Apologie der Avantgarde aus dem Barock
Thomas Klings "Botenstoffe”
Von Alexander Müller
Der erste Aufsatz in Thomas Klings neuem Buch gibt Ton und Richtung aller folgenden an: "Im Rahmen des allgemeinen Kassensturzes des 20. Jahrhunderts ist nichts so billig geworden, wie das Abqualifizieren der ästhetischen Avantgarden", schreibt er bezüglich des zeitgenössischen "Avantgarde-Bashings". Es ist offensichtlich, dass Kling nun zu deren Verteidigung ansetzen wird und die Schuldigen benennt. Er selbst, einer der innovativsten Lyriker der Gegenwart, beruft sich schließlich auf diverse Traditionen der historischen Avantgarde. Hier schreibt also jemand, der sich angegriffen fühlt und der ein Anliegen hat. Aber ist das nicht einer der besseren Gründe, einen Aufsatz zu schreiben?
Letztendlich setzt Kling seine Arbeit des "Itinerar" von 1997 fort. Neben knappen Portraits wirkungsmächtiger Vorbilder wie etwa Oswald von Wolkenstein, einem Loblied auf Kollegen wie Marcel Beyer und Sabine Scholl oder einer Neueinordnung der Lyrik von Ingeborg Bachmann - die "kleine, gehypte Dichterin", so Kling, "konnte und konnte keine übers Mittelmaß hinausreichenden Gedichte schreiben" - findet sich der stete Kommentar zum eigenen Schaffen, die Selbstverortung, hergeleitet aus Biographischem und Poetologischem. Kling scheut dabei nie das apodiktische Urteil, die Provokation oder das Selbstlob. Dass dies gelegentlich beim Rezipienten Widerwillen hervorruft, ist nur von Vorteil, werden doch so die Linien klarer gezogen. Um eine Linie geht es Kling besonders, eine Trennungslinie zweier Literaturentwicklungen in Deutschland und Österreich. "In den beiden Deutschland nach 1945" habe es, überspitzt gesagt, nur Brecht oder Benn gegeben und deren Wurmfortsätze, behauptet er in einem Gespräch mit Hans Jürgen Balmes. Kling hingegen, 1957 in Bingen geboren, sehe sich nach Österreich ausgerichtet, dessen Dichtung bislang nur unzureichend wahrgenommen werde. Was in der Polemik politisch-geographisch begründet wird, konkretisiert Kling in den Essays und Gesprächen immer präziser. Zahlreiche Vorbilder treten zutage, zum verdienstvollen H. C. Artmann, der den Georg Büchner-Preis viel zu spät erhalten habe, Hugo Ball, Hans Arp, Hans Richter, Reinhard Priessnitz, dem überaus geschätzten Konrad Bayer und Ernst Jandl gesellen sich barocke Autoren wie Johann Philipp Moscherosch, Quirinus Kuhlmann oder Juana Inés de la Cruz, deren "Primero Sueño" ("Erster Traum") Kling einige kenntnisreiche Seiten widmet.
Nicht allein in der Benennung der Vorbilder kristallisieren sich einige Konstituenten einer Kling'schen Poetik heraus. Es geht dem Autor vor allem um die "Hörbarmachung der Texte" in der Performance, "der Actio der Sprache". Kling spricht diesbezüglich von einer Körperhaftigkeit des Textes, in deren Konsequenz der Autor als Spielmann und Sänger, eben als "Performer" anfassbar sein muss. Den Texten selbst bleibt währenddessen die Tradition eingeschrieben, ein unterschwelliges Diktat, das aber auch Teil der Vielschichtigkeit eines Textes werden kann. Sprachskepsis und Sprachspiel, ebenso das Zitat, ergänzen diese Möglichkeit selbstredend. Des Weiteren wird Kling die Sprachvielfalt wichtig, die neben der inhaltlichen Recherche eine Materialfülle auf anderer Ebene erschafft. Hervorzuheben ist dabei seine Fokussierung auf Fachsprachen und Dialekte, den Slang, den "Ruf des Blocks", das Rotwelsch als Antidot zum hohen Ton, das Moscherosch nach dem jargonkundigen Luther zuerst in der deutschsprachigen Literatur verwendet habe. Ziel dieses Vorgehens ist eine unpathetische, nüchterne Schreibweise, die die Spracharbeit eines Restaurators erfordert, wie sie Balmes bei Paul Celan vorgeprägt sieht. Dabei gelte es, zu einer Art Untergrund vorzudringen, auf dem alle Dichter zu arbeiten haben, ein Prozess, bei dem die Bewegung und Schichtung des oberflächlichen Materials erhalten bleibt.
Klings Poetik ist vorerst eine Poetik der Verteidigung. Die bereits genannten Traditionen müssen in Schutz genommen werden, um das eigene Œuvre zu erkunden. Die Wiederentdeckung des Barock, für die vor allem Artmann Pate steht, mündet in die Apologie der Avantgarde. In der notwendigen Kollegenschelte kommt Hans Magnus Enzensberger, dessen "Aporien der Avantgarde" aus den 60er Jahren Kling immer noch zu Invektiven reizt, wohl am schlechtesten weg. Durs Grünbein rangiert immerhin noch auf Rang zwei der bedeutendsten Lyriker der 60er Jahrgänge, hinter Marcel Beyer. Freilich setzt Letzterer als Histrione das Werk Klings fort, das er gemeinsam mit dem Schlagzeuger Frank Köllges im Köln-Düsseldorfer Raum 1983 begonnen hat: Performance! Diese albernen Ranglisten, die Kling gern willkürlich anführt, wobei er selbst sich in denen der deutschen Feuilletons scheinbar zu oft vergessen fühlt, gehören zur polternden Rhetorik. Seine Herangehensweise an die Dichtung jedoch ist allemal eine Entdeckung wert. Mit diesen theoretischen Vorkenntnissen lässt sich vielleicht auch Klings Lyrik anders lesen und vor allem hören, da dem letzten Gedichtband, "Fernhandel", auch eine CD beigegeben war. Auch wenn sich in "Botenstoffe", im Sammelband naturgemäß, viele Wiederholungen finden - leider fehlen die einzelnen Drucknachweise -, ist die Lektüre stets vergnüglich und informativ. Vergnüglich nicht zuletzt deshalb, weil der eine oder andere verdientermaßen von Kling angegriffen wird: C'est la guerre.
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