Geistererscheinungen, Gestaltwechsel, Metamorphosen
Neue Sekundärliteratur zu Arno Schmidt
Von Peter Kock
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseIn der Edition Text und Kritik sind schon eine ganze Reihe kommentierender Handbücher zu den Romanen von Arno Schmidt erschienen, denen nun ein Band zu Schmidts Kurzroman von 1951, "Brand's Haide", quasi zum 50-jährigen Jubiläum zur Seite gestellt wird. Er ist, wie viele der Arbeiten, die in der ganz spezifischen Arno-Schmidt-Forschungslandschaft erscheinen, von großer Detailfülle und immenser Fleißarbeit geprägt. Man erhält zu fast jeder gewünschten Stelle die Hinweise auf Anspielungen, die Schmidt auf seine Lieblingsautoren (Wieland, Fouqué, Poe usw.) eingearbeitet hat; man erhält den Verweis auf vergleichbare Passagen in seinem eigenen Werk, so dass man einen überzeugenden Eindruck gewinnt, wie dicht dieses Schmidt'sche Opus, bei all seinen Schrulligkeiten, gearbeitet ist und wie faszinierend es immer noch wirkt; man erhält jeden belegbaren Nachweis auf Autobiographisches in der Fiktion.
Dennoch entgeht Schwier, bei allen Verdiensten, nicht immer der Gefahr der Überinterpretation und des Sich-Verirrens im Dschungel der Intertextualität. Wenn beispielsweise angesichts der häufigen Verwendung der Ziffer 8 in "Brand's Haide" spekuliert wird, sie stünde für "weiblich" und "Fülle", wenn auf die Verwendung der liegenden Acht als Symbol für Unendlichkeit verwiesen wird, was natürlich wiederum als Symbol für weibliche Brüste und Körperöffnungen stehe usw. - dann erinnert das stark an die Vom-Hölzchen-aufs-Stöckchen-Methode in den Studien Theweleits, wobei Letztere aber gemildert erscheinen durch die leitenden Fragestellungen, die durch die ganze Materialfülle hindurch aufrechterhalten und immer wieder verfolgt werden. Andererseits darf man dies von einem Handbuch auch nicht erwarten.
Dennoch fragt man sich, ob nicht etwas weniger manchmal mehr gewesen wäre. Wenn etwa der Erzähler beim Anblick einer Gruppe von Schulkindern kommentiert, "ganz einfach: wie die Kaninchen", werden wir gleich belehrt: "Kaninchen gelten sprichwörtlich als sehr fruchtbar". Also das dürfte doch wirklich vorausgesetzt werden. Zu "Stille Nacht, Heilige Nacht" erhalten wir den Hinweis, dies sei ein Weihnachtslied von Autor XY, manche französische Wendungen wie "fermez la porte" oder "quantité négligeable" werden schlicht übersetzt, und was die HJ war, erfahren wir immerhin auch noch auf 14 Zeilen. Nützt jemandem die Information angesichts von "Knorrs Suppenwürfel", dass die entsprechende Nahrungsmittelfirma im Jahre 1899 gegründet wurde? Man sollte aber gerecht sein und zugute halten, dass das, was dem/der einen etwa noch geläufig ist (Formeln à la "Persil bleibt Persil", Namen wie Buli Bulahn o. ä.), jüngeren Lesern nicht mehr unbedingt bekannt sein muss - und Schmidts Romane sind ja in hohem Maße zeitgenössische Romane. Es ist also immer schwer, die entsprechende Abgrenzung zu finden, mir scheint aber, dass der Autor darüber weniger reflektiert, als vielmehr begeistert alles aufgenommen hat, was ihm an Material zu entschlüsseln möglich war. Behauptet Schwier doch auch, und zwar grundsätzlich, schon "Brand's Haide" sei "ein Buch, das sich nicht auslesen läßt". Sofern dies nicht die bloße Trivialität meint, dass jedes fiktive Werk jeweils neu rezipiert werden kann, ist doch die Zitat- und Anspielungsfülle von einem bestimmten Punkt an einmal erschöpft: es gibt sich hier eher die Ehrfurcht der Anhänger Schmidts vor dem Œuvre ihres Meisters zu erkennen, die, wie jeder Sektenkult, unangenehm berührt. Wenn Schwier in seinem Vorwort Jörg Drews dankt, der auch heute noch mehr oder weniger die universitäre Forschung zu Arno Schmidt zu koordinieren scheint (die außeruniversitäre, publizistische wird, so könnte man sagen, von der Arno-Schmidt-Stiftung gefiltert), tut Schwier dies mit der Aufforderung: "Wir erheben uns von den Plätzen!" Nein, tue ich nicht, weil mir diese Infizierung der Jünger mit den Sprachmarotten und Lieblingsformulierungen ihres Autors schon seit Jahrzehnten auf die Nerven geht. Schmidt-Leser und Leser der Schmidt-Forschungsarbeiten wissen gleich, was ich meine, wenn dort von Formeln wie "und wenn es hoch kommt - und oft kommt es einem hoch...", oder "das kann nur jemand sagen, der keine Krempe mehr am Hut hat" und Ähnlichem wimmelt. Was im Original witzige Formulierungen sind, klingt im Mund der Jünger nur noch schal. Und es droht vor allem, die Kritikfähigkeit einzuschränken.
