Szenen aus dem Patriarchat und alternative Welten

Im Zentrum von „Erwachende Welten“, dem zweiten Band der Werke von Joanna Russ steht ihr wohl wichtigster Roman

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kein Jahr, nachdem der kleine Carcosa Verlag den ersten Band der Werkausgabe von Joanna Russ auf den deutschsprachigen Markt brachte, hat er bereits den zweiten folgen lassen, der einige von Russ’ Texten aus der ersten Hälfte der 1970er Jahre versammelt. Ebenso wie sein Vorgänger enthält der zweite Band neben einer Reihe von Sammelrezensionen eine essayistische Schrift der Autorin. In seinem Zentrum steht allerdings Russ’ literarisches Hauptwerk The Female Man (1975). Es lag zwar – unter den Titeln Planet der Frauen (1979) und Eine Weile entfernt (2000) auch zuvor schon auf Deutsch vor, doch wurde die von Werner Fuchs und Hiltrud Bontrop bewerkstelligte Übersetzung der zweiten deutschen Ausgabe von Hannes Riffel für den vorliegenden Band noch einmal „grundlegend überarbeitet“.Außerdem wurde der Titel des Originals erstmals wörtlich übernommen, wobei allerdings sein zweideutiges Wortspiel verloren gehen musste, denn das englische Wort man bedeutet bekanntlich sowohl Mann wie auch Mensch.

Der Handlungsraum des Romans ist ebenso weit gespannt wie seine Handlungszeit. Denn er spielt zu verschiedenen Zeiten auf vier Planeten in unterschiedlichen Universen, von denen es „eine unendlich große Zahl“ gibt. Das rührt daher, dass „jede Verlagerung eines jeden Moleküls, jede Veränderung in der Umlaufbahn eines Elektrons, jedes Lichtquant, das hier und nicht dort auftritt, […] irgendwo seine Alternative haben [muss]“. Auf diese Weise entstehen der Logik des Romans zufolge jeden Moment unendliche viele neue Universen.

Genauer gesagt handelt es sich bei den vier Handlungsorten des Romans allerdings gar nicht um unterschiedliche Planeten, sondern nur um einen: die Erde – allerdings in vier verschiedenen Universen und zu drei verschiedenen Zeiten. Da wäre einmal die Erde auf der die 29-jährige Bibliothekarin Jeannine im Jahr 1969 und damit unmittelbar vor der Entstehung des Romans lebt. Denn das Buch ist zwar erst 1975 erschienen, Russ hatte das Manuskript allerdings schon 1970 vollendet. Jeannines Welt von 1969 ist aber keineswegs die unsere. Denn auf ihrer Erde starb ein gewisser Herr Schicklgruber schon 1936 und der Zweite Weltkrieg fand nie statt, was natürlich einige nicht ganz unbedeutende Auswirkungen auf die folgenden Jahrzehnte hatte.

Sodann wäre da die Erde von Janet, die „zehn Jahrhunderte[]“ nach Jeannine auf ihrer Whileaway genannten Version der Erde lebt. Zu ihrer Zeit sind die dortigen Männer schon vor achthundert Jahren ausgestorben und es herrscht eine reine Frauengesellschaft. Denn die Frauen haben eine Möglichkeit gefunden, sich ohne Männer fortzupflanzen. Janet würde es auch eher „mit einem Hund treiben“ als mit einem Mann. Denn Männer sind für sie „eine völlig fremde Spezies“, stehen ihr dabei aber zugleich „so nah“, wie sie nicht ganz widerspruchsfrei erklärt. Die Fortpflanzung der Frauen erfolgt zwar ohne Zutun von Männern, allerdings nicht durch Parthenogenese. Diese wird von ihnen abgelehnt, da ihre Kinder dann nur Klone ihrer selbst wären. Daher haben sie ein Verfahren zur Eizellverschmelzung entwickelt. Sie leben in einer eher rurale Welt, auf der es „keine richtigen Städte“ gibt. Ihre Nachnamen bestehen aus dem Vornamen einer ihrer Mütter und dem Suffix son, das auf Whileaway allerdings nicht wie in Island Sohn von, sondern Tochter von bedeutet.

