Darf's ein bisschen mehr sein?

Salamitaktische Sorgen im "Jahrbuch der Lyrik 2002"

Von Julia DombrowskiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Dombrowski

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Herausgeber des Gedichtbandes "Jahrbuch der Lyrik 2002", Christoph Buchwald und Adolf Endler, haben sich ein hohes Ziel gesteckt: "Neben bekannten Namen trifft man immer wieder auf Neuentdeckungen, die, da kann man sicher sein, Jahre später zum Kanon der deutschsprachigen Literatur zählen werden".

Es findet sich neben diesem hehren Anspruch aber auch ein unverblümtes Geständnis: "Einige sehr beeindruckende Gedichte sind dem Salami-Messer zum Opfer gefallen, wir mußten halt so lange an der Wurst schneiden, bis sie die gewünschte Länge hatte." Eine Lyriksammlung zwischen literaturgeschichtlicher Relevanz und Salamitaktik? Verständlich, dass eine Anthologie nur eine begrenzte repräsentative Auswahl an Werken eines ganzen Jahres umfassen kann, aber Buchwalds gewählte Metapher klingt grausam prosaisch. Bei Lyrik an Wurst und Salami zu denken, ist nämlich Käse.

Seit 1979 ist Christoph Buchwald mit wechselnden Mitherausgebern für die jährliche Anthologie zuständig. Die beiden Herausgeber, die eine Auswahl der Gedichte des vergangenen Jahres präsentieren, sind nicht irgendwer, sondern 'alte Hasen' im Literaturgeschäft: Buchwald war jahrelang Lektor bei den Verlagen Claassen und Hanser, danach zunächst Verlagsleiter beim Münchener Luchterhand Literaturverlag, bis Ende 2000 dann bei Suhrkamp. Adolf Endler ist Lyriker, Kritiker, Essayist und Prosaist und veröffentlichte zuletzt 1999 den Gedichtband "Der Pudding der Apokalypse".

Selbstverständlich dürfen im Ausblick auf ein lyrisches Jahr literarische Fixsterne wie Durs Grünbein, Lutz Seiler, Volker Braun, Friederike Mayröcker, Sarah Kirsch oder Robert Gernhardt nicht fehlen. Von besonderem Interesse sind aber die Autoren, deren Anerkennung in der Literaturwelt noch nicht vorausgesetzt werden darf - die bisher unbekannten Newcomer, deren Einzug in die Institution "Jahrbuch der Lyrik" eine Premiere bedeutet.

So findet sich zum Beispiel die Erstveröffentlichung "bald verschneit" eines noch gänzlich unbeschriebenen Blattes, des gerade 18-jährigen Martin Amling. In eiliger Sprache betrachtet sein lyrisches Ich eine Schar verspäteter Zugvögel; "normale versager" tituliert er sie. Fatalismus liegt in den Worten: "so wirds kommen", lautet der Schluss, von Desorientierung, Ermattung, Entkräftung, fortschreitendem Dunkel gezeichnet. Düstere, aber müde Zukunftssorgen sprechen aus den Zeilen. Was nur begründet diese dunklen Gedanken?

Ganz anders arbeitet der Neuling Jörg Matheis in "Subwoover". Der Titel ist Programm: Nenne dein Gedicht nach einem Tiefton-Lautsprecher - und es wird dröhnen. Der sehnsuchtsvolle Wunsch nach "leiser-machen" wird laut. Man spürt geradezu den Presslufthammer namens beats per minute, während der Lärm illustriert wird durch das Anschwellen der Bitte um Ruhe. Bald blättert man auf die nächste Seite, denn von einem gewissen Grad an Krach an hat auch die Imagination keine Lust mehr.

"Vor dem Techno und danach" des großen Taktgebers Hans Magnus Enzensberger klingt beinahe wie eine Antwort auf den "Subwoover": Eine Hommage an das Vermächtnis Joseph Freiherr von Eichendorffs, dessen Leben Enzensberger so still beschreibt, dass es im Vergleich zu unseren Bässen um ein Haar lautlos erscheinen mag. Doch sind Eichendorffs Zeilen "haltbarer als die morschen Ziegel". Was heute laut ist, wird ohne Nachhall verklingen. Anderes wird sich von Bestand erweisen.

Mit aller Deutlichkeit soll an dieser Stelle auf das Muss der Lektüre von Martin Zinggs "Klassische Sorgen" hingewiesen werden. Beeindruckend ist der Inhalt, "Vorankommen" lautet Devise und Appell, voran gegen die Widerstände des eigenen Körpers und des sumpfigen Grundes. Beeindruckend nicht weniger der Stil. Kaum können die Verse gelesen werden, ohne den Drang zu spüren, den besonderen Rhythmus laut vorzusprechen, wieder und wieder, bis die Worte sich einprägen: "So komm ich voran, nur so". Diese Komposition von Ausdruck und Gehalt ist ein Goldstück im "Jahrbuch".

Wehe dem, der glaubt, Christoph Buchwald und Adolf Endler haben schon alles präsentiert, was das vergangene Jahr zu bieten hat. Nicht vergessen: Die "Wurst" brauchte "die gewünschte Länge". Aber wer Poeme wie "Klassische Sorgen" oder Friederike Mayröckers "von überall äugelt die blume die sonne" vorführt, wer Robert Gernhardts "Dankopfer" spürbarer Lebenslust anbietet, kann auch wieder versöhnlich stimmen.

Titelbild

Christoph Buchwald / Adolf Endler (Hg.): Jahrbuch der Lyrik 2002. Gedichtsammlung.
Verlag C.H.Beck, München 2001.
160 Seiten, 12,80 EUR.
ISBN-10: 340647151X

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