Unterübertreibungswissenschaft

Eine neues Zeitalter der Bernhard-Forschung bricht an

Von Oliver JahrausRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Jahraus

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es wird ein neues Zeitalter der Bernhard-Forschung anbrechen - davon bin ich überzeugt. Die Bilanzen, die man vor zwei Jahren anlässlich des 10. Todestages von Thomas Bernhard gezogen hat, waren harmlos im Vergleich zu den Perspektiven, die sich heute aufzutun beginnen. Allein die äußeren Anzeichen sind verblüffend. Es genügt zunächst ein Blick nach Wien. Dort hing vor kurzem noch über dem Eingang zur Nationalbibliothek ein großes Plakat, das Thomas Bernhard 1987 in Sintra, Portugal, zeigt - der Schriftsteller in Schriftstellerpose mit Blick aus dem Fenster. Man stelle sich vor: 1989, zur Zeit der Heldenplatz-Uraufführung und in den Tagen um Thomas Bernhards Todestag, Bernhard an und in der Wiener Hofburg (denn in diesem Gebäudekomplex liegt auch die Nationalbibliothek) - eigentlich unvorstellbar. Seinerzeit, wie die damalige Dokumentation zur Heldenplatz-Aufführung belegt, hätten ihn einige wegen Nestbeschmutzung am liebsten exekutiert. Es gab entsprechende Leserbriefe an das Burgtheater und die Presseorgane. Und mittlerweile: Thomas Bernhard ist zum Staatsdichter avanciert; Österreich hat ihn wieder, hat ihn vereinnahmt. Um einen Autor dieser Größe kommt man nicht herum. So wie Bernhard von Figuren erzählt, die ein großes, materielles sowie historisches Erbe anzunehmen haben, so hat Österreich dieses literarische Erbe anzunehmen. Thomas Bernhard ist dort auch räumlich angelangt, wo er schon immer war: im Herzen der österreichischen Kultur als einer ihrer prominentesten Exponenten weit über die Grenzen Österreichs hinaus.

Dass Thomas Bernhard so avanciert ist, kann man nur begrüßen. Die Vereinnahmung muss man nicht kritisieren, schafft sie doch den Rahmen, innerhalb dessen der auch wissenschaftlichen Aufarbeitung dieses Erbes staatliche Unterstützung zuteil wird. Österreich hat das Erbe angenommen.

Ein Ausdruck dafür ist auch die Veranstaltung, für die dieses Plakat wirbt: Am 6. März dieses Jahres wurde in der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien die Ausstellung "Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß" eröffnet. Die Ausstellung ist nach Linz gewandert; dort wird sie noch bis zum 14. Juli in der Galerie im Stifterhaus zu sehen sein. Konzipiert und realisiert wurde sie von Martin Huber und Manfred Mittermayer, beide ausgewiesene Bernhard-Philologen. Die Ausstellung verbindet zwei Dimensionen der Bernhard-Forschung, die nur ungenau mit dem Begriff von Leben und Werk umfasst werden können. Der eine Teil der Ausstellung nähert sich Bernhard in der Tat biographisch über seine Lebensmenschen, die wohl wichtigsten Bezugspersonen, die Bernhard hatte, nämlich seinen Großvater Johannes Freumbichler (1881-1949), und seine Lebensgefährtin und Vertraute Hedwig Stavianicek (1894-1984). Sie rekonstruiert die Biographie aus dem Blickwinkel dieser entscheidenden und prägenden Beziehungen und präsentiert dabei einen immensen Fundus an persönlichen und privaten Dokumenten; so wird ein weiterer Beitrag zu einer Biographie des Thomas Bernhard geleistet, der dazu angetan ist, das - wenn man es so nennen will - existentielle Gefüge der Privatperson immer deutlicher zu rekonstruieren.

Dieses Material wurde bereits in früheren einschlägigen Ausstellungen präsentiert. Neu ist nun allerdings die Verknüpfung dieses Materials mit dem Nachlass, aus dem Dokumente erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt werden. Und das ist das eigentlich Innovative, aus dem sich heraus die neue Perspektiven, ja gerade die Visionen einer zukünftigen Bernhard-Forschung ergeben. Denn diese Präsentation des Nachlasses ist nur ein Vorspiel für die Möglichkeiten, aber auch für die Aufgaben, die auf die Bernhard-Philologen zukommen, wenn der Nachlass erst einmal zugänglich gemacht sein wird.