Die radikale Feministin Russ beschreibt die ökologische Gesellschaft der Frauen keineswegs als Utopie. So werden die bis dahin „unabhängigen, blühenden, verhätschelten, äußerst intelligenten Mädchen“ auf Whileaway mit vier oder fünf Jahren „aus der Mitte ihrer dreißig Verwandten gerissen“ und auf eine Schule geschickt, wo sie fortan leben müssen. Sie alle versuchen sofort dort wieder auszubrechen, bis sie nach einigen Wochen selbst gebrochen werden und ihre Versuche aufgeben. Wenn ihre Pubertät einsetzt, werden die Mädchen von der Schule „in die Welt entlassen“. Ihr früheres Zuhause sehen sie jedoch nie wieder. Vielmehr gehen sie zunächst einmal in die Wildnis und erlegen gefährliche Tiere. Nach ihrem siebzehnten Geburtstag „werden sie in die erwerbstätige Bevölkerung eingegliedert“. Damit beginnt „die schlimmste Zeit im Leben der Whileawayanerinnen“. Erst im Alter von 22 Jahren ist den jungen Frauen erlaubt, einen ihnen „bislang verbotenen Beruf [zu] erlernen“ und „in bereits existierende Familien ein[zu]heiraten oder eine eigene Familie [zu] gründen“. Zwar führen Whileaways Frauen keine Kriege gegeneinander, doch duellieren sie sich schon bei nichtigen Anlässen. Janet hat beispielsweise schon drei dieser tödlichen Duelle hinter sich. Auch hat Whileaway wie jede Gesellschaft ihre Tabus: „sexuelle Beziehungen mit einer Person, die für deutlich älter oder jünger gehalten wird, Verschwendung, Ignoranz, jemanden zu beleidigen, ohne es zu beabsichtigen“ – und sie „essen nichts, was krümelt“.

Die „rosige, gesunde, eigensinnige Meuchelmörderin“ Jael ist die dritte im Bunde der Frauen und lebt zu einer Zeit, die zwischen derjenigen Jeannines und Janets liegt, auf einer Erde, auf der die Frauen und die Männer auf verschiedenen Kontinenten leben und einander bekriegen. Den Erdteil der Männer bevölkern allerdings noch sogenannte Umgewandelte, also Männer, die eine operative Geschlechtsumwandlung durchführen ließen. Allerdings muss bezweifelt werden, „dass die Geschlechtschirurgen wissen, wie eine echte Frau aussieht“. Jedenfalls leben sie in Harems oder Bordellen. Neben Männern und Umgewandelten gibt es auf dem Mannsland genannten Kontinent noch „Halbumgewandelte“. Zu ihnen zählen „Künstler, Illusionisten, Weiblichkeitsimpressionisten, die ihre Genitalen behalten“. Sie gelten allesamt als „träge, emotional und feminin“. „Alle echten Männer“ des Kontinents haben Sex mit den Umgewandelten, einige von ihnen auch mit Halbumgewandelten, aber keiner hat Sex mit einem anderen „echten Mann“. Die „offizielle Ideologie“ der Männer besagt, „dass Frauen nur ein armseliger Ersatz für die Umgewandelten sind“. Mit wem diese oder die Halbumgewandelten Sex haben möchten, interessiert keinen der Männer des Kontinents.

Einer der Männer ihres Planeten versucht Jael davon zu überzeugen, dass sich die Männer- und die Frauengesellschaft wieder vereinen sollten. In einem ausufernd langen Monolog schwadroniert er über die Selbstverständlichkeit von Geleichberechtigung und darüber, dass Frauen letztlich aber doch am liebsten am Herd stehen. Dabei lässt er Jael nicht ein einziges Mal zu Wort kommen. Irgendwann reißt ihr aber der Geduldsfaden und sie bereitet seiner Suada ein abruptes Ende. In einem Gespräch mit Janet bestreitet Jael vehement, dass die Männer auf Janets Welt durch eine Seuche ausgestorben sind. Tatsächlich sei sie selbst es gewesen, die die dortigen Männer auslöschte. Anders als Jeanne Cortiel in ihrem ansonsten sehr informierten und überzeugenden Nachwort meint, muss das nicht an der Wahrhaftigkeit der Whileawayianerinnen zweifeln lassen, denn Janet und Jael stammen aus unterschiedlichen der sich unendlich verzweigenden Universen, in denen die Auslöschung der Männer verschiedene Ursachen haben kann.

