Am schönsten ist doch immer noch das Weltende

Über Jakob van Hoddis' zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte

Von Klaus Cäsar ZehrerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Klaus Cäsar Zehrer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Sagen Sie mal ein Gedicht von Jakob van Hoddis auf."

"Weltende. Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut, in allen Lüften hallt es wie Geschrei. Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei und an den Küsten - liest man - steigt die Flut. Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen an Land, um dicke Dämme zu zerdrücken. Die meisten Menschen haben einen Schnupfen. Die Eisenbahnen fallen von den Brücken."

"Danke, das läuft ja wie geschmiert. Und nun noch eins, bitte."

"Noch eins? Hat der denn noch was anderes geschrieben?"

Hat er, hat er, wenn ihm auch nicht viel Zeit dazu blieb: 1911 veröffentlichte van Hoddis, 23-jährig, sein erstes Gedicht, 1914 schon sein neununddreißigstes und letztes. Es folgten Jahrzehnte der Geisteskrankheit und 1942 die Deportation aus einer Israelitischen Nervenklinik in ein Massenvernichtungslager in Polen. Dort verliert sich die Spur; nicht einmal das genaue Datum seiner Ermordung ist bekannt. Als 1958 zum ersten Mal eine Gesamtausgabe des fast vergessenen Dichters zusammengestellt wurde, tauchten im Nachlass 35 unveröffentlichte Gedichte auf, die aus unerfindlichen Gründen in der neuen Edition fehlen.

Es gibt einige Dichter, von denen die Nachwelt nicht mehr erinnert als einen einzigen Text oder gar nur eine Zeile: Wem sagen die Namen Johann Gaudenz von Salis-Seewis, Theodor Enslin oder Luise Hensel noch etwas? Von ihren berühmtesten Schöpfungen, "Bunt sind schon die Wälder", "Guter Mond, du gehst so stille", "Müde bin ich, geh zur Ruh" dagegen kennt fast jeder zumindest den Titel. Mit van Hoddis jedoch hat es eine besondere, ja einzigartige Bewandtnis: Sein "Weltende" wurde nicht als Text eines Volksliedes berühmt, sondern als Initialzündung einer ganzen literarischen Bewegung, des Expressionismus. Wie kommt es, dass einer mit acht Zeilen eine ganze Dichtergeneration prägen, ansonsten aber kaum Aufmerksamkeit erregen kann? Wer war dieser berühmte und doch unbekannte Jakob van Hoddis? Ein mittelmäßiges Talent mit Zufallstreffer? Oder ein Genie, zu Unrecht auf einen Scoop reduziert?

Das "Weltende", in verschiedenen Anthologien als das typische expressionistische Gedicht vorgestellt, wirkt neben dem verrätselten, bildmächtigen, übersensiblen Pathos eines Heym oder Trakl immer als Fremdkörper - auffallend klar, unterkühlt, fast flapsig. Der da das Weltende damit beschrieb, dass die meisten Menschen einen Schnupfen haben, der die Dachdecker ungerührt "entzwei gehn" ließ (ein seltsames Bild: in der Mitte durchgebrochene Menschen) - schilderte der wirklich seine düsteren Untergangsvisionen, oder war er nicht eher ein, wenngleich etwas makabrer, aber doch: Humorist?

Ja, es geht schon mit durchaus rechten Dingen zu, dass ausgerechnet dieses eine und nicht irgendein anderes Gedicht seinen Ruhm ausmacht. So knapp, lapidar, einleuchtend und bündig hat er sonst nie formuliert, zumindest nicht ein ganzes Gedicht lang. Recht dunkel ist da oft der Sinn, die Sprache manchmal verschwiemelt-pompös:

"Alle Gefahren, die mir ruhmvoll deuchten, / Sind nun so widrig wie der Winterwind. // Ich hasse fast die helle Brunst der Städte. // Wenn ich einst wachte und die Mitternächte / Langsam zerflammten - bis die Sonne kam".

Manchmal auch schlicht verkitscht:

"O Nacht zärtlicher Sterne Gefunkel / In liebesklarer Luft / Lebendigen Traumes Flammendunkel. / Über schmalen Wegen der Bergeskluft, / Hoch im Gebirg' in den eisigen Gipfeln ein Raunen. / Musik der Seele. Tanz und Märchen erstaunen."

Sonderlich elegant ist das alles nicht, weder die dicke Alliteration "widrig wie der Winterwind", noch das "Ich hasse fast" - warum das starke Wort, wenn es sofort wieder zurückgenommen wird -, noch die langsam zerflammten Mitternächte, noch der zärtlichen Sterne Gefunkel in liebesklarer Luft, noch die erstaunenden Tanz und Märchen. Nein, ein Genie war Jakob van Hoddis weißgott nicht. Aber immerhin einer, der in der kurzen Zeit, die ihm blieb, so mancherlei Tonfall ausprobierte und wohl auch antizipierte. Als Vorreiter des Expressionismus ging er in die Literaturgeschichte ein, warum nicht auch des Dadaismus:

"O Traum, Verdauung meiner Seele! / Elendes combination womit ich vor Frost mich schütze! / Zerstörer aller Dinge die mir feind sind; / Aller Nachttöpfe, / Kochlöffel und Litfaßsäulen... / O du mein Schießgewehr".

Oder des Kabarettcouplets:

"Drei Männlein singen in der Höhe / Den gräßlichen Gesang: / Hast de Wanzen, Läuse, Flöhe. / Wird die Zeit dir gar nicht lang".

Oder des Songs im Junger-Brecht-Sound:

"Bladdy Groth / War ein Mädchen von zartem Geblüt, / Bladdy Groth, Bladdy Groth ist tot. / Bladdy Groth war ein Mädchen von keuschem Geblüt / Und sie hat doch für viele Männer geglüht / Und keiner hat sich umsonst gemüht / Bladdy Groth, Bladdy Groth, Bladdy Groth".

Und ein Humorist war van Hoddis nebenher auch. Das zeigt sich manchmal in ganzen Gedichten, mehr noch in einzelnen Formulierungen:

"Der Mond ist meine Tante, / Er schmoddert durch die Nacht", heißt es da, und von einem "dünnen Frauenarm": "Die Finger waren mit kostbaren Ringen bepatzt." Wohingegen die Engel: "Die Engel fürchten sich vor Gottes Fluch / Und haben Zigaretten in der Fresse."

Das sind schöne, lichte, einprägsame Verse, die doch nie und nimmer das dritte Jahrtausend erreicht hätten, stammten sie nicht zufällig aus der Feder des Autors von "Weltende". So bleibt es denn dabei: ohne jene acht Zeilen, ohne jenen Sensations-Smash-Hit von 1911 wäre Jakob van Hoddis nicht bis zu uns durchgedrungen. Alles andere ist - nicht uninteressante - Ergänzungslektüre. Dem Arche Verlag und dem Herausgeber Paul Raabe, der zudem umfangreiche editorische Nachweise beigesteuert hat, ist es immerhin zu verdanken, dass wir sie uns vornehmen können.

Titelbild

Jakob van Hoddis: Weltende. Die zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichte.
Herausgegeben von Paul Raabe.
Arche Verlag, Zürich - Hamburg 2001.
112 Seiten, 14,30 EUR.
ISBN-10: 3716022845

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