Die Dame und die Diebin

Mit Joanna Russ’ „In fernen Gefilden“ hat der Memoranda Verlag die Ausgabe der gesammelten Schriften einer der bedeutendsten SF-AutorInnen eröffnet

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Manche Aliens, so heißt es, picknicken gerne am Wegesrand. Andere ziehen hierzu idyllischere Gefilde vor. Von diesen scheint der kurze Roman Picknick auf Paradies zu handeln. Doch spielt er nicht etwa im Garten Eden, sondern auf einem Exoplaneten, dessen Gebirge alles andere als paradiesisch sind. Zudem tobt auf ihm ein Handelskrieg. Und was die ProtagonistInnen der Geschichte unternehmen, ist alles andere als ein Picknick: Sie müssen sich durch unwegsames Gelände, eisige Täler und schroffe Berge zu einem Stützpunkt durchschlagen, von dem aus sie den Planeten verlassen können.

Dem buntzusammengewürfelten Haufen gehören ein „Flachfarbenmann“ an, eine etwas ältere und eine jüngere Frau, die in einem besonderen Verhältnis zueinander stehen, zwei einer seltsamen Religion angehörende Nonnen sowie vier Männer, von denen einer ein Lieutenant und ein anderer ein „Politiker mittleren Alters“ ist. Ein dritter trägt den sprechenden, aber doch irreführenden Namen Maschine. Sie alle sind ausgesprochen egozentrisch und „red[]en die ganze Zeit nur über sich selbst“. Außer Maschine, der zumeist schweigt und sich auch ansonsten sehr von den anderen unterscheidet.

Die zentrale Figur aber ist Alyx. Denn die „Transtemporalagentin“ hat die alles andere als einfache Aufgabe die Gruppe zu retten, indem sie diese zu dem Stützpunkt führt, von dem aus sie den Planeten verlassen können. Dazu müssen sie in einem Schnee- und Eisgebirge nicht weniger als „zweihundertvierzig Kilometer zu Fuß zurücklegen“.

Die anderen sind mit ihren „zwei bis zweieinhalb Metern“ Körpergröße der eher kleingewachsenen Alyx in dieser Hinsicht um Längen voraus – was für die meisten schon Grund genug ist, an deren Fähigkeiten zu zweifeln. Und tatsächlich wird es der Agentin nicht gelingen, alle ihr anvertrauten durch sämtliche Gefahren hindurch zum Ziel zu bringen. Eine von ihnen wird sie sogar eigenhändig töten.

Bei der Geschichte handelt es sich um den einzigen Alyx-Roman der Essayistin, Rezensentin und Science-Fiction-Autorin Joanna Russ. Alyx aber steht im Zentrum von fünf weiteren Storys der Autorin. Doch handelt es sich bei ihnen nicht um Romane, sondern um Kurzgeschichten und kleine Storys. Weder bauen die Alyx-Erzählungen chronologisch aufeinander auf, noch wurden sie in der Reihenfolge der erzählten Ereignisse publiziert. Ja selbst die Protagonistin scheint nicht immer die gleiche zu sein.

Gelegentlich changieren die Erzählungen zwischen Fantasy und Science Fiction, wobei eine von ihnen beide Genres verbindet und die Protagonistin von einer eher antiken Fantasy-Welt in die Zukunft der SF überführt. Denn ein als Magier bekannter Mann besitzt offenbar technische Geräte einer weit höher entwickelten Zivilisation. So bedient er sich etwa Strahlenwaffen und schützt sich durch ein undurchdringliches energetisches Feld.

Schlägt sich Alyx in einer dem antiken Orient mehr als ähnlichen Fantasy-Welt zumeist als Diebin und Auftragsmörderin durch, so ist sie in den SF-Welten als Agentin unterwegs, ohne dass erzählt würde, wie ihr der doch ungewöhnliche Werdegang gelingen konnte.

