Und jedem gibst Du tausend Gestalten

Die Ausgabe der Gesammelten Briefe Walter Benjamins ist abgeschlossen

Von Geret LuhrRSS-Newsfeed neuer Artikel von Geret Luhr

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ihm bleibe nicht die Zeit, um jene Briefe zu schreiben, die er gerne schreiben würde. Denn "dans une situation sans issue, je n'ai d'autre choix que d'en finir". Diese Mitteilung über seinen unmittelbar bevorstehenden Selbstmord richtete Walter Benjamin am 25. September 1940 brieflich an Henny Gurland. Benjamin bat in seinem Schreiben, man solle doch bitte seinem Freund Adorno erklären, was es mit dieser ausweglosen Situation auf sich gehabt habe, warum ihm in Port Bou keine andere Wahl geblieben sei, als dem Leben ein Ende zu setzen. Der Brief trägt die Nummer 1378 und schließt als letztes Dokument des sechsten Bandes die Ausgabe der "Gesammelten Briefe" Walter Benjamins ab.

Seit 1995 erscheinen die in blaues Leinen gebundenen Bücher turnusmäßig, in jedem Herbst ein neuer Band. Schon das ist bei einem derartigen Projekt eine erstaunliche Leistung, die es den Lesern und vor allem den Forschern ermöglichte, genau zu berechnen, zu welchem Zeitpunkt sie welchen Abschnitt der Korrespondenz Benjamins erhalten würden. Für die Forschung bedeutete das zugleich, den Zeitpunkt bestimmen zu können, an dem zuallererst ein präziser Blick auf das Leben und Arbeiten Walter Benjamins möglich sein würde. Um der Präzision willen sei angemerkt, dass der sechste Band sowohl Nachträge inzwischen aufgefundener Briefe enthält sowie ein sehr nützliches Gesamtregister der erwähnten Personen und der Werke Benjamins.

Sicherlich, es gab auch bisher eine Edition der Briefe Benjamins. 1966 hatten seine Freunde Gershom Scholem und Theodor W. Adorno eine zweibändige Auswahl zusammengestellt, die jedoch unverzüglich in die Kritik geriet. Man warf den beiden vor - unter den Kritikern befanden sich unter anderen Helmut Heißenbüttel und Hannah Arendt - , mit der Auswahl und durch die Kürzung zahlreicher Briefe ein stark einseitiges Bild Benjamins konstruiert zu haben, ein Bild, das vor allem den Marxisten Benjamin soweit wie möglich ausgespart habe. Von Textmanipulation war die Rede. Schließlich heizte die Stimmung sich im Zuge der Studentenrevolte derartig auf, dass die Haltung in der Frage der Benjamin-Briefausgabe zu einer Art Gesinnungsprobe wurde. Dementsprechend aufmerksam wurde die neue, Vollständigkeit anstrebende Ausgabe begutachtet. Doch auch die schärfsten Kritiker der Frankfurter Benjamin-Philologie fanden für sie stets nur lobende Worte. Das Herausgeber-Team, bestehend aus Christoph Gödde und Henri Lonitz, hatte sich in den zum Teil umfangreichen Kommentaren weise aller Wertungen und Interpretationen enthalten und seinen Arbeitseifer stattdessen in die Erörterung von biographischen und bibliographischen Details gesteckt: Details, die für die Forschung von kaum zu überschätzendem Wert sind. Sollte jemand auf die Idee kommen, eine neue Benjamin-Biographie schreiben zu wollen, für seine Arbeit bräuchte er inzwischen nichts über die sechs Bände der Briefausgabe hinaus, die alles Wissenswerte enthalten oder doch auf es verweisen. Doch auch die Philologie wird auf die neu edierten Briefe Benjamins und auf die Kommentare von Gödde-Lonitz in Zukunft nicht mehr verzichten wollen.

