Nicht ohne die Stimme meiner Schwester

Cristina Rivera Garza lässt in „Lilianas unvergänglicher Sommer“ ihre ermordete Schwester zu Wort kommen und testet selbst die Grenzen des Sagbaren aus

Von Jan-Henrik WitthausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan-Henrik Witthaus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dem Schreiben geht häufig eine Katastrophe voraus: Krieg, Krankheit, Verlust oder das Weiterleben ohne die geliebten Menschen, die uns verlassen haben. Das gerät vor allem dann in Vergessenheit, wenn über das Auftauchen künstlicher Intelligenz im Literaturbetrieb diskutiert wird, darüber, was sie kann oder nicht kann. Jenseits kommerzieller Gründe entsteht Literatur dort, wo Menschen nicht anders können, als zu schreibenden Subjekten zu werden. Die Lektüre des hier besprochenen Buches bringt diese Zusammenhänge an den Tag, auch wenn die mexikanische Autorin Cristina Rivera Garza (Jahrgang 1964) schon zu schreiben begann, bevor sie ihre Schwester Liliana durch einen brutalen Mord im Jahr 1990 verlor.

Ebendiesem katastrophalen Ereignis widmet sich Rivera Garza in Lilianas unvergänglicher Sommer, welches in diesem Jahr erstmals in deutscher Übersetzung erschienen ist. Bis zum heutigen Tag hat dieses Buch bereits eine lange Erfolgsgeschichte. 2021 auf Spanisch, 2023 auf Englisch veröffentlich, fand es in Mexiko sowie in den Vereinigten Staaten große Beachtung. Es erhielt bedeutende Literaturpreise wie zum Beispiel den in Mexiko sehr renommierten Xavier Villaurrutia oder im letzten Jahr noch den Pulitzer in der Kategorie Memoiren/Autobiographien. Rivera Garza ist schon seit Längerem als hochdekorierte Schriftstellerin bekannt und hat sich durch ein umfangreiches Oeuvre an Romanen, Erzählungen, Lyriksammlungen und Essays großes Ansehen verschafft.

In Lilianas unvergänglicher Sommer thematisiert die Autorin den Verlust ihrer Schwester, die von ihrem Exfreund, der nachts in ihre Wohnung in Azcapotzalco – ein Randbezirk von Mexico City – eingebrochen war, mit einem Kopfkissen erstickt wurde. Bis heute ist der Täter nicht gefasst. Die unterschiedlichen Teile des Buches kreisen um diese individuelle Katastrophe. Die Autorin belässt es aber nicht dabei, sondern verbindet als studierte Soziologin die persönliche Ebene mit essayistischen Reflexionen über sexualisierte Gewalt und die Ermordung von Frauen in Mexiko sowie in der Welt. Die Thematik des Femizides war schon des Öfteren Teil der erzählenden Literatur Lateinamerikas, besonders prominent im Roman 2666 von Roberto Bolaño. Und sie bleibt aktuell: Laut der UNO-Organisation CEPAL gab es 2022 in Mexiko 976 Femizide. Statista und andere Webreferenzen geben für 2023 übrigens 938 mutmaßliche Fälle in Deutschland an, die, zumeist vollendet, analog einzuordnen sind. Hierzulande existiert bislang kein juristischer Tatbestand mit der Benennung ‚Femizid‘ – im Unterschied zu Mexiko, wo dieser, wie die Autorin schreibt, „erst [!] am 14. Juni 2012“ Eingang in das „Bundesstrafgesetzbuch“ findet.

Testimoniale Erzählliteratur hat in Lateinamerika eine lange Vorgeschichte. Rivera Garzas Buch geht jedoch über diese Texttradition weit hinaus. Denn die Autorin widmet sich literarisch äußerst versiert der Frage, welche Sprache angesichts persönlicher Katastrophen, die traumatische Auswirkungen nach sich ziehen, gefunden werden kann. Sie beginnt ihren Bericht mit dem Problem der Straflosigkeit. Diese beschränkt sich nicht auf den Aspekt, dass der Täter nie gefasst und bestraft wurde. Vielmehr bezeugt die zu Beginn beschriebene Irrfahrt durch die verschiedenen Ämter der Stadt die Unmöglichkeit, die Akte über die Ermordung ihrer Schwester ausfindig zu machen. „Keine Akte ist unsterblich, wissen Sie“, so wird ihr erläutert. Im öffentlichen Gedächtnis der Verwaltung ist ihr Tod nicht auffindbar: „Ohne diese Akte reduziert sich ihre Existenz auf Erden praktisch auf nichts. Die Erinnerung an sie wird ausgelöscht.“

