Gib nicht auf, Papier!

Der Zyklus "Schriftprobe" von Jürgen Fuchs

Von Wulf SegebrechtRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wulf Segebrecht

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Jürgen Fuchs (geb. 1950) braucht nicht mehr vorgestellt zu werden, man kennt ihn: In seinen "Vernehmungsprotokollen" (1977, als Buch 1978) hat er mit bis dahin unerhörter Präzision die Verhörmethoden der Stasi dokumentiert. Nach seiner Abschiebung aus der DDR (1977) wurde er zu einer Symbolfigur des von keiner Seite zu vereinnahmenden Dissidenten. 1999 ist er an Blutkrebs gestorben; Gerüchte, wonach es sich um Spätfolgen einer Sonderbehandlung durch die Stasi gehandelt habe, wollten fortan nicht verstummen.

Einige seiner frühen Gedichte hat Jürgen Fuchs in der DDR publiziert. Im "Sonderheft Poetenseminar 1971" der Reihe "Poesiealbum", das Texte des von der FDJ veranstalteten Schweriner Poetentreffens enthielt, stand sein erstes Gedicht: "Nagasaki". Weitere Gedichte brachte die Reihe "Offene Fenster", in der der FDJ-Verlag Neues Leben Jahr für Jahr Schüler-Gedichte publizierte. Im vierten Band dieser Reihe, erschienen 1973, "im Jahr der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Berlin", finden sich unter dem Titel "Schriftprobe" elf Texte von Fuchs, die gar nicht so recht passen wollten zu der kraftvollen Herausgeber-Ankündigung der Gedichte von Schülern: "Sie zeigen, wie sie leben und lernen und daß sie alles angeht, auch die unerbittliche Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind". Heute kann sich Edwin Kratschmer rühmen, Jürgen Fuchs entdeckt und mit ihm über "die Strategie des Schreibens unter Diktatur, über Selbstzensur und Selbstkastration" diskutiert zu haben. Das Ergebnis dieser Diskussion: 15 Gedichte des Zyklus "Schriftprobe" wurden damals nicht publiziert. Jetzt erscheint dieser Zyklus erstmals vollständig.

Er enthält in der Tat erstaunliche Gedichte. Ihr gemeinsames Thema ist das Papier; das schön oder gar nicht beschriebene, das linierte, das gefaltete, das nicht abwaschbare, das inkriminierte, verwertete oder fortgeworfene Papier; oft wird es direkt angesprochen ("Jetzt / Gib nicht auf / Papier"). Es besteht ein Verhältnis des geheimen Einverständnisses, wenn nicht gar der Konspiration zwischen dem Papier und dem lyrischen Ich. Der Zyklus ähnelt ein wenig den "Variationen über das Thema die Post" von Reiner Kunze. Von ihm (und von Brecht) ist Fuchs offensichtlich beeinflusst. Das zeigt die epigrammatische Lakonik und kaum verhüllte Deutlichkeit der Verse. Sie verdienen es jedenfalls, bei einer Bilanzierung der Leistungen der Lyriker der DDR nicht übergangen und insofern, wie die Reihe verspricht, "gerettet" zu werden:

PAPIER ICH TRAGE
Schuld:

Zu groß
Der Abstand meiner Zeilen

Zu breit
Dieser Rand

Zu wenig
Worte schrieb ich
Auf dich

Wer weiß
Wie viele Todesurteile
Sich noch fertigen lassen
Auf deinem Weiß


Leider hinterlässt die editorische Darbietung der Texte einige Irritationen. Das gilt nicht nur für die wortreichen und sprachlich gewagten Kommentare des Herausgebers Kratschmer, der sich etwas unziemlich in den Vordergrund drängt; es gilt auch für die Texte selbst: Man hätte gern gewusst, wie sich die Abweichungen zwischen dem Druck der Gedichte in den "Offenen Fenstern" und im vorliegenden Heft erklären. Sie betreffen nicht nur die Reihenfolge, sondern sogar den Wortlaut der Texte. Dazu hätte der Herausgeber etwas sagen sollen, statt in fragwürdiger Metaphorik zu diagnostizieren: Fuchs "schrieb zunehmend nahezu Amok". Das hätte auch die Stasi sagen können.

Kein Bild

Jürgen Fuchs: Schriftprobe.
Vorgelegt von Edwin Kratschmer.
Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften, Weimar 2000.
45 Seiten, 7,20 EUR.
ISBN-10: 3897391325

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