Das Gen im Auge

Daniel McNeill versucht sich an einer Kulturgeschichte des Gesichts

Von Claudia SchmöldersRSS-Newsfeed neuer Artikel von Claudia Schmölders

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

So paradox wie Daniel McNeill muss man die Sache wohl angehen. Das menschliche Gesicht sagt uns alles und dies sofort. Nein: Das Gesicht sagt uns nichts, wenn auch etwas später. Das Lächeln ist weltweit verständlich. Nein: Das Lächeln gehört zu den kompliziertesten mimischen Äußerungen. Das Lachen bezeugt soziale Anerkennung und verschafft Macht. Nein: Wer Macht besitzt, zeigt ein unbewegtes Gesicht und macht keine Witze. Der Betrüger Arnaud du Tilh konnte drei Jahre den Ehemann einer Frau spielen, bevor der echte (Martin Guerre) auftauchte und ihn entlarvte. Aber Studien besagen: Wir können Gesichter auch noch nach 50 Jahren wiedererkennen. Das Vermögen für die akkurate Identifizierung von Gesichtern ist angeboren. Aber: Augenzeugenberichte stellen mit über 50 Prozent Irrtümern den häufigsten Grund für juristische Fehlurteile dar. Die Idee der Schönheit ist weltweit kulturell determiniert. Nein: Die Idee der Schönheit ist weltweit ein und dieselbe. Und so fort.

Daniel McNeill ist kein Wissenschaftshistoriker. Bekannt wurde er mit einem Buch über Fuzzy Logic, die "Logik der Halbwahrheiten" (1996) und allerdings, damit könnte er im Feld der Gesichter gut residieren und fabelhaft dialektisch verfahren. Jedes Vorurteil käme zutage und würde unverzüglich widerlegt, denn Gesichtsdeutung ist eine dilemmatische Wissenschaft. Doch treibt es den Autor diesmal zur Ganzwahrheit; zum Königsweg der Biologie. Denn eine "Kulturgeschichte" des Gesichts, wie der Titel anzeigt, bietet das Buch höchstens zur Hälfte, die freilich überaus unterhaltsam und belesen, mit zahlreichen Anekdoten und Fabeln die wichtigsten Synapsen zwischen den Wissensfeldern behandelt: Evolution, Mimik, Medizin, Chirurgie, Malerei, Literatur, Ethnologie. Unter dem Beifall der Kosmetikindustrie referiert der Bericht aber hauptsächlich den Appell der Gene, die einfach schöne Frauen- und kräftige Männergesichter suchen, um sich zu multiplizieren. Die Natur scheut eben weder Einfalt noch Klischee, das macht sie so sympathisch, das macht ja auch die Tierfilme so ungeheuer beliebt, mit denen wir seit Jahrzehnten ausgewildert werden.

Das Gesicht, weiß McNeill, kennt eine lange Evolutionsgeschichte. Von den Fischen, die das Maul nach vorn richten, um Nahrung einzufangen und Gegner zu erledigen, bis zu den Schimpansen und Homo Habilis, der die Zähne zurücknimmt, die Nase reckt, die Wangen vergrößert und ein profilsüchtiges Kinn dazukomponiert. Dieses Morphing hat der holländische Neuroanatom und Kunstlehrer Peter Camper schon in der Aufklärung berühmt gemacht. Die Kunst der Schattenrisse kam ihm emblematisch entgegen. Erst Lavater, dann Grandville umarmten damit ein beliebtes Motiv herrschaftlicher Porträtkunst, die "Ahnherren im Profil", als Karikatur von Leonardo längst vorgezeichnet. Aber Profil ist eben nicht en face. Es verbirgt geradezu die wichtigsten Botschaften des Humangesichts. Wenn McNeill sich detailliert in die Biogeschichte von Mund und Nase, Stirn und Auge, Ohr und Wange vertieft, will er es zum Betrachter wenden. Aber es ist eben an uns nur mäßig interessiert und höchst elusiv. "Das Gesicht ist alles - und es ist eine Fata Morgana." Fortwährende Selektionen haben es glatt und blank gescheuert und für die Wunschträume zweier ganz konträrer Fakultäten hergerichtet. Die eine heißt Sprache und die andere Ästhetik, und letztere heißt hier, in diesem Buch, immer: Schönheit zwecks Genverbreitung. Glatte und haarlose Gesichter ermöglichen ein Maximum an mimischer Botschaft; glatte und haarlose Gesichter können schön wie die Sonne sein, man muss sie nur sehen dürfen und nicht wie im Islam verschleiern. Für eben dieses Gesicht, das sich selbst immerzu anstarren möchte, hat die Evolution sinnige Bildschirme aller Art entwickelt, das Denken in Spiegelbildern zur Regel gemacht. Aber, lesen wir wieder beim Autor: "Das Gesicht im Spiegel ist alles - und es ist nichts."

