Systemfeinde

Karol Sauerlands Geschichte der Denunziation

Von Thomas NoetzelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thomas Noetzel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein erster Blick auf das Phänomen der Denunziation unliebsamer Zeitgenossen führt zu der Vermutung, hier habe man es vor allem mit einem Funktionsaspekt totalitärer Herrschaft zu tun. Folgerichtig beschäftigt sich auch der polnische Literaturwissenschaftler Karol Sauerland zu Beginn seiner Untersuchung mit der Praxis des Anzeigens und Anschwärzens im "Dritten Reich" und im "KGB-Reich". Die präsentierten Fallbeispiele lesen sich als interessante Empirie der Verknüpfung von Herrschaftssystem und individueller Handlung, denn ohne die massenhafte Bereitschaft, andere ans Messer zu liefern, bräche jede staatliche Macht zusammen.

Allerdings sind nicht nur die totalitären Systeme auf die Mitarbeit der Herrschaftsunterworfenen bei der Benennung der Systemfeinde angewiesen. Diese Notwendigkeit der Kennzeichnung gefährlicher Abweichung gilt auch für liberale, parlamentarische Formationen, die geradezu auf das staatsbürgerliche Engagement als Rechtfertigungsgrund ihrer Überlegenheit über totalitäre Nischengesellschaften setzen. Der Unterschied besteht vor allem in der Breite zugelassener Abweichung. Gerade weil Demokratien gelernt haben, ihre Funktionalität nicht an individuelle religiöse oder moralische Überzeugungen zu binden, müssen diese auch nicht staatlich kontrolliert werden. Die Elastizität pluralistischer Ordnungen reduziert den staatlichen Bedarf nach Ausspähung des Privaten, ja verbietet diese sogar durch die das Individuum schützenden Grundrechte. Nehmen solche Denunziationen privater Handlungen zu - wie etwa in Zeiten öffentlicher Hysterie deutlich zu beobachten ist -, dann steht immer die demokratische Qualität des Gemeinwesens zur Debatte. Der demokratische Rechtsstaat hat sich dann quasi totalitär infiziert. Dass gleichwohl das Anzeigen, Zutragen, Bespitzeln usw., das ja auch in Demokratien vorkommt, in der Regel nicht als Denunziation verstanden wird, hängt neben der geringeren Bandbreite gewünschter Informationen mit der pejorativen Bedeutung des Begriffs zusammen. Wie Sauerland an vielen Beispielen zeigt, ist der Denunziant in allen Systemen eine negative Figur. Sogar die Totalitarismen wehrten Denunziation ab, verboten sie unter Umständen sogar und erklärten gleichzeitig solche Handlungen zur notwendigen solidarischen "Kritik und Selbstkritik" oder zur "Wachsamkeit". Mit der Denunziation ist es wie mit dem Verrat: das sind immer nur die Praktiken des jeweiligen Gegners. Den Verrat und die Denunziation lieben viele, Verräter und Denunzianten liebt niemand.

Über die Funktionalität der Kennzeichnung abweichender gesellschaftlicher und politischer Handlungen hinaus beweist sich in der Denunziation die physische Macht des Staates, denn der Anzeigende will ja gerade die Bestrafung des Angezeigten, seine Einkerkerung, Folterung, Ermordung. Denunzierende sind also mittelbare Täter und als solche nach einer Transformation des politischen Systems häufig selber bestraft worden. Allerdings ist die massenhafte Denunziation für die Machtapparate auch problematisch. Die eingehenden Anzeigen, das Durchgesickerte, das Hintertragene können mitunter gar nicht erfasst und bearbeitet werden; dem Staatsschutz wird es unmöglich, Wichtiges von Unwichtigem zu trennen. Im Geschwätz der Zuträger verschwindet die relevante Information. Und das Anschwellen des Geräuschs des ubiquitären Verdächtigens und Beschuldigens ist darüber hinaus oft persönlichen Motiven geschuldet.