Die folgenden Kapitel werden folgerichtig als ein Gegenarchiv aufgerichtet, eine kleine subversive Bürokratie aus den persönlichen Aufzeichnungen, Dokumenten und Briefen ihrer Schwester – sie hatte alles fein säuberlich sortiert und abgelegt. Diese Hinterlassenschaft wird kombiniert mit Zeitungsartikeln sowie Interviewaussagen von Familienangehörigen und Freunden, die mit Liliana insbesondere während ihrer Studienjahre in Mexiko-City emotional verbunden waren oder mit ihr zu tun hatten. So erweist sich Lilianas unvergänglicher Sommer als eine Kompilation von Familienerinnerungen, Briefen, reformulierten Testimonials und essayistisch-wissenschaftlichen Kommentaren, die nicht nur die Schutzlosigkeit von Frauen vor Augen führen, sondern zudem den sozialen Druck zeigen, mit dem die Angehörigen getöteter Frauen moralisch verurteilt und mundtot gemacht werden. Auf diese Weise wird nach Lilianas Ermordung auch noch ihr Andenken annulliert. Demgegenüber bringt das Buch die Geschichte einer jungen Frau zum Vorschein, die wegen ihres Geschlechtes in ihrem Heranwachsen, in der Entfaltung ihrer Freiheits- wie Entwicklungsbedürfnisse ausgelöscht wurde. Ein Auslöschen, das sich im Einklang mit gesellschaftlichen Strukturen zutrug beziehungsweise von diesen unterstützt wurde und wird.

Es handelt sich um keine leichte Lektüre. Formal ergibt sich der Eindruck einer Collage, einer Stimmenvielfalt, die eine Vielzahl von Perspektiven und Nuancen integriert. Die Stimme der toten Schwester ist in diesem Zusammenhang äußerst stark repräsentiert: „Die Versuchung, Lilianas Leben angesichts der überwältigen patriarchalen Gewalt als das eines hilflosen Opfers zu zeichnen, war groß.“ So die Autorin. „Darum habe ich mich entschieden, sie selbst sprechen zu lassen.“ Inhaltlich ist die Herausforderung, welche die Lektüre darstellt, offensichtlich und allgegenwärtig. Dennoch: Obwohl von Anfang an bekannt ist, wie es enden wird, ergeht vom Text die pausenlose Aufforderung weiterzulesen. Und das funktioniert. Dies liegt zum einen an der Weise, wie die persönliche Ebene mit der Reflexion, aber auch mit der politischen Aussage verwoben wird, ohne dass dabei der sensible Grundton verletzt würde. Zum anderen liegt es an der Sprache und ihrer Bereitschaft, sich dem Unaussprechlichen auszusetzen, so zum Beispiel in der Beschreibung von Lilianas zurückgelassenem Zimmer:

Weinen ist ein zivilisierter Akt. Aber was hier passiert, in diesem Zimmer, wo die Vergangenheit nie vergehen wird, das ist jenseits aller Zivilisation. Ein Schrei ist ein spitzes, schrilles Geräusch, energisch oder gewaltvoll. Ein Schrei drückt in der Regel Schmerz oder Angst aus. Aber was sich in diesem Raum ausbreitet, was niemand hört und doch die Luft zerreißt, das kommt aus einer unbekannten Welt und kommuniziert zugleich mit Welten, die noch ungeboren sind. Was auch immer es ist, es hat keinen Namen.

Vielleicht handelt es sich hierbei um die grausame, verstörende Geburtsstunde des rezensierten Buches selbst: Welten, die nunmehr geboren worden sind und dringend auf kommunikativen Anschluss angewiesen sind, um ihren Fortbestand zu sichern.

Lilianas unvergänglicher Sommer ist überfordernd und gleichzeitig dringend zu empfehlen, weil die Überforderung in der Natur der Sache liegt, welche dringend zur Sprache und Kenntnisnahme kommen muss. Johanna Schwering hat sich mit ihrer überaus gelungenen deutschen Übersetzung diesem schwierigen Unterfangen gestellt und ist damit dem literarischen Gestus des Ausgangstextes gefolgt. Typographisch hat der Verlag die unterschiedlichen Texte (Briefe, Notizen, Zeitungsartikel etc.) sehr ansprechend gestalten können. Fotos nicht nur von Personen, sondern auch von Dokumenten und Schriftstücken ergänzen die hier vorgelegte literarische Erinnerungsarbeit. Es wäre sehr zu wünschen, dass diesem Buch beim deutschen Lektürepublikum eine hohe Aufmerksamkeit zu Teil würde.

Titelbild

Cristina Rivera Garza: Lilianas unvergänglicher Sommer.
Aus dem Spanischen von Johanna Schwering.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2025.
330 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783608966749

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