Der objektive Idealismus als Wiedergänger?

Robert Brandoms monumentale Neuausrichtung der Sprachphilosophie

Von Walter ZitterbarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Walter Zitterbarth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Noch 1981 konnte Habermas darüber klagen und spotten zugleich, dass in der analytischen Sprach- und Handlungsphilosophie der Empirismus längst geschlagene Schlachten wiederholt und die ehrwürdigen Probleme der vorkantischen Bewusstseinsphilosophie in analytischer Verkleidung aufs Neue ihre Häupter erheben. Dass dies heute jedenfalls nicht mehr uneingeschränkt gilt, ist nicht zuletzt das Verdienst von John McDowell und Robert Brandom, die in Pittsburgh Philosophie lehren und sich selbst der "Pittsburgher Schule des Neuhegelianismus" zurechnen.

Brandoms jetzt auf Deutsch vorliegendes und nicht nur nach amerikanischen Maßstäben wahrhaft monumentales Werk erschien im Original 1994 unter dem Titel "Making it Explicit". In dieser ebenso breit angelegten wie tiefschürfenden Arbeit, die den Vergleich mit Husserl nicht scheuen muss, was die Akribie ihrer Durchführung anbelangt, unternimmt Brandom nichts weniger als den Versuch, die gesamte Sprachphilosophie im Namen eines normativen und sozial geprägten Pragmatismus von Grund auf neu zu organisieren. Sein Ansatz eines Inferentialismus, den er bis auf Kant zurückführt, steht im Gegensatz zu dem traditionelleren eines Repräsentationalismus. Letzterer versucht darzulegen, wie erst einzelne Wörter und dann ganze Sätze Teile der Welt repräsentieren und möchte auf diesem Hintergrund Bedeutung so verstehen, als würde sie durch eine Bezugnahme der Wörter oder Sätze auf diejenigen Teile der Welt konstituiert, die repräsentiert werden sollen. Es ist diesem Ansatz in Brandoms Augen aber nie gelungen, präzise darzulegen, was es heißt, dass etwas repräsentationalen Gehalt besitzt und er hält dieses Problem auch nur für lösbar, wenn man die abbildenden Eigenschaften der Sprache parasitär auffasst gegenüber ihrer Eingebundenheit in nicht-sprachliche menschliche Tätigkeiten.

Grundlage des Inferentialismus ist der Versuch, eine Darstellung der Berechtigungen und Verpflichtungen zu geben, die sich aufgrund individueller Performanzen (sprachlicher Äußerungen behauptender Art) in sozialen Praktiken ergeben. Man erhält dadurch Aufschluss nicht nur über die Leistung von Sprechakten in einem Schlussfolgerungsnetzwerk solcher Berechtigungen und Verpflichtungen, sondern auch darüber, wie Sprechakte durch ihre Rollen in solchen Netzwerken Bedeutung erhalten. Das ist die Semantik der inferentiellen Rolle, die Brandom von Sellars herleitet. Dabei sind die Schlussfolgerungen, auf die es ankommt, keine streng logischen, sondern materiale - pragmatische Beziehungen der Vererbung von Berechtigungen zwischen Sprechakten. (Logische Schlussfolgerungen sind dabei jene materialen Schlussfolgerungen, die gültig bleiben bei jeder Einsetzung des nicht-logischen Vokabulars.) Vollends auf den Kopf gestellt wird der Repräsentationsansatz schließlich, wenn man auch für die Rede von Wahrheit und Referenz ihre pragmatisch-inferentiellen Rollen bestimmt. Kurz gesagt: anstatt die Sprache als eine Art Lexikon oder Bezeichnungssystem zu verstehen, bei dem die Relation zwischen Wort und Bedeutung als elementare und nicht weiter zurückführbare Tatsache im Mittelpunkt steht, versteht Brandom die Sprache eher als Werkzeugkiste. So verwandelt sich das sprachliche Lexikon in ein Netzwerk von materialen Implikationen.

Entsprechende Überlegungen finden sich zwar schon in Freges Begriffsschrift sowie bei Sellars und Dummett, doch es handelte sich dabei immer um eine Minderheitenposition. Will man diesen Ansatz aus seinem Nischendasein herausführen, gilt es, zwei Aufgaben zu lösen, die den beiden Teilen von Brandoms Buch entsprechen. Einmal müssen die semantischen Richtigkeiten (Geltung, Wahrheit) aus ihrer Abhängigkeit von gelingender Repräsentation gelöst werden. Dafür stellt Brandom eine im repräsentationalistischen Denken ganz randständige Pragmatik in den Mittelpunkt, bei der sich diese Richtigkeiten als implizit in den Praktiken des Gebens und Nehmens von Gründen enthalten erweisen. Zum anderen muss der Inferentialismus zeigen, dass er in der Lage ist, auch die repräsentationale Seite des semantischen Gehalts, also die referentielle Beziehung zwischen Sprache und Welt, auf inferentielle Weise zu rekonstruieren.