"Man unterschätzt heute Briefwechsel", schrieb Benjamin im Umfeld seiner Brief-Anthologie "Deutsche Menschen", weil sie "auf den Begriff der Autorschaft völlig schief bezogen werden; während sie in Wahrheit dem Bezirk des 'Zeugnisses' angehören, dessen Beziehung auf das Subjekt so bedeutungslos ist, wie die Beziehung irgendeines pragmatisch-historischen Zeugnisses (Inschrift) auf die Person seine Urhebers." Zeugnisse sind die Briefe Benjamins, die in den drei letzten Bänden der Ausgabe versammelt sind, in der Tat. Gefärbt durch den einzigartigen Blick seines Intellekts und seines sprachlichen Genies produzieren sie ein differenziertes Panorama der geistigen und politischen Verhältnisse in Europa zwischen 1930 und 1940. Früh sieht Benjamin die braunen Wolken am Horizont aufziehen; angesichts der politischen Entwicklung herrscht Dunkelheit auch in den Jahren des Exils. "Europa ist doch ein Kontinent", teilt er Gretel Adorno im Frühjahr 1939 mit, "in dessen tränenschwere Atmosphäre die Leuchtraketen des Trostes nur noch selten mit Glück auffahren." So legen Benjamins Briefe Zeugnis ab vor allem von Unglück: von dem Unglück des Schriftstellers, der in der Emigration den Verlust nicht nur der Heimat, sondern mit seiner Sprache auch den jeglicher Existenzgrundlage zu beklagen hat, von dem Unglück des Intellektuellen, der mit ansehen muss, wie die politischen Feinde immer mehr an Macht und Einfluss gewinnen, während die Front der Antifaschisten zunehmend erodiert, von dem Unglück der Millionen Flüchtlinge, die, Juden zumeist wie Walter Benjamin, erst ihre Freunde und Verwandten und schließlich ihr eigenes Leben verlieren.

Zeugnis legen Benjamin Briefe - entgegen seiner eigenen Behauptung - jedoch auch und vor allem vom Wesen ihres Autors ab. Mit jedem Brief kommt eine neue Facette hinzu, alle jedoch haben eine unverkennbare Ähnlichkeit. Wer sonst als Walter Benjamin, den das "bucklichte Männlein" nicht verlässt, hätte Sätze schreiben können wie die folgenden, die er im Mai 1939 an Karl Thieme richtete: "Verzeihen Sie im übrigen, wenn ich heute kurz bin. Ich muss die Tage, da ich die außerordentliche Bibliothek von Pontigny zur Verfügung habe, nach Möglichkeit ausschöpfen. Stünde die Ruhe, die das seelenhafte Element einer solchen Bücherei ist, mir zur Verfügung, so wären Arbeit und Erholung für einmal eines und das selbe. Leider schließt eine Art Unterrichtsbetrieb für sehr junges Volk das aus. Ich verbrauche soviel Kräfte wie in Paris wenn nicht mehr." Der stetige Wechsel von immer schon melancholisch getrübter Hoffnung und prompter Enttäuschung ist das kennzeichnende Merkmal des Benjaminschen Lebensvollzugs während der Jahre des Exils.

Eine Enttäuschung war schließlich auch die große Liebe, die Benjamin zwischen 1933 und 1934 mehr erlitt als erlebte, eine Liebe, von der erst die in Band IV edierten Briefe eine genauere Vorstellung vermittelten. "Du bist", schrieb Benjamin an Maria Blaupot ten Cate im August 1933, "was ich an einer Frau je habe lieben können: Du hast es nicht, Du bist es vielmehr. Aus Deinen Zügen steigt alles, was die Frau zur Hüterin, zur Mutter, zur Hure macht. Eines verwandelst Du ins andere und jedem gibst Du tausend Gestalten. In Deinen Armen würde das Schicksal für immer aufhören, mir zu begegnen. Mit keinem Schrecken und mit keinem Glück könnte es mich mehr überraschen." Diese Hoffnung erfüllte sich nicht, immer neue Schrecken waren dazu angetan, Benjamin jeweils von neuem zu überraschen: wobei eine der letzten großen Enttäuschungen für ihn der Hitler-Stalin-Pakt des Sommers 1939 gewesen ist. Am 17. September 1940 schrieb er an Alfred Cohn, dass eine starke Depression ihn befallen habe. Der wenige Tage später erlebten Enttäuschung, nicht sofort über die französisch-spanische Grenze gelassen zu werden, hielt Walter Benjamin schließlich nicht mehr stand.

Titelbild

Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 6. 1938-1940.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
629 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3518582925

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