Rudolf Kassners Dilemma-Formel: "Der Mensch sieht so aus, wie er ist, weil er nicht so ist, wie er aussieht" - hier also in Buchform. Kassner, ein halbes Leben mit dem Menschengesicht befasst, nannte diese Obsession bekanntlich Physiognomik - zu Recht, denn seit Aristoteles wird das europäische Räsonnieren über die menschliche Körpererscheinung, und besonders eben das Gesicht, unter diesem Titel verhandelt. McNeill tut die Physiognomik auf wenigen Seiten ab. Zwar stellt sie die Halbwahrheiten in diesem Felde krass vor, aber im Grunde ist sie ihm eher peinlich, denn sie bietet Rassismus und Kriminalanthropologie, Krankheit und Judenhass in ihrer Geschichte. Das liegt aber alles hinter uns. Rassen, so wieder der Topos, gibt es nach heutiger Genforschung nicht mehr, aber es gibt sie natürlich doch, wenn auch auf Oberflächen beschränkt. Studien im multikulturellen Amerika besagen, dass eine bestimmte Menschenschönheit von Menschen aller "Rassen" anerkannt wird, von allen Altersstufen und Bildungsgraden. Aber sollen wir wirklich glauben, dass Babys nur schöne Mütter anstrahlen? Aber warum sollen sie besser als ihre Mütter sein, die ihrerseits angeblich nur schöne Babys lieben.

Wer die Geschichte des Gesichts erzählt, hat nichts Hässliches zu berichten, besonders nicht dann, wenn es eine Naturgeschichte ist. So rühmte Peter Sloterdijk jüngst das Gesicht als Vollendung des aufrechten Gangs, das als Leistung der Evolution allein schon Freudenstrahlen ins Auge des Betrachters zaubert. Mutter und Kind strahlen einander an, Sloterdijk hat ja recht, es ist eine Urszene, aber eben keine bloß anatomische, sondern immer auch eine mimische, und die schließt das Weinen ein, den Zorn, den Ekel und alles andere, was am Anfang der Sprache steht.

So lacht und lächelt, weint und ächzt das Gesicht bei McNeill, aber von Sprache ist keine Rede. Dabei wimmelt es von Kultur-Informationen aller Art. Der Autor hat sich um Kunst- und Fotogeschichte bemüht, er kennt Theorien übers Porträt und Beispiele berühmter Bilder (natürlich die Mona Lisa); er nennt Märchen und Romane ("Tausendundeine Nacht", Oscar Wilde), er zitiert Philosophen und Essayisten wie Diderot und Georg Simmel. Ethnologische Berichte, die den naturalistischen meist widersprechen, umgeben nahezu jeden Befund. Archaische Kulturen beispielsweise lieben die Maske. Nichts scheint naturferner - aber nein, sie zeigen nur animalische Überlebenstechnik. Animalische? Ist nicht der Mensch auch ein Tier? Wie konnte dann die Schauspielerin Shi Peipu ihrem Liebhaber in Peking jahrelang vortäuschen, sie sei eine Frau? "Es gibt keinen Lackmustest, mit dem man männliche Gesichter säuberlich von weiblichen separieren könnte." Oh doch. Wenige Zeilen später weiß eine Studie, "dass wir problemlos männliche und weibliche Gesichter voneinander zu trennen vermögen". Darf kulturell sein, was naturwissenschaftlich nicht sein kann? Vielleicht wusste der Autor wirklich nicht, in welche Fallstricke er sich mit dem Thema begab. Vielleicht sah er sich als Herkules im Augiasstall der Physiognomik. Denn gerade weil er die Fülle des kulturellen Codes einbezieht, kann er auf einschleichende Weise immer wieder das einfältige "fünfte Evangelium" von der Weisheit der Natur vortragen. Und schließlich des Pudels Kern heraus- und die Kultur entlassen: Die Vorstellung von kultureller Konstruktion, sagt er, "verhinderte jahrzehntelang seriöse Untersuchungen, bis die Genetik sich in den sechziger Jahren mit Nachdruck Geltung verschaffte." Das kann man wohl sagen. Noch bleiben wir von realen Züchtungsvorstellungen verschont. Aber man ahnt, wohin sie führen. Unter den erstaunlich spärlichen und lieblosen Illustrationen dieses Buches ragt eine heraus: Sie zeigt ein Gesicht auf dem Mars, das einer Legende zufolge von ehemaligen Ureinwohnern des Planeten in Stein gehauen wurde. Die NASA selbst soll das aufgebracht, aber gleich wieder verschwiegen haben, um, wie NcNeill meint, "die Begeisterung für das Raumfahrtprogramm nicht zu groß werden zu lassen." Zum Glück hat dieselbe NASA im Mai 2001 ein entzaubertes Bild dieser Halluzination zustandegebracht: es handelt sich bloß um den Schattenwurf eines Berges ("Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 28. Mai). Zum Mars zieht es die astronomische Elite aber ersichtlich. Können uns die Gene für ein Leben im All herrichten? Sie werden es versuchen, sie sind schon im Begriff, sie nehmen die Autoren in Dienst. Eine der Voraussetzungen ist die völlige Dominanz des visuellen Systems, unseres eigentlichen Fernsinns. Alle Autoren, die von dieser Dominanz berichten, befestigen sie damit nur immer weiter, liefern die dazu erforderliche kulturelle Konstruktion, wie man an diesem Buch lernen kann. Drei Seiten vor Schluss gedenkt McNeill der Tatsache, dass die Menschengesellschaft nicht nur von visuellen Instinkten geleitet sein kann, wie einer archaischen Rarität. Nach fast fünfhundert Seiten Schönheitskurs lernen wir, dass "Schönheit nicht mehr ist als eine tiefe Morgenröte", dass womöglich und in Wahrheit die gutherzige Person genetisch viel wichtiger ist, weil sie sich wirklich um ihre Nachkommen kümmert und, statt sie nur anzusehen, mit ihnen spricht.

Titelbild

Daniel McNeill: Das Gesicht. Eine Kulturgeschichte.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Michael Müller.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2001.
512 Seiten, 23,50 EUR.
ISBN-10: 3218006899

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