Was ein zugänglicher Nachlass für die Philologie bedeutet, ist jedem Literaturwissenschaftler bekannt. Und das gilt im Falle Bernhards, dessen Nachlass noch immer geheimnisumrankt ist, mehr als sonst vielleicht. Die dritte Auflage seines Buches "Der Übertreibungskünstler" hat Wendelin Schmidt-Dengler 1997 um einen Text zum Roman "Frost" erweitert. Dort findet sich ein kritisches Resümee zur Bernhard-Forschung, in dem man noch auch folgendes lesen kann:

"Trotz der Flut von literaturwissenschaftlichen Texten kann von einer Bernhard-Philologie im strengen Sinn nicht gesprochen werden; dazu verfügen wir noch über zu wenig Unterlagen. Die Materialgrundlagen sind wenig abgesichert; die Entstehungsgeschichte der meisten Werke liegt völlig im Dunkel, und man wird lange auf Spekulationen angewiesen bleiben, selbst was so vergleichsweise vordergründige, einfache und doch wichtige Fragen wie die genaue Datierung betrifft. Daß es im Nachlaß noch Texte geben müßte, steht außer Zweifel, ob man mit deren Publikation aber dem Autor in jedem Fall ein Verdienst erwiesen würde, ist doch auch anzuzweifeln."

Man wird nun nicht mehr lange auf Spekulationen angewiesen sein. Vom 7. bis 9. März veranstaltete die Thomas-Bernhard-Privatstiftung, die den Nachlass verwaltet, und die Österreichische Gesellschaft zur Literatur unter der Federführung von Wendelin Schmidt-Dengler, Martin Huber und Manfred Mittermayer begleitend zur Ausstellung ein Bernhard-Symposium, das unter dem Motto stand "Wissenschaft als Finsternis?" und "Methoden und Ergebnisse der Thomas-Bernhard-Forschung" bilanzierte. Angesichts des bisherigen Standes der Bernhard-Forschung, für die Schmidt-Dengler den Philologie-Status noch nicht einmal gelten lassen will, und angesichts dessen, was der Nachlass wird erhellen können, kann dies nicht mehr als eine Zwischenbilanz sein, deren Aussagekraft aber gerade in dieser Umbruchphase um so deutlicher hervortritt.

Die Veranstaltung selbst ist zusammen mit der Ausstellung, ein Beispiel der Zusammenarbeit privater Initiativen und öffentlicher Unterstützung. Und darin ist die formale Voraussetzung zu suchen, dass der Nachlass öffentlich (was noch nicht heißt: veröffentlicht) werden kann.

Der Katalog zur Ausstellung liefert (im Beitrag von Martin Huber) auch die entscheidenden Daten dieser Entwicklung, die ich kurz referiere: Schon kurz nach dem Tode Bernhards hat sein Bruder, Dr. Peter Fabjan, den Nachlass gesichert und zusammengetragen. Er hat die Thomas-Bernhard-Privatstiftung ins Leben gerufen, der die Oberösterreichische Landesregierung die Wittgenstein-Stonborough Villa auf der Gmundener Toscana-Halbinsel als Archiv zur Verfügung gestellt hat. Martin Huber ist gerade dabei, den Nachlass für die Öffentlichkeit im Archiv aufzubereiten.

Der private Nachlass verbleibt bei der Familie; der Werknachlass besteht aus den Manuskripten der veröffentlichten sowie der unveröffentlichten Werke. Welcher spezifisch auf Bernhard bezogene Erkenntnisgewinn daraus zu erwarten ist, hat bereits die Ausstellung gezeigt. Ein kleines, aber vielsagendes, mittlerweile bekanntes Beispiel sei genannt: Der Protagonist aus Bernhards Roman "Auslöschung" empfiehlt seinem Schüler fünf kanonische Bücher zur Lektüre, u.a. Thomas Bernhards eigene Erzählung "Amras". Das Manuskript zeigt, dass an dieser Stelle ursprünglich ein anderes Werk genannt wurde, das aber durchgestrichen wurde; man kann es noch erkennen: es war "Witiko" von Adalbert Stifter. Was für eine Einladung, die Intertextualität der Texte, ohnehin ein Leitmotiv der Bernhard-Forschung, neu zu überprüfen!

