung des Sohnes in einer deutschen Pflegefamilie, um weiter in Vollzeit arbeiten zu können, verursacht weitere Kosten und dadurch unzählige Überstunden. Man muss sich auch ein Haus in der Heimat bauen! Es handelt sich dabei um einen Wunsch, dem man alles unterordnet. Dabei träumt, urlaubt und baut das Paar getrennt, Smilja in Kroatien und Dušan in Serbien. Man kennt die Geschichten von Häusern, die sich die Gastarbeiter*innen am eigenen Leib absparten und in denen nie jemand wohnen werden wird, nur zu gut.

Auch wenn sich Smilja für 6700 € eine überflüssige „all-inklusive“ Grabstätte in der Heimat leistet und doch ihr Leben lang Teil der jugoslawisch-kroatischen Diaspora in Deutschland bleibt, sie dem Wunderheiler Braco, der sich das Vertrauen und die Gelder seiner Landsleute erschleicht, auf den Leim geht, macht die von allen Menschen um sie herum ausgenutzte, betrogene und nie wirklich wertgeschätzte Frau auch kleine Schritte zum eigenen Glück. Sie unternimmt ihre erste Reise, die sie nicht in die Heimat führt, zu Alems Diplomfeier nach London. Sie verkauft ihr Haus am Mittelmeer, um sich dafür eine akzeptablere Wohnung in Frankfurt zu gönnen. Sie wird aber auch von Alpträumen und Wahnvorstellungen – sie hört Dušan nachts im Schrank klopfen – geplagt, was ihren Sohn dazu veranlasst, sie zuerst zur Psychotherapeutin zu schicken und später in eine psychiatrische Einrichtung zu bringen. Erst als Rentnerin kommt sie dennoch etwas in Deutschland an, lebt für ihre tägliche BILD-Zeitung und Suppe, ihren Schlaf und die Wehwehchen.

Neben den Schilderungen der seelischen und körperlichen Leiden der Mutter plaudert das Alter Ego des Autors in großen Teilen des Romans irritierend aus dem Nähkästchen. Während die Mutter sich kaputt schuftet und die Launen ihrer Partner ertragen muss, ist der Sohn ein so genanntes Kofferkind, den unhaltbaren Verhältnissen nur an den Wochenenden ausgesetzt. Ansonsten ist er in der schwäbischen Provinz und kann dank des fürsorglichen Einsatzes der deutschen Pflegeeltern nach dem Abitur sogar nach Amerika reisen, später an der LMU in München studieren und mit einem Stipendium in London sein Studium erfolgreich abschließen. Diesem Erzählstrang verleihen, wie schon im ersten Roman, Hinweise aus dem popkulturellen Bereich auf Musik, Literatur und Fußball, etwas Zeitkolorit. Mit Ferhat, einem türkischen Kleinkriminellen und Jugendfreund, trifft Alem zufällig die 1974er Fußballweltmeistermannschaft in einem Gasthaus, hört Doors, Schoißfuaß oder Tote Hosen. Die historische Einordnung gelingt durch den erlebten Ausländerhass, die Bürokratiehürden bei der Einbürgerung des in Deutschland geborenen Alem und die Balkankriege. Etwas skurril wird es, als Alem im Text auf sein Debüt verweist, das sich im Großen und Ganzen weder stilistisch noch inhaltlich vom vorliegenden Roman unterscheidet. Smilja, die im Roman keine unbedeutende Rolle gespielt hat, ist begeistert, ebenso wie das Feuilleton und der Sohn, der dadurch noch einmal Werbung in eigener Sache macht.

Wegen des zuletzt Gesagten bleibt der Leser etwas ratlos zurück. Zwar leuchtet einem der womöglich intendierte Kontrast zwischen den klischeehaft groben, ungebildeten, trinkend-rauchenden Machos aus Jugoslawien und dem akademisch erfolgreichen Sohn ein, aber man kann sich des Gefühls nicht erwehren, dass hier nicht die Gastarbeiterin-Mutter und ihre Lebenserfahrungen eine Repräsentation erfahren, nicht der Sohn der Mutter eine Stimme gibt, sondern die Mutter dem Sohn. Wenn die im Roman unterprivilegiert dargestellte Figur Smilja sonst nichts mehr geleistet haben soll, so hat sie immerhin ihren Sohn mit ihrer Lebensgeschichte zum Schriftsteller gemacht.

Titelbild

Alem Grabovac: Die Gemeinheit der Diebe.
hanserblau, Berlin 2024.
240 Seiten, 23,00 EUR.
ISBN-13: 9783446279384

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