Frei von diesen Zügen ist nun allerdings die ganze umfangreiche Arbeit von Drews über Schmidts Werk selbst, der sich immer auch um übergreifende theoretische Fragestellungen bemüht und versucht hat, entsprechende Untersuchungen anzustoßen. Das drückt sich auch im zweiten Band aus, den Studien über "Zettel's Traum" (Warum schrieb Schmidt eigentlich immer das "falsche", englische Genetiv-s mit Apostroph, das einem mittlerweile in jeder "Harry's Frittenboutique" aufstößt?) Im Vorwort benennt Drews klar das Unbehagen, auf das der Riesenwälzer auch bei Schmidt-Begeisterten stößt und das der Grund dafür ist, dass es keine zusammenhängende Forschung über das Werk gibt. Dieser monumentale Essay-Roman mit seinem "so monoman vorgetragenen wie knolligen Hypothesen-Bündel namens Etym-Theorie" hat es eben nicht vermocht, die Unterwerfung der Leser in größerem Umfang zustande zu bringen, das Opfern einer beträchtlichen Anzahl von Lesens- und Lebenszeit für dieses wahrhaft knollige Stück Buch. Ein Kultbuch, wie Drews schließt (und dessen Inthronisierung eine eigene Untersuchung von Gregor Stick gilt), ist "ZT" eben dadurch geworden, dass die übergreifende Theoriebildung hinter dem Werk zu dünn ist für das, was der Autor an Materialfülle ausgebreitet hat. Und interpretierend diese Methodik nachliefern zu wollen, scheitert letztlich an dem, was Helmut Heißenbüttel, wie Drews zitiert, das "undurchschaute Selbstverständnis" Schmidts genannt hat. Man kann es auch ein Theorie- und Methodendefizit nennen. Der Vergleich mit Arno Holz' "Phantasus", mit Raymond Queneaus "Cent mille milliardes de poèmes", Rohner-Radegasts "Kinderblitz", Marianne Fritz' Werk deutet ja darauf hin, dass es nicht einfach um die schiere Quantität des Werkes geht. Halten wir dem andere Epochenwerke, die ähnlichen Ziegelsteinumfang haben, wie Peter Weiss' "Ästhetik des Widerstands", Musils "Der Mann ohne Eigenschaften", Prousts "Recherche", Sartres Flaubert-Analyse gegenüber, so merkt man auf den ersten Blick, dass hier jeweils Fragestellungen ganzer Epochen mitverhandelt wurden und das Interesse von Lesern dadurch gefesselt werden konnte. Die Werke der ersten Kategorie aber, und zu ihnen ist "Zettel's Traum" zu zählen, gleichen den Mangel an analytisch-essayistischer Schärfe mit der Herausbildung von Privatsprachen aus, deren sprachliche Brillanz im umgekehrten Verhältnis zu ihrer theoretischen Tiefe zu stehen droht. Schmidts gesprächsweise vorgebrachte Ansicht, "ZT" sei ein Buch, das alles sagt, was "dem Menschen überhaupt möglich ist und was ihm interessant ist und auf viele Jahrtausende interessant sein wird": "Was stünde nicht in 'ZT'?" usw. beweist die Selbsttäuschung, der der Autor in seinem Heidedorf, nur noch grimmige Blicke per Fernseher auf seine Gegenwart werfend, aber sie nicht mehr verstehend, unterlegen ist und aus der er sich erst mit der Novellen-Komödie "Die Schule der Atheisten" wieder etwas herausschreiben konnte, bis er seinen Idiosynkrasien, seinem Kulturpessimismus, seinen Ressentiments in "Abend mit Goldrand" endgültig erlag.
Was kann angesichts dieses Dilemmas Drews und Plöschbergers Versuch, eine Zwischenbilanz zu ziehen, überhaupt leisten?