Neben den drei genannten Protagonistinnen tritt völlig gleichberechtigt noch eine vierte auf: Joanna, die zur gleichen Zeit wie Jeanette, aber auf unserer Erde lebt. Sie stellt sich den Lesenden als Autorin des Buches oder „Geist der Autorin, der alles weiß“, vor und spricht die RezipientInnen auch schon mal als „liebe Lesende“ an. Außerdem stiftet sie den Titel des Buches. Denn Joanna hat sich in einen Mann verwandet, „natürlich [in] einen weiblichen Mann“, wie sie betont, wobei ihr Körper und ihre Seele „noch genau die gleichen waren“ wie vor der Umwandlung. Was zu der Frage führt, was sie denn dann als Mann definiert. Wie auch immer sie beantwortet werden mag, sicher ist, dass sie in einem Kapitel ausführlich erzählt, dass sie erst einmal eine Frau werden musste, bevor sie ein Mann werden konnte. Denn sie war „lange Zeit […] ein Neutrum gewesen“.

Naheliegenderweise wäre anzunehmen, dass die Autorin Joanna die Protagonistinnen zusammenführt. Dem ist aber nicht so. Vielmehr ist es Jael, die sich und ihre drei „anderen Ichs“ zusammengebringt, deren Vornamen auffälligerweise alle mit dem Buchstaben J beginnen, was von Joanna wiederum mit der lapidaren Bemerkung „Was für ein Fest von Jots“ kommentiert wird.

Neben den vier Protagonistinnen gibt es noch einige weitere Frauenfiguren, die eine größere Rolle spielen. Wie etwa Jeannines Freundin Laura Rose, die über Männer sagt: „Entweder versuchen sie dich zu dominieren, was widerlich ist, oder sie verwandeln sich in ein Kleinkind“. Zum weiteren Figurenkabinett zählen Janets Ehefrau Vittoria, Jeannines Freund Cal sowie ihre Mutter und ihr Bruder. Auch ein biologischer Androide namens Davy ist mit von der Partie. Er ist „der schönste Mann auf der ganzen Welt“ und zugleich ein Hybridwesen. Denn er hat genetische Anteile von Schimpansen und sein Gehirn ist mit dem Zentralcomputer des Hauses seiner Besitzerin verbunden. Denn er ist keineswegs frei, sondern gehört Jael, die gelegentlich Sex mit ihm hat.

Mit Der weibliche Mann hat Joanna Russ einen denkbar vielschichtigen Roman geschaffen, der „mit viel Blut“ aber auch „mit Tränen geschrieben“ ist. Drei seiner vier Protagonistinnen melden sich als Ich-Erzählerin zu Wort, wobei nicht immer ganz eindeutig auszumachen ist, wer von ihnen gerade spricht. Jedenfalls erzählen sie oft mit einem leicht satirischen Augenzwinkern, das Utopien und manch Anderes auf die Schippe nimmt. Auch werden immer wieder Szenen aus dem Alltag des Patriachats in Joannas und vor allem in Jeannines Welt geschildert. Zudem werden zahlreiche reale und fiktive Personen erwähnt. Im Falle letzterer insbesondere die whileawayanische Philosophin Dunyasha Bernadettson, die einige Jahrhunderte vor Janet gelebt hat und von dieser gerne zitiert wird.

Eines der zahlreichen Kapitel wird als „Belehrung“ angekündigt. Lesenden, die so etwas nicht mögen, wird zu dessen Beginn empfohlen es zu überschlagen. Auch solle man nicht zwischen den Zeilen lesen, denn da stehe nichts. Ein anderes Kapitel könnte hingegen ganz aus Zitaten bestehen, die Russ Besprechungen entnommen hat, die Männer über ihre früheren Bücher geschrieben haben. Genauso gut könnten es aber auch fiktional vorweggenommene Zitate aus damals erwartbaren Rezensionen des vorliegenden Romans sein, die von Männerhand verfasst wurden.