Berücksichtigt man, dass der Inferentialismus eine Theorie ist, bei der die Alltagskommunikation in Züge eines Argumentationsspiels zerlegt wird, bei dem jeder sorgfältig registriert, worauf sich andere Teilnehmer mit ihren konstatierenden Äußerungen festlegen - welche Verpflichtungen sie eingehen und wozu sie berechtigt sind -, so wird klar, dass die Sprache hier ganz wesentlich unter dem Gesichtspunkt ihres Gebrauchs betrachtet wird. Der Gedanke, die Bedeutungen sprachlicher Ausdrücke durch ihren Gebrauch zu erklären und damit die Pragmatik der Semantik systematisch vorzuordnen, wird für gewöhnlich mit dem Namen Wittgenstein in Verbindung gebracht, und in der Tat ist auch er einer der Gewährsmänner für Brandoms Überlegungen. Doch Wittgenstein hat nicht mehr als eine Reihe von Fingerzeigen gegeben, wie sich ein derartiger Ansatz in eine systematische Theorie verwandeln ließe. Und niemand hat bisher eine Gebrauchstheorie der Bedeutung, die zu Recht den Status einer Theorie beanspruchen könnte, vorgelegt, so dass Brandom für sich in Anspruch nehmen kann, sich als Erster einer derartigen Herausforderung gestellt zu haben.

Der Gebrauch verleiht Ausdrücken Bedeutung, weil sich in ihm Normen enthüllen, die - innerhalb einer bestimmten Praxis - festlegen, welche Äußerungen in bestimmten Situationen angemessen sind. Zur Beschreibung des Gebrauchs muss also ein normatives Vokabular zur Verfügung gestellt werden. Dieses wird dazu verwendet, den Teilnehmern sozialer Praxen normative oder deontische status zuzuschreiben. Wer eine Behauptung aufstellt, tut einen Zug im Spiel des Diskurses und verstrickt sich in ein Netzwerk von Implikationen. Bedeutung entsteht über das Geben und Nehmen von Gründen, in der Definition von Verpflichtungen und Berechtigungen, wer wann was mit welchen normativen Folgen sagen kann. Das normative Vokabular ist grundlegend in dem Sinne, dass es nicht durch deskriptive Ausdrücke definiert werden kann.

Vielversprechend erscheint Brandom an einer solchen Betrachtung der Sprache vor allem, dass er mit ihrer Hilfe zeigen kann, wie wir die ansonsten mysteriösen "intentionalen" Phänomene des Glaubens, Meinens, Beabsichtigens, Verstehens usw., die für die Sprache charakteristisch sind, als aus profanen Tatsachen menschlichen Verhaltens erwachsend verstehen können und wie sich auch die Rede von Wahrheit und Referenz zurückführen lässt auf Phänomene menschlichen Verhaltens. Um Brandoms umfassendes Projekt angemessen würdigen zu können, gilt es auch festzuhalten, was es nicht ist: es ist keine Enthüllung der "wahren Natur der Sprache", sondern die Ausarbeitung einer bestimmten, philosophisch fruchtbaren Sichtweise auf die Sprache, die andere Sichtweisen nicht ausschließt. Es genügt ihm zu zeigen, dass eine inferentialistische, gebrauchstheoretische Bedeutungstheorie durchführbar ist; das sei, so meint er, mehr als für die repräsentationalistische Version je geleistet wurde.

Nicht zuletzt geht es Brandom auch um die Beantwortung der zentralen anthropologischen Frage, wer wir sind. Er vermeidet dabei den biologistischen Missgriff, unser Selbstverständnis aus unserer Abstammung oder unserem genetischen Material herleiten zu wollen. Stattdessen schlägt er vor, dass wir uns, um uns selbst zu verstehen, an das halten sollten, was wir zu tun imstande sind. Ausgehend von unseren kognitiven Fähigkeiten und dem Umstand, dass unser Umgang mit der gegenständlichen Welt und miteinander etwas für uns bedeutet, sieht er unsere menschliche Besonderheit darin gegeben, dass wir gemeinsame Bewohner des Raumes der Gründe sind, indem wir Gründe für unsere Einstellungen und Verhaltensweisen geben und fordern. Nicht unsere Empfindungs-, sondern unsere Verstandestätigkeit zeichnet uns aus und grenzt uns von anderen Lebensformen ab.

