Ungeheuer in den Systemen der Herrlichkeit

Michel Foucault über "Das Leben der infamen Menschen"

Von Johan Frederik HartleRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johan Frederik Hartle

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Theorieproduktion Michel Foucaults verliert nicht an Reiz. Mit Spannung wird die Herausgabe unveröffentlichter Schriften erwartet und die großen Schriften Foucaults pulsieren wie eh und je. Mit "Das Leben der infamen Menschen" liegt jetzt im Merve Verlag erneut, überarbeitet und mit einem kenntnisreichen Nachwort versehen, ein über beinahe zwei Jahrzehnte vergessener Text vor. An ihm könnten sich neue Widersprüche, aber auch neues Interesse entfalten.

Der Text ist das Resultat einer mikrologischen Spurensuche an den Rändern der historischen Diskurse. Er ist den "Infamen", den Namenlosen ohne den Glanz des Fabelhaften, den Menschen ohne Fama gewidmet. "Ihre Infamie", heißt es, "ist nur eine Modalität der universalen Fama." Sie sind die Unterseite der Herrlichkeit hegemonialer Diskursordnungen und "existieren nur noch kraft der etlichen schrecklichen Worte, die dazu bestimmt waren, sie für immer des Gedächtnisses der Menschen unwürdig zu machen." Foucault untersucht die Chiffren ihrer Geschichte.

"Das Leben der infamen Menschen" fällt gerade noch in die genealogische Schaffensperiode Michel Foucaults und ist auf die historisch-politische Analyse sozialer Diskursordnungen bezogen. Seine besondere Perspektive macht jedoch auch Differenzierungen des genealogischen Antihumanismus geltend. Foucaults Antihumanismus, seine aufklärungskritische Genealogie von Wissen und Subjektivität, bringen ihre eigene Humanität hervor, die in der Produktion von Gegenwissen aufschimmert. Seit Foucault erzeugt nicht mehr der "Schlaf der Vernunft" die Ungeheuer, sondern der Diskurs der Macht. So bildet die Entlarvung der herrschenden Wahrheitspolitik, des Nachweises einer integralen Einheit von Macht und Wissen, den Anstoß zu einer Subversion der Wahrheit, zur Wahrheitspolitik mit anderen Vorzeichen. Walter Seitter hebt im Nachwort überzeugend diesen Wahrheitsbegriff hervor, der nicht nur "Das Leben der infamen Menschen" durchzieht, und kennzeichnet sie als eine "fundamentalontologische Epistemologie des Un-Scheinbaren". Es ist die Humanität des methodologischen Andersseins.

Diese Intensivierung der Genealogie ist zugleich der Nachweis einer Korrespondenz des - wie man mit Pierre Bourdieu sagen könnte - literarischen mit dem politischen Feld. Foucaults fortwährendes literarisches Interesse wird in "Das Leben der infamen Menschen" auch in seinem subversiven Impuls reflektiert. Ästhetische Produktion ist Sprechen neben dem Diskurs, Sagen des Unsagbaren. Foucaults Freund und Weggefährte Gilles Deleuze erhob das Minoritär-Werden zur ästhetisch-politischen Strategie. Die von Foucault nur angedeutete "formelle Ontologie der Literatur" problematisiert die Beziehung von Fama und literarischer Produktion, von Literatur und den Diskursen der Herrlichkeit. Der Motor der Literatur- und Wahrheitspolitik Foucaults ist damit immerhin angedeutet.

Kaum mehr als 40 Seiten hat der Text Michel Foucaults, kaum mehr als 20 das Nachwort von Walter Seitter. Gemeinsam bilden sie eine energiegeladene Zelle des Foucault'schen Denkens. Sie geleiten den Leser über sich hinaus, in Vertiefungen hinein. Texte wie diese verleihen jeder Begegnung mit Foucault eine Sogwirkung und verheißen etwas von den schlaflosen Nächten der Theorie.

Titelbild

Michel Foucault: Das Leben der infamen Menschen.
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Walter Seitter.
Merve Verlag, Berlin 2001.
80 Seiten, 7,20 EUR.
ISBN-10: 3883961655

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