Drehbuch einer Ehe

Tim Parks erzählt vom "Schicksal"

Von Melanie OttenbreitRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Ottenbreit

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es trifft den Leser wie ein Schlag: Selbstmord mit einem Schraubenzieher. Das eigene Kind. In der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie. Und noch ehe sich die Trauer ins Gehirn des Vaters gräbt, wird ihm "mit geradezu verstörender Deutlichkeit bewußt", dass dies "für mich und meine Frau das Ende bedeutete. Das Ende unseres gemeinsamen Lebens, meine ich. Es gab keinen Grund mehr, sagte ich mir, schockiert von der Klarheit und Schärfe dieser jähen Erkenntnis und unter Umgehung all jener Gefühle, die man bei einem derartigen Verlust im ersten Moment erwarten würde, keinen einzigen Grund, warum du und deine Frau noch zusammenbleiben solltet, jetzt, wo euer Sohn tot ist."

Christopher Burton, erfolgreicher Journalist, Buchautor und wie Tim Parks in Italien lebender Brite, erfährt von Marcos Tod in einem Hotel in England. Er arbeitet gerade an einem Buch über den Nationalcharakter und ordnet alles in vorgefertigte Raster ein: Sein eigenes, unentschlossenes Lavieren in die Rubrik "typisch englisch", das impulsiv Aufbrausende seiner Frau unter "typisch italienisch". Das alles ist ein Manöver, um den Zufall aus seinem Leben auszuschließen, keinem Gefühl, keiner Reaktion spontan begegnen zu müssen. Bevor Burton das Selbstverständliche gelingt, nämlich zu trauern, vergehen achtundvierzig Stunden, in denen ihn nur eines beschäftigt: "Wie hat das alles angefangen?" Die Schizophrenie seines Sohnes, das Verhältnis zu seiner Geliebten, der Hass auf seine Frau. Zwei quälende Tage eines Getriebenen, der nicht pinkeln kann, dessen Urin seine Blase zu sprengen oder seine Nieren zu zerstören droht. Zeit, die nur um den einen Gedanken kreist, dass die wahre Nachricht des Hotelanrufs nicht die von Marcos Tod war, "denn der war schon vor langer Zeit gestorben": Es war "die Ankündigung der unvermeidlichen und unmittelbar bevorstehenden Trennung von meiner Frau."

Tim Parks, in Verona lebend und seit vielen Jahren mit einer Italienerin verheiratet, spielt in seinem jüngsten Buch mit literarischen Traditionen: Zwar nennt er "Schicksal" einen Roman, viel eher aber ist es eine Novelle, so wie Goethe sie gegenüber Eckermann definierte: als "eine sich ereignete unerhörte Begebenheit" - unerhört, aber doch immerhin möglich. Kein Zufall auch, dass Boccaccio als Schöpfer mittelalterlich novellenhafter Gesellschaftsdichtung durch Tim Parks Werk geistert, in Tiergestalt. Als Hund namens Boccaccio, der die Leiche eines alten, peinlichen Regisseurs im dritten Frühling im Badezimmer entdeckt, nachdem der sich etwa zeitgleich mit Burtons Sohn das Leben genommen hat. "Eine lächerliche Niete von einem Mann, der seine Enkelkinder nie gesehen hat und für seine opportunistische Geliebte, die nicht einmal mit ihm in einem Zimmer schläft, schlechte Gedichte schreibt. Ein großer Theaterregisseur. Der Hund hat ihn gefunden."

