Freiheit ist nichts Statisches

Mit „Freiheitsschock“ greift der Berliner Historiker und Ulbricht-Biograph Ilko-Sascha Kowalczuk in die aktuelle Ost-West-Debatte ein

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Seit fast dreieinhalb Jahrzehnten existiert die Deutsche Demokratische Republik inzwischen nur noch in den Köpfen. Dort scheint sie gegenwärtig wieder merklich zu reüssieren. Und es sind nicht allein die Köpfe jener Frauen und Männer, die den Sozialismus ostdeutscher Prägung noch am eigenen Leibe erleben mussten, die mit ihren Gedanken in die „gute alte Zeit“ ausschweifen. Auch aus den einst so genannten „alten Ländern“ zugewanderte AfDler wie Björn Höcke sowie etliche erst nach der Jahrtausendwende unter demokratischen Vorzeichen sozialisierte junge Menschen scheinen wieder von einem „anderen Deutschland“ zu träumen als jenem, in dem sie gegenwärtig leben – ein wahrhaftig irritierendes Phänomen unserer ohnehin an Herausforderungen reichen Gegenwart.

Kein Wunder deshalb, dass der Thematik gegenwärtig mit großer medialer und publizistischer Aufmerksamkeit begegnet wird. Gerade nach den letzten Wahlen in Thüringen, Sachsen, Brandenburg und im Bund, die die politische Landschaft nicht nur im Osten des Landes – aber da besonders tiefgreifend – durcheinanderwirbelten, auch wenn der Um-die-30-Prozent-Partei eine Regierungsverantwortung (vorerst noch?) versagt geblieben ist, scheint Ursachenforschung mehr als geboten. Denn wenn drei von zehn der zwischen Rostock und Suhl, Dresden und Magdeburg lebenden Menschen das Alte dem Neuen vorzuziehen scheinen, muss wohl an Letzterem – beziehungsweise an der verständlichen Kommunikation von dessen Vorzügen – etwas nicht stimmen.      

Es war der Leipziger Literaturprofessor Dirk Oschmann, der 2024 mit seinem Buch Der Osten: eine westdeutsche Erfindung den Finger zuerst in die Wunde legte. In diese legt ihn nun nach diversen anderen Veröffentlichungen auch der 1967 in Ostberlin geborene Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, unter anderem Verfasser einer zweibändigen Biografie des DDR-Staatsgründers Walter Ulbricht, mit seiner Streitschrift Freiheitsschock. Und macht dabei keinen Hehl aus der Tatsache, dass er weder Oschmanns monatelang die SPIEGEL-Bestsellerliste zierendem Buch noch der nahezu gleichzeitig unter dem Titel Diesseits der Mauer erschienenen neueren Aufarbeitung der DDR-Geschichte durch die in London lebende Historikerin und Publizistin Katja Hoyer viel abgewinnen kann.

Dass die „beiden so merkwürdigen Bücher“ ihren nicht zu leugnenden Publikumserfolg vor allem der Tatsache zu verdanken haben, dass in ihnen „das Freiheitsproblem gar nicht vorkommt bzw. so verzeichnet wird, dass die DDR-Geschichte immer mehr wie eine ganz normale Staatsgeschichte angenommen wird“ – davon ist Kowalczuk überzeugt. Und hält dagegen: In der DDR war nichts normal, mit ihr verschwand ein Staat von der politischen Landkarte, der „Hass“ an die oberste Stelle seiner „ideologischen Agenda“ gesetzt hatte, sich als Alternative zur Bundesrepublik Deutschland inszenierte und seinen Bürgerinnen und Bürgern die elementarsten Freiheiten verweigerte.   

Für den Autor, der wie Oschmann und Hoyer – der eine in Gotha, die andere in Strausberg geboren – im Osten Deutschlands aufwuchs, war die DDR nichts anderes als ein „Freiluftgefängnis“. In Oschmanns wie Hoyers Büchern und den nach ihrer Veröffentlichung sich häufenden Debattenbeiträgen finden sich übrigens ähnliche Passagen. Dirk Oschmann freilich beharrt auch auf der Erkenntnis: „Unser früheres Leben wird oft falsch erzählt.“

Bei Ilko-Sascha Kowalczuk klingt das in einem kürzlich publizierten Interview gar nicht so unähnlich. Dort liest man: „Die DDR war ganz anders, als manche Leute sich das heutzutage in ihrer Ostdeutschtümelei zurechtfantasieren.“ Natürlich meint Kowalczuk damit nicht dasselbe wie Oschmann. Denn, um das oben verwendete Bild des Finger-in-die-Wunde-Legens noch einmal zu strapazieren: Auch wenn sich die Gegenwartsanalyse der beiden Autoren ähnlich anhört, so unterscheiden sie sich doch in den Punkten Anamnese, Diagnose und Prophylaxe dieses Zustandes nahezu diametral.   

