Eine Dissertation zur Genealogie des Gedächtnisses
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie methodisch der Foucaultschen "Archäologie" verpflichtete Baseler Dissertation Hubert Thürings untersucht in ihrem ersten Teil die Verdrängung und die Wiederkehr des Gedächtnisses von Kant und Kästner über Goethe und Hegel bis hin zu Freud. Und sie korreliert die Spezifika dieser Etappen: Subjektivierung des Textes (Anthropologie der Neuzeit), Symbolisierung des Subjekts (Literatur der Klassik), Systematisierung des Subjektiven (Philosophie des Idealismus), Subjektivierung der Erfahrung (psychologische Theorien) mit den Jugendschriften Nietzsches. Der zweite Teil fokussiert auf Nietzsches Mnemonik und erörtert sie anhand von Quellen der antiken Rhetorik und Erkenntnissen der zeitgenössischen Gedächtniswissenschaften. Mit der von Thüring betriebenen Verlagerung von Nietzsches ,Gedächtnisort' von der "Zweiten unzeitgemäßen Betrachtung" auf die Notizzettel der Jahre 1872 bis 1889 vollzieht sich zugleich eine interpretatorische Umbewertung von Vergessen und Gedächtnis, das nicht länger, wie in der bisherigen Nietzsche-Forschung, als ein Mangel an tierischer Kreatürlichkeit begriffen werden kann. Der Sachverhalt ist komplizierter: Nietzsches sich im Spannungsfeld von Sprachdenken und Leibgeschehen entfaltende Mnemonik vergisst das Vergessen nicht, sondern betreibt es als subjektivierende Selbstpraxis im und aus dem Gedächtnis heraus.
F. M.
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