Die Kurzgeschichte Blaustrumpf handelt in der orientalisch anmutenden Stadt Ourdh etwa viertausend Jahre vor den Ereignissen auf Paradies. Alyx ist damals etwa dreißigjährig. Sie ist nicht nur mit „intellektuellen Neigungen“ ausgestattet, sondern auch mit den „natürlichen Waffen der Frau“, als da wären „Hinterlist, Schnelligkeit und ein Überraschungsmoment“. Zwar „beeindruck[]en“ sie „weltliche Dinge […] nicht weiter“, doch führt sie ein Leben als „Einbrecherin, ein Beruf, der ihren Feinsinn befriedigt[]“. Als sie die 17-jährige Lady Edarra kennenlernt, die sich einer „Haut, die nicht schöner sein könnte“, rühmen kann, sich aber dennoch „dass Gesicht [pudert]“, verlassen sie gemeinsam die Stadt und stechen in See. So wird die Story zur Entwicklungsgeschichte über die Beziehung zwischen zwei Frauen, die einander im Kampf gegen Männer und andere Unbilden näher kommen.

In Ich dachte, sie hätte Angst, bis sie mir über den Bart strich hat es Alyx nicht mit einer jungen Frau zu tun, sondern – wie der Titel bereits vermuten lässt – mit einem Mann, von dessen „ozeanische[m] Bart“ sie sich durchaus beeindruckt zeigt. Die Story handelt noch vor Blaustrumpf auf einem Schiff. Doch wird zunächst einmal davon erzählt, wie sich die Protagonistin gründlich von ihrem Hausfrauendasein befreite. Das ging nicht ohne Blutvergießen ab. Auf dem Schiff wird sie später erst gegen den Kapitän, dann aber mit ihm kämpfen.

In Die Barbarin bekommt es Alyx, die nun als „schweigende Frau“ und „scharfsinnige, starke Auftragsmörderin“ eingeführt wird, ebenfalls mit einem Mann zu tun, allerdings einem weit gefährlicheren. Es scheint sich um einen Magier zu handeln. Jedenfalls behauptet er, sein „Hobby“ sei es „Welten zu erschaffen“, womit er sich gleichsam zum Gott erhöht. Alyx hat er sich als vermeintlich willige Helferin auserkoren. Ein tödlicher Fehler, wie sich herausstellt.

Die zweite Inquisition unterscheidet sich in mehrfacher Hinsicht von allen anderen Erzählungen. Zum einen kommt Alyx in ihr gar nicht vor, zum anderen tritt in ihr eine Ich-Erzählerin auf. Es handelt sich um eine Nachfahrin von Alyx. Sie lebt noch mit ihren Eltern zusammen, einem stockkonservativen Paar. Er ist ein tyrannischer Nörgler und sie eine unterwürfige Hausfrau, die ihm alles recht zu machen versucht – natürlich vergeblich. Zum dritten ist die Handlungszeit anders als sonst genau datiert und zwar auf das Jahr 1925. Michael Arlens in der Geschichte erwähnter Roman Der grüne Hut erschien allerdings erst 1926. Weit wichtiger aber ist, dass die Protagonistin eine Invasion von Morlocks er- und überlebt.

Eine Vlet-Partie handelt ebenso wie die erste Geschichte in der Stadt Ourdh, in der seit jeher „Bescheidenheit, Keuschheit, Fruchtbarkeit und Toleranz“ als typisch weibliche Tugenden gelten. In der titelstiftenden Partie geht es ums Ganze, das heißt um den Umsturz einer feudalistischen Gesellschaft, die mittels des magischen Brettspiels entschieden wird. Es gleicht entfernt einem Schachspiel, was an den Endkampf im ersten Band der Harry-Potter-Reihe erinnert. Nach hartem Ringen entscheidet Alyx die Partie – allerdings nicht für sich.

Bei allen Unterschieden haben die Alyx-Storys doch die eine oder andere Gemeinsamkeit. So handeln sie ebenso oft vom ‚Kampf der Geschlechter’ wie vom ‚Kampf um das Weib’. Auch muss sich die Heldin in den meisten Geschichten mit unangenehmen Männern herumschlagen. Das ist zwar auch in Blaustrumpf nicht anders. Eigentliches Thema ist hier jedoch ihr durchaus nicht immer harmonisches Zusammenleben mit Lady Edarra. Auch sind immer einmal wieder ganz beiläufig quasi philosophische Überlegungen eingeflochten, die aber nie zu Exkursen ausarten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist der von den beginnenden 1970er Jahren geprägte Stil der Geschichten. Mögen sie auch in fernen Gefilden und ebenso fernen Zeiten handeln, so verwenden die Figuren doch Wendungen wie sie um 1970 geläufig waren. So will ein Mann wiederholt mit Alyx „eine Nummer schieben“.