Was den Titel des Buches anbelangt, so ist es ein Aspekt von Brandoms normativer Pragmatik, dass die Normen, die die diskursiven Praktiken steuern, im Impliziten beginnen. Solche impliziten Normen explizit zu machen, sieht er als eine Hauptaufgabe seiner Theorie. Wenn ein wichtiger Teilaspekt unserer Rationalität darin besteht, die deontische Buchführung, eine Metapher, die Brandom dem Baseball entlehnt, nicht bei den je eigenen Festlegungen und Befugnissen zu Sprechhandlungen enden zu lassen, sondern uns auch wechselseitig als deontische Buchhalter zu behandeln, so muss es möglich sein, seine Bücher gewissermaßen offen zu legen. Das Mittel dazu ist das von Brandom als "logisch" bezeichnete Vokabular, worunter Brandom aber nicht nur das Vokabular der Aussagen- und Prädikatenlogik versteht, sondern auch das der Semantik. Es dient dazu, die Normen, welche für die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke konstitutiv sind, explizit zu machen: Festlegungen, die vorher nur implizit unterstellt wurden, können nun explizit zugeschrieben werden. Und dieser praxisimmanente, aus der Teilnehmerperspektive durchzuführende Reflexionsschritt des Explizitmachens von normativen Einstellungen gibt dem Buch seinen ursprünglichen Titel "Making it Explicit". Aber auch der deutsche Titel lässt sich in diesem Zusammenhang verständlich machen. Wenn nämlich die Rolle des logischen Vokabulars in erster Instanz darin besteht, die Struktur der linguistischen Praxis explizit zu machen, die nicht-logischen Äußerungen semantischen Inhalt verleiht, dann ist das eine "expressive" Theorie der Logik, von der Brandom annimmt, sie finde sich bereits in Freges Begriffsschrift.

Es ist unvermeidbar, dass ein umfangreiches Buch wie dieses nicht nur Lösungsvorschläge für vorab vertraute Problemstellungen liefert, sondern darüber hinaus selbst neue Fragen aufwirft. Von den vielen möglichen Ansatzpunkten für solche Fragen sei hier nur eine herausgegriffen: Hat der Kreislauf der gegenseitigen Zuschreibung und Bewertung von Geltungsansprüchen noch irgendwo eine Verankerung in der außersprachlichen Welt? Können unsere sprachlichen Bemühungen an etwas Nicht-Sprachlichem scheitern?

Auf der einen Seite lässt Brandom keinen Zweifel daran aufkommen, dass er keine Sympathien für einen starken Kontextualismus hegt, wie er etwa im sozialen Konstruktionismus vorherrscht. Andererseits sieht er in einer nicht-sprachlichen Welt auch keine Instanz, von der er die Objektivität der Urteile abhängig machen möchte. Was er stattdessen anbietet, um das Wahre vom bloß für wahr Gehaltenen zu unterscheiden, ist die Perspektivendifferenz zwischen Sprecher und Interpreten. Doch dieser Vorschlag mutet phantastisch an und es erscheint wenig aussichtsreich, dass er diese schwere Bürde tragen kann.

Für Pragmatisten wie Brandom läge es eigentlich nahe, das wichtigste Kriterium für die Bewährung empirischer Überzeugungen im gelingenden Handlungsvollzug zu sehen, eine Position, die einstmals Peirce in die Philosophie einführte. Dabei kann sich die objektive Welt, indem sie zielgerichtete Interventionen scheitern lässt, im Funktionskreis instrumentellen Handelns gewissermaßen "zu Wort" melden. Diese Erfahrung, die Akteure im Scheitern an der Realität machen, ist zwar sprachlich strukturiert, doch ist es keine Erfahrung mit der Sprache. Doch solche Erfahrung stellt kein Medium dar, auf das Brandom sich einlassen möchte, wie überhaupt jeder Bezug auf Erfahrung im sorgfältig ausgearbeiteten Sachregister seines Buches fehlt. Seine Konzentration auf Einstellungen, Interaktionen und Äußerungen von Diskursteilnehmern ist so total, dass ihm erfolgskontrolliertes Handeln gar nicht in den Blick gerät.

Brandom erweckt den Eindruck, als glaube er, die Theorie der diskursiven Praxis stelle zugleich so etwas wie eine Theorie der Grundstruktur der Welt dar. Natürlich müssen wir die Unterscheidung zwischen Sprache und Welt immer in der Sprache selbst treffen. Doch dass wir die Welt nur begrifflich denken können, heißt noch lange nicht, dass sie auch unabhängig davon begrifflich geordnet sei. Die Strukturen des Denkens und des Seins auf diese Weise zusammenzuzwingen hatte zuletzt der objektive Idealismus Hegels versucht, der dabei einige Warnungen Kants vor einem solchen Vorgehen in den Wind schlug. Bisher gab es einen breiten Konsens in der Philosophie, dass Hegel damit ein für alle Mal gescheitert sei und dieser Weg für uns verschlossen ist. Wenn Brandom glaubt, ihn wieder öffnen zu können, so bedeutet dies einen wagemutigen Schritt, aber es zeugt auch von geringem Vertrauen in den konstruktiven Charakter menschlicher Erkenntnis. Es wäre schön, wenn Brandom uns hierfür noch die Gründe nachliefern würde.

Die Übersetzung verdient große Anerkennung, auch dafür, dass sie bei einem solchen Werk immer wieder einmal auf stilistische Brillanz zugunsten einer sich ganz dicht am Sprachduktus des Originals bewegenden Übertragung verzichtet. Dass der schon im Original ärgerliche Fehler, Freges Begriffschrift auf 1870 zu datieren, in der deutschen Übersetzung stehen geblieben ist, heißt allerdings die Getreulichkeit der Übersetzung etwas zu weit treiben.

Titelbild

Robert B. Brandom: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
1014 Seiten, 75,70 EUR.
ISBN-10: 3518582836

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