Freiheitsschock hebt vor allem auf die Tatsache ab, dass die 1989er Friedliche Revolution in der DDR – die für Ilko-Sascha-Kowalczuk wie alle großen Revolutionen ohnehin keine „Mehrheitsveranstaltung“ war, denn „die meisten […] blieben hinter der Gardine stehen und warteten ab“ – die Masse derjenigen, für die und unter deren (vorsichtigem) Beifall sie eigentlich gemacht worden war, überforderte. Und zwar in der Beziehung, dass man die neu eroberte Freiheit in erster Linie als eine des Konsums, des materiellen Wohlstands und des grenzenlosen Reisens verstand, nicht aber als eine des Sich-aktiv-an-der-eroberten-Demokratie-Beteiligens. Als deshalb im Verlaufe der 1990er Jahre „der Westen“ als „Sehnsuchtsort“ allmählich seinen Glanz verlor und die statthabenden Transformationsprozesse auf den unterschiedlichsten Ebenen schmerzhaft zu werden begannen, setzte jene häufig unter dem Begriff der „Ostalgie“ subsumierte Gefühlslage ein, die drei Jahrzehnte später in mehreren ostdeutschen Bundesländern das politische Spektrum komplett durch- und auseinanderwirbelte.

Um seine These zu exemplifizieren, skizziert Kowalczuk, nachdem er zunächst sein Freiheitsverständnis kurz in den Mittelpunkt gestellt hat –  „Freiheit muss ständig neu ausgehandelt werden, sie ist nicht statisch, sondern ein dynamischer, nie den Ideal- oder Endzustand erreichender Prozess“, lautet seine diesbezügliche These –, den Weg „von der Diktatur zu Freiheit und Einheit“, wie er von den Bürgerinnen und Bürgern des östlichen Deutschland genommen wurde. Und hier kommt der Begriff ins Spiel, den der Autor als Titel über sein Buch gesetzt hat: der „Freiheitsschock“.

Kowalczuk versteht darunter jene Angst machende Reaktion vieler der von der DDR-Diktatur Befreiten auf die Zumutungen, die ihr neues Leben in der Demokratie plötzlich mit sich brachte. Wem in der Diktatur alles abgenommen worden war, so postuliert er, war es nicht gewohnt, ständig Entscheidungen treffen zu müssen und sich unablässig um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Jetzt sah man sich plötzlich auf sich allein gestellt – und das überforderte viele, führte zu mannigfachen Enttäuschungen, aus denen später Ablehnung wurde.   

Gerade dass die Ostdeutschen durch ihren Beitritt im Jahre 1990 ihre Freiheit praktisch geschenkt bekamen, während in anderen ehemaligen Ostblockstaaten – Kowalczuk nennt Polen und die baltischen Staaten als Beispiele – hart darum gerungen werden musste, entwertete sie in den Augen der allermeisten. Denn „etwas, das man selbst erkämpft, würdigt man auch“. Geschenktem hingegen schlägt nicht selten nach dem Abklingen der ersten Dankbarkeit und Freude Achtlosigkeit entgegen.       

Kowalczuk begreift die Funktion seiner Streitschrift darin „wachzurütteln“. Denn er sieht sich und sein Land „an einer Wegscheide“ stehen:

Wenn wir jetzt nicht handeln, werden später einmal Widerständler im Untergrund konstatieren müssen: Unsere Zeit war die Zeit, als Demokratie und Frieden preisgegeben wurden, als eine immer größer werdende Gruppe ihre Unzufriedenheit, ihre durchaus nachvollziehbare und zum Teil berechtigte Unzufriedenheit nicht mehr anders aufzulösen wusste, als Demokratie und Freiheit zugunsten autoritärer, diktatorischer, antidemokratischer, unfreiheitlicher und schlussendlich antihumaner Staats- und Gesellchaftsvorstellungen zu opfern.

Auch wenn der Autor Ostdeutschland, das Land seiner Herkunft, als „kleine[n], an sich unbedeutende[n] Landstrich mit wenigen Millionen Menschen im Herzen Europas“ bezeichnet – auch diese Äußerung spitzt zu, wie so manches in seinem Buch (aus gutem Grund, wie er sich wohl verteidigen würde) etwas übertrieben erscheint –, indem es ihm zunehmend als „Labor der Globalisierung, […], einer möglichen düsteren Zukunft“ vorkommt, ist ihm die Lage ernst genug, gegen die Furcht, „mein Leben in der Freiheit könnte von zwei Abschnitten in Unfreiheit gerahmt werden“, anzukämpfen.               

Allein mit Sätzen wie „Wer Nazis wählt, ist für mich selbst ein Nazi. Wer Kommunisten wählt, ist für mich auch ein Kommunist.“ kommt Kowalczuk – wie auch mit seinem bisweilen unangebracht rüden Ton – nicht allzu weit. Denn das übersieht, dass inzwischen viele Wählerinnnen und Wähler in unserem Land taktisch wählen. Das, was man noch vor einem Vierteljahrhundert unter dem Begriff der „Stammwählerschaft“ erfasste, ist inzwischen im Verschwinden begriffen. Wer vor vier Jahren etwa die SPD auf seinem Wahlzettel ankreuzte, kann aktuell durchaus der Meinung sein, dass sein eigener Standpunkt nur von den Grünen, vielleicht auch von der AFD oder dem BSW widergespiegelt wird – über Nacht zum Umweltschützer, Faschisten oder Kommunisten geworden aber sind derlei Wähler, die ihr Wahlverhalten beim nächsten Mal wieder neu anpassen werden, damit noch lange nicht.      

Titelbild

Ilko-Sascha Kowalczuk: Freiheitsschock. Eine andere Geschichte Ostdeutschlands von 1989 bis heute.
Verlag C.H.Beck, München 2024.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783406822131

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