Der vorliegende Band enthält jedoch nicht nur sämtliche Alyx-Storys, sondern auch verschiedene der anderen frühen, um 1970 entstandenen Publikationen der Autorin. Es sind dies einige Sammelrezensionen sowie zwei Essays. Erstere sind größtenteils im Magazine of Fantasy and Science Fiction erschienen, was allerdings nicht bedeutet, dass Russ dort stets Werke der einschlägigen Genres besprochen hätte. Schon in ihren ersten Besprechungen scheut sie sich nicht, das rezensierte Werk nach allen Regeln der Kunst – und darüber hinaus – zu verreißen. Ein Schicksal, das etwa das Sachbuch The Prometheus Project: Mankind’s Search for Long-Range Goals des Physikprofessors Gerald Feinberg ereilte. Russ geißelt es als „ein so dummes Buch, dass es jeder Beschreibung spottet, unerträglich platt und bar jeglichen Scharfsinns, was seine Logik angeht“. Zudem sei es „auf dem Niveau eines Dorfatheisten geschrieben“ und „alberner als das schlimmste UFO-Gruselbuch“. Über ein anderes Buch, einen SF-Roman urteilt sie, „es sei „eigentlich kein Verbrechen“, ein solches Werk zu schreiben, „aber warum es veröffentlichen“. Der Verlag habe „kein Recht, der Öffentlichkeit dieses Amateurgeschreibsel anzudrehen“. Kate Wilhelms SF-Roman Let the Fire Fall lobt Russ hingegen als „ungewöhnlich intelligent[]“. Zudem sei es „eine Freude, einen Roman zu lesen, in dem Kinderkriegen und Familienleben von jemandem geschildert werden, der etwas davon versteht“. Das einzige Buch aber, das sie uneingeschränkt lobt, ist Shulamith Firestones radikalfeministisches Essay The Dialectic of Sex. Dass Russ auch grundlegenden Irrtümern erliegen konnte, zeigt ihre in einer der Rezensionen getätigte Voraussage, „dass jede katastrophale Unterdrückung, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in Zukunft auftreten kann, dem Namen und dem Wesen nach politisch und in keiner Weise als religiös zu identifizieren sein wird“.

Der erste der beiden in den Band aufgenommenen Essays behandelt Tagtraumliteratur und Science Fiction. In ihm geht Russ der Frage nach, warum man von manchen Büchern angesprochen wird, die ganz offensichtlich weder inhaltlich noch stilistisch etwas taugen. Im zweiten erörtert sie Das Frauenbild in der Science Fiction. Die Wahl seines Titels begründet sie mit dem zumindest damals nicht unberechtigten Befund: „Es gibt eine Menge Frauenbilder in der Science Fiction. Frauen gibt es kaum.“

Wenn Jeanna Cortiel im Nachwort des vorliegenden Bandes behauptet, dass Russ eine „provokant[e], unbequem[e] und konfrontativ[e]“ [Autorin]“ war, so legt jeder einzelne der in dem Buch versammelten Texte beredtes Zeugnis davon ab. Auch ist es keineswegs übertrieben, in Russ „eine[] der faszinierendsten Denkerinnen der Science Fiction und der US-amerikanischen Literatur der 1970er und 80er insgesamt“ zu sehen. Cortiel vergleicht sie daher zu Recht mit James Tiptree jr. und Ursula K. Le Guin. Sie allerdings in einem Atemzug mit Philip K. Dick zu nennen, wie dies von anderer Seite gelegentlich geschieht, würdigt sie geradezu herab.

Einige der Texte liegen schon seit etlichen Jahrzehnten in deutscher Übersetzung vor, sind allerdings ausnahmslos vergriffen. Wichtiger noch ist aber, dass sie nun – wie der Verlag   betont – „erstmals angemessen“ übertragen wurden.

Die Werkausgabe hat mit dem nun veröffentlichten Band einen guten Anfang gemacht. Es wird sogar noch besser weitergehen. Denn der zweite wird mit The Female Man das wohl bedeutendste SF-Werk von Russ enthalten. Dass ist erfreulich. Bedauerlich ist hingegen, dass die Werkausgabe auf nur drei Bände angelegt ist. Eine so herausragende Autorin wie Russ hätte mehr verdient.

Titelbild

Joanna Russ: In fernen Gefilden. Werke 1.
Memoranda Verlag, Berlin 2024.
390 Seiten , 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783910914186

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