Nun, ein gutes Drittel des Bandes besteht aus Dokumenten, aus denen man die Publikationsgeschichte des Werkes erfährt und vor allem die ganze Raubdruckaffäre noch einmal, auch aus Sicht der Raubdrucker, nachlesen kann. Der Studienteil setzt dann ein mit einer Untersuchung des Zusammenhangs des Motivs der Kinderschaukel in Verbindung mit dem "Pygmalionismus" (Wunsch nach Loslösung vom Trieb). Ja, so obskur-detaillistisch sind manche Untersuchungen der Schmidtianer mittlerweile. Unbestritten gelingt es Rudi Schweikert, eine Fülle von Material beizuziehen und Motivverknüpfungen nachzuzeichnen, aber: so what? Er selbst meint ja, Interpretieren sei eigentlich gar nicht mehr möglich, "Das Andeuten von An-Deutungen dürfte das interpretierend gerade noch Leistbare sein". Da ist sie wieder, die Geste der Unterwerfung vor dem dicken Buch, mit der man sich selbst der Möglichkeiten des kühnen Zugriffs beraubt, den gerade solche hermetischen Großwerke erheischen, auch wenn man ihnen dadurch vielleicht nicht in vollem Umfang gerecht werden kann. Und man wird dann auch zur Kapitulation gezwungen, wenn Schweikert beispielsweise beim Durchgang durch das Motivknäuel, das er sich vorgenommen hat, auf einen Verlobungs-Venusring stößt, den er nicht recht einordnen kann: "Inwieweit dieses 'Damoklesschwert' auch über Daniel Pagenstecher hängt, lässt der Text offen. Mitschwingen im Gespinst der Myriaden von 'Textfäden', die wiederum Myriaden von Verbindungen eingehen, wird der Venusring wohl schon" - ja, irgendwo im Dschungel findet sich sicherlich noch ein Plätzchen auch für dieses Schmuckstückchen.
Anschließend folgen drei Studien von Jan-Frederik Bandel, Sabine Kyora und der Mitherausgeberin Doris Plöschberger, die sich auf das Geisterhafte, das Maskenspiel, die Gestaltwandlungen im Romanverlauf konzentrieren, ferner ein Aufsatz von Robert Weninger, der den Zeitbegriff in "ZT" analysiert. Dies sind nach meinem Eindruck die Arbeiten, die die spezifische Ästhetik des Werkes am eingehendsten erörtern. Kyora weist nach, dass das Schattenhafte der Figuren im Roman, die Masken, die sie tragen und die sich verselbständigen und von deren Spiel auch der Dauer-Etymanalytiker Pagenstecher ergriffen und gespielt wird, einen "möglichen Ausgang aus dem Zwangssystem der Etyms" weist. Kein Zufall, dass die Analyse bei dem Karnevalesken, dem Blocksberghaften des Werkes endet. Plöschberger zeigt ihrerseits an einer konkreten Verwandlungsszene, dass deren anarchische Mehrsinnigkeit im Grunde "in Kontrast steht zur analytischen Strenge der prosaischen Passagen"; die Metamorphosenszenen, in denen Menschen in Pferde verwandelt werden und vice versa, gäben den Texten Poes ihre ästhetische Autonomie zurück, "sie sind Mimesis dessen, was die Etymtheorie nur deskriptiv zu vergegenständlichen vermag". Mehr noch, hier scheint Schmidt in seiner Fiktion die Borniertheit seiner eigenen Methode zu überschreiten. Wenn a nicht nur, "eigentlich", für b steht, sondern sich a und b wechselweise ineinander verpuppen und dies den Fiktionsprozess selber ergreift, scheint sich hier ein Stück unbewusster Dialektik durchzusetzen, die die Intentionen des Autors hinter sich lässt.
Hinter die Qualität dieser Studien - und ich halte es nicht für Zufall, dass sie von Frauen stammen, die doch in der Schmidt-Leser- und Forscherschaft eine deutliche Minderheit bilden - fallen die übrigen Aufsätze etwas zurück. Eher Belangloses wie die Frage, inwieweit die Bargfeld'sche Topographie Eingang ins Werk gefunden hat, steht neben einer Interpretation der Klassiker-Nennungen in "ZT": alles ganz interessant zu lesen, aber ohne analytischen Erkenntnisfortschritt.
Insgesamt aber spiegeln diese beiden Bücher den Stand der Schmidt-Forschung gut wieder. Ich selbst, der ich seit 1968, als Schüler noch, Arno Schmidt gelesen habe und meine Examensarbeit über Schmidt im Vergleich zu Arno Holz schrieb, habe dabei immer eher einen Bogen um "Zettel's Traum" gemacht. Zumindest bin ich jetzt ermuntert worden, die entsprechenden Bücher IV und VII, in denen es vor allem um Geistererscheinungen, Gestaltwechsel, Metamorphosen usw. geht, zu lesen, wenn demnächst im Auftrage der Arno-Schmidt-Stiftung die gesetzte Ausgabe erscheint, über deren Fortschreiten der Setzer Forssman in dem Materialienband ebenfalls unterrichtet.
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