Nicht, dass nunmehr gänzlich neue Topoi in der Auseinandersetzung mit Bernhard zu erwarten wären. Immerhin hat sich schon einiges seit dem Tode Bernhards 1989 getan. Der Topos des "Unterganghofer" aus der Anfangszeit der Auseinandersetzung mit dem frühen Bernhard hat schon längst einer differenzierten Rekonstruktion der Texte und ihrer werkimmanenten sowie intertextuellen Verknüpfungen Platz gemacht. Doch die Antworten, die der Nachlass zentral auf Fragen der Text- und Werkgenese zu geben vermag, werden zahlreiche Spekulationen, die jetzt noch im Umlauf sind, Makulatur werden lassen. Sie betreffen das Frühwerk und den Übergang Bernhards von der Lyrik zur Prosa; sie betreffen die Entstehungsgeschichte und Konzeptionsarbeit am einzelnen Text vom Entwurfsblatt bis zur Endkorrektur; sie betreffen auch die konkrete, am Manuskript augenfällig werdende Arbeit am einzelnen Text ebenso wie die Bedeutung des Schreibens und des eigentümlichen Schreibaktes für Bernhard. Es wird zu eruieren sein, warum z. B. die Romanmanuskripte "Schwarzbach St. Veit" oder "Neufundland" nicht veröffentlicht wurden, welche ästhetischen und konzeptionellen Bedenken und Überlegungen hinter einer solchen Entscheidung sinnvoll vermutet werden können. Vor allem aber wird der Nachlass die Arbeitsweise, die Schreibtechnik Bernhards besser oder überhaupt erst durchschaubar werden lassen, so dass sich aus der Genese des Textes entsprechende Perspektiven und Dimensionen der Interpretation ergeben werden. Es ist sicher: Der Nachlass wird Antworten geben; noch weiß man nicht, welche.

In jedem Fall werden die Leitlinien der Bernhard-Forschung davon betroffen sein. Zum Teil werden sich aber auch, basierend auf dem Nachlass, neue Schwerpunktsetzungen herauskristallisieren. Ich gehe davon aus und erhoffe mir, dass sich diese Antworten nachhaltig und richtungsweisend auf so zentrale Fragen der Bernhard-Forschung auswirken, wie z. B. die nach dem Verhältnis von Einzeltext und Gesamtwerk oder nach der Situierung der Texte in einem intertextuellen Universum, das Bernhard häufig allein durch ein Verfahren, das wie bloßes Name-dropping erscheint, erzeugt.

Insbesondere hat allein die Konzeption der Ausstellung ein zentrales Problem wieder und doch neu auf die Tagesordnung gesetzt, das nunmehr auf einer gänzlich veränderten Ausgangslage angegangen werden kann: nämlich das Problem des Verhältnisses von Leben und Werk. Schon hat gerade ein Bernhard-Biograph, nämlich Hans Höller, mit Blick auf neuere Texttheorien gewarnt: Man dürfe sich von der Kenntnis des Tages von Bernhards Kirchenaustritt keine neuen Aufschlüsse über die Deutung seiner Werke versprechen. Im Ausstellungskatalog ist immerhin von einer Zusammenführung die Rede. Dass die Biographie keine unmittelbare Deutungsperspektive mehr abgeben kann, gehört zum wissenschaftlichen Common sense der heutigen Literaturwissenschaft. Man wird sich in Zukunft mehr denn je vor vorschnellen und eindimensionalen Verknüpfungen zwischen der Lebens- und Werksphäre hüten müssen. Auch wenn der Autor tot ist (als Deutungsinstanz ebenso wie - im Falle Bernhards - als Mensch), so haben wir doch ein Werk vor uns, dass nicht zuletzt über die Instanz des Autors eine Einheit bildet. Eine solche Autorinstanz kann als Textprinzip verstanden werden; doch diese Instanz unabhängig von der realen Schriftstellerexistenz zu sehen, würde gegenüber einer rein biographistischen Lesart ins andere Extrem verfallen. Das Zwischenglied zwischen Leben und Werk könnte nun genau in solchen Schreibstrategien verortet werden, die sowohl das biographische Umfeld als auch die Textgenese als ein notwendiges kulturelles Wissen erscheinen lassen, dessen Kenntnis die Deutung der Texte und des Werkes überhaupt erst voraussetzen muss.

Was aus heterogenen Dimensionen so zusammengeführt wurde, Leben und Werk, kann sich als sich wechselseitige stützendes Standbein einer Auseinandersetzung mit Bernhard erweisen, die nunmehr den Status einer Autorenphilologie verdient. Wir sind gespannt auf den Nachlass.


Titelbild

Wendelin Schmidt-Dengler: Der Übertreibungskünstler. Zu Thomas Bernhard.
Sonderzahl Verlag, Wien 1997.
160 Seiten, 13,80 EUR.
ISBN-10: 3854490135

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Thomas Bernhard und seine Lebensmenschen. Der Nachlaß. [Katalog zur Ausstellung].
Herausgegeben von Manfred Huber, Manfred Mittermayer, Peter Karlhuber.
Böhlau Verlag, Wien 2001.
208 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 390042425X

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