Tim Parks erzählt vom Schicksal in mancherlei Gestalt: Nicht dem Schicksalsschlag von Marcos Sohn gehört sein Augenmerk, sondern dem alltäglichen, schleichenden Schicksal einer unglücklichen Ehe. Den Verletzungen, die Ehepartner sich und ihren Kindern antun, wenn sie zu feige sind, sich zu trennen und zu kraftlos, neu zu beginnen. "Wie hat das alles angefangen?" will Burton in einem Interview von Andreotti wissen, dem italienischen Premier, der beschuldigt wird, mit der Mafia zu kooperieren - und fragt es doch eigentlich sich selbst. Wie hat das alles angefangen mit seiner kaputten Ehe, mit der Eifersucht seiner Frau auf die gemeinsame Adoptivtochter, mit seinem seelisch kranken Sohn, der plötzlich mit seiner Mutter nur noch englisch spricht, in der Sprache des Vaters, von der die Italienerin ausgeschlossen ist? Der schizophrene Sohn - Metapher für den Zustand der Ehe - bohrt sich "den Schraubenzieher in die Adern" und sucht im Schmerz nach Identität. Vergeblich. Sein Tod befreit nur die, die seine Krankheit mitverschuldet haben. Die Eltern löst er mit seiner Wahnsinnstat aus ihrer Erstarrung. Am frischen Grab kann Burton seiner Frau endlich sagen, was all die Jahre schiefgegangen ist: "Wir haben alles verloren. Wir hätten einander nicht unglücklicher machen können." Erst als alles zwischen ihnen geklärt ist, Christopher und Mara einen Neuanfang beschließen, können sie anfangen, um ihren Sohn zu trauern.

"Schicksal" ist ein verstörendes Buch, von der ersten Seite an. Einfachen Antworten versperrt es sich so wie einer Moral. Tim Parks seziert mit einer fabelhaften Beobachtungsgabe die seelischen Zustände seiner Figuren, allen voran Christopher Burtons Schwanken zwischen Egoismus, Verzweiflung, Überheblichkeit und Angst. Immer wieder betont der Journalist, es gäbe keinen Grund mehr, mit seiner Frau zusammenzubleiben. Er sagt es zu oft, wie dem Leser dämmert. Die Infragestellung der Ehe mit Mara ist Burtons Umweg, nicht über sich selbst nachdenken zu müssen. Deshalb wirft ihn das Geständnis seiner Frau, sie liebe ihn noch immer, völlig aus der Bahn. Damit hat er nicht gerechnet, denn sein oder doch ihrer beider Schicksal bestand doch darin, sich gegenseitig abzulenken. "In einer Welt, in der man nicht in die Tiefe gehen kann, was kann das Schicksal da anderes sein als eine lange, furchtbare Anlenkung? Wir waren beide unwillig... Wir wehrten uns beide dagegen, uns zu lieben... Wir haben andere verletzt, um unserer Liebe zu entkommen."

Die Innenschau Burtons gelingt Tim Parks gerade auch deshalb, weil sein Stil den Inhalt spiegelt: Seine Sätze dringen immer tiefer vor, werden ständig aufgefächert, ergänzt, sprachlich präzisiert. So schweifen die Fragen des Journalisten, die er für das Interview mit dem mafiaverdächtigen Andreotti vorbereitet, immer auch zu seiner eigenen Frau und pendeln dann wieder zurück: "In meinem Alter - mit einem entschuldigenden Zucken der gekrümmten Schultern und dem typischen, halb verschlagenen, halb gekränkten Lächeln, das bedauerlicherweise fehlen wird, wenn das Interview per Fax geführt werden muß - in meinem Alter und nach zehn Jahren Dienst an meinem Land - denn er wird den Dienst an seinem Land mit ebenso großer Gewißheit erwähnen, wie meine Frau, wann immer man sie fragt, wie etwas angefangen hat... unweigerlich ihre jahrzehntelange treue Ergebenheit zu ihren Ehemann erwähnt -, in meinem Alter, wird Andreotti sagen, darf ich wohl mit Fug und Recht davon ausgehen, über solche verleumderischen Anschuldigungen erhaben zu sein." Christoper Burtons Obsessionen nehmen einfach gefangen. Kein Leser wird dem Schicksal entgehen, von diesem erschütternden Buch berührt zu werden.

Titelbild

Tim Parks: Schicksal. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Ulrike Becker.
Verlag Antje Kunstmann, München 2001.
282 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3888972574

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