Neben dem Roman enthält der Band zwei Kurzgeschichten aus seinem Umfeld, von denen eine, wie Russ sagte, „ein völlig anderes Projekt“ war. Die andere ist hingegen in Teilen identisch mit längeren Passagen des Romans.

Die vier Sammelrezensionen des Bandes bereiten nicht weniger Vergnügen als Der weibliche Mann, wenngleich sie nicht so bitterböse sind wie diejenigen des ersten Bandes. Allerdings scheut Russ auch diesmal nicht davor zurück, einen Roman als „durch und durch stumpfsinniges, ausgesprochen schlechtes Buch“ zu kritisieren. Eine der Besprechungen behandelt zwei soziologische Bücher zur Ehe, eines davon ist ein Sammelband, das andere eine feministische Monografie. Viel hält Russ von beiden nicht.

Dieser Besprechung folgen drei Sammelrezensionen zur literarischen Science Fiction. Davon befasst sich eine mit Zukunftserzählungen und -romanen, in deren Zentrum Sexualität steht. Russ räumt ein, dass Sex zwar „unendlich interessant“ ist, doch sei es „sehr schwer, darüber zu schreiben“. Die meisten der Stories versagen ihrem Urteil zufolge vor dieser Aufgabe.

In einer anderen knöpft sie sich unter anderem Brian W. Aldis Frankenstein Unbound (1974) und The Dispossessed (1974) von Ursula K. LeGuin vor. Ersteres fasst in seinem Titel die zweier anderer Bücher zusammen. Sie wurden von dem weiblichen und dem männlichen Part eines Ehepaars verfasst: Mary Shelley schrieb Frankenstein. A Modern Prometheus (1818) und ihr Gatte Percey Bysshe Shelley Prometheus unbound (1818). Von Mary Shelleys „unbeholfenem Roman“ scheint Russ eher wenig zu halten, hält ihr aber zugute, dass sie erst 18 Jahre war, als sie ihn anfertigte. Ähnlich überraschend ist ihre vehement Kritik an The Dispossessed. Der Roman sei zwar „ausgefeilt, aber unauthentisch“ und leide außerdem an „gewisse[n] Brüche[n] […] zwischen dem, was gezeigt wird und dem, was erzählt wird“. Eine Kritik, die sie an zahlreichen Textbeispielen belegt. Das „Ergebnis“ sei ein „romantischer Radikalismus, ein Radikalismus ohne Biss“. Allerdings konzediert sie Le Guin ein „außergewöhnliches Talent“, das aber nicht „ins Dramatische“ gehe, „sondern ins Lyrische“. Zu guter Letzt räumt Russ ein, dass sie „auf hohem Niveau [nörgele]“.

Ein Essay über Genre-Literatur beschließt die Texte von Russ. In ihm vertritt sie die These, dass Genres drei von ihr „Unschuld, Plausibilität und Dekadenz“ genannte Stadien durchlaufen und sich dabei abnutzen. Am Beispiel der Literatur über Roboter-Aufstände versucht sie, ihre These zu plausibilisieren.

Am Ende des Romans Der weibliche Mann wendet sich Joanna, die Autorin nicht nur an die Lesenden, sondern sogar an den Roman selbst und bittet ihn, „beschwere dich nicht, wenn du irgendwann wunderlich und altmodisch wirst. […] Freue dich kleines Buch! Denn an diesem Tag werden wir frei sein.“

Er ist noch nicht gekommen, der ersehnte Tag. Und vorher, so viel darf als gesichert gelten, wird noch der dritte Band von Joanna Russ’ Werken erscheinen. Das ist doch immerhin ein Lichtblick. Und vielleicht trägt er zusammen mit ihren anderen Werken sogar dazu bei, die Zeit bis zu jenem vermutlich noch immer sehr fernen Tag zu verkürzen.

Titelbild

Joanna Russ: Erwachende Welten. Werke 2.
Aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Werner Fuchs, Hiltrud Bontrop, Charlotte Kraft und Hannes Riffel.
Carcosa Verlag, Berlin 2024.
387 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783910914247

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