Sauerlands Fallbeispiele sind voll von persönlichen, meist familiären Intrigen, betrieblichem Neid, politischem und sozialem Konkurrenzkampf, alkoholgetränkten Wirtshausstreitigkeiten. Hier wird deutlich, dass die Denunziation auch deshalb als besonders verwerflich gilt, weil ihr etwas kleinbürgerlich Gemeines anhaftet. Sie ist die Rache der Geduckten, die sich als Pilotfische des Leviathan endlich Macht verschaffen können. In der Denunziation wird der staatliche Gehorsamsbefehl für private Interessen instrumentalisiert. Der Denunziant ist der Parasit der Macht. Er löst deshalb bei ihr, die er so liebedienerisch versorgt, Misstrauen aus. Die unaufgeforderte Bereitschaft, andere dem Moloch auszuliefern, lässt andere Motive als legitime, staatserhaltende vermuten. Deshalb verwundert es auch nicht, dass der "reine" Denunziant, im Idealfall das für unschuldig gehaltene Kind, von Herrschaftsapparaten verzweifelt gesucht wird, aber selten auftritt. Sauerland erzählt in diesem Zusammenhang die Geschichte des Pawlik Morosow, einem 14-jährigen Bauernsohn, der Anfang der dreißiger Jahre seinen Vater und viele Bauern der Umgebung wegen Fälschung von Leumundszeugnissen und Getreidehortung anzeigte. Nach der Ermordung Morosows durch den sowjetischen Inlandsgeheimdienst, der diesen Märtyrertod Pawels Verwandten vorwarf, drei von ihnen deshalb hinrichten liess und dadurch die Kulaken der Gegend so terrorisierte, dass diese ihren Widerstand gegen die Zwangskollektivierung weitgehend aufgaben, entwickelte sich geradezu ein Morosowkult. Maxim Gorki bat etwa beim 1. Allunionskongress der Sowjetschriftsteller die Regierung darum, "dem Schriftstellerkongress die Erlaubnis zu geben, dem Heldenpionier Pavel Morosov ein Denkmal setzen zu dürfen." Sei dieses Kind doch "von seinen eigenen Verwandten umgebracht worden, weil [es] die schädliche Rolle seiner Blutsverwandten erkannt und die Interessen des werktätigen Volkes seiner Verwandtschaft mit jenen vorgezogen hatte". Zu den Morosow-Denkmalen gesellten sich bald Morosow-Plätze, -Straßen und -Pionierhäuser. Im kindlichen Denunzianten beweist sich die Wahrhaftigkeit der staatlichen Ordnung, die gleichsam neue Menschen, mit neuen Identitäten und Loyalitäten züchtet. In seiner Naivität vereinen sich Sponaneität und staatlicher Auftrag. Das ist die Denunziation, die die Macht will.

Sauerlands "Silberlinge" sind voll von solchen Geschichten, wobei insbesondere immer wieder Beispiele aus der DDR und Polen herangezogen werden. An diesen ersten Teil der Nachrichten aus den totalitären Reichen schließt sich ein zweiter Teil an, in dem der Autor versucht, die vielen Einzelbelege zu ordnen und zu einer Theorie der Denunziation zu verdichten. Dieses Unternehmen misslingt allerdings. Zwar fallen auch in diesen Abschnitten interessante Mitteilungen, etwa zur Etymologie und Geschichte der Denunziation an, aber letztlich glückt eine Systematisierung nicht. So verstrickt sich Sauerland in Widersprüche, wenn er die Denunziation an die modernen politischen Gesellschaften umfassender Teilhabe, also an totalitäre und liberale Demokratien bindet und gleichzeitig immer wieder Beispiele für Denunziationen aus der Antike, dem Mittelalter usw. zitiert. Ähnlich unscharf sind auch seine Abgrenzungen zum Verrat, dessen Merkmale des Loyalitätsbruchs und der Konversion des Verräters über die Eigenschaften der Denunziation weit hinausgehen. So ist Judas, dessen Verrat dem Band seinen Titel verleiht, eben kein Denunziant, sondern Verräter. Das wiegt schwerer, weil denunzieren keine Treuebeziehung zum Denunzierten voraussetzt. Der Verräter kann aber nur wirksam werden, weil er als Schmarotzer der Loyalität sich in besonderer Nähe zu seinem Opfer aufhält und an Geheimnis und Vertrauen mästet. Schon diese Herausgehobenheit verleiht dem Verrat - im Gegensatz zur massenhaften Denunziation - etwas Elitäres. In der Denunziation beobachtet die Macht das alltägliche Verhalten und Handeln der einzelnen. Verrat ist immer außergewöhnlich und bietet sich deshalb auch - wieder im Gegensatz zur Denunziation - als Thema literarischer und ästhetischer Bearbeitung an. Hätte Sauerland mit diesem Unterschied zwischen Verrat und Denunziation operiert, dann wären ihm sicherlich bei der Deutung seines breit präsentierten Materials über Spitzel, Informanten, Anschwärzer aufschlussreichere Beobachtungen gelungen. Aber auch so lohnt die Lektüre des Buches, weil gemeinhin über die Funktionalität politischer Pathologien - und zu diesen ist die Denunziation zu zählen - nur moralisiert, aber wenig nachgedacht wird, und Stoff zum Nachdenken wird hier reichlich präsentiert.

Titelbild

Karol Sauerland: Dreißig Silberlinge. Denunziation - Gegenwart und Geschichte.
Verlag Volk & Welt, Berlin 2000.
400 Seiten, 22,50 EUR.
ISBN-10: 3353010971

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