Eine menschliche Tragödie

Thomas Lehrs Novelle "Frühling"

Von Melanie WitteRSS-Newsfeed neuer Artikel von Melanie Witte

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Frühling" teilt uns den inneren Monolog eines Sterbenden mit. Im Verlauf von 39 Sekunden und Buchkapiteln geht Christian Rauch, ein "Schatten- und Scham:Mensch", seinem selbstgewählten Tod entgegen. Zu Beginn der Lektüre versteht der Leser nicht, was dem Erzähler zugestoßen ist. Ein "Blitz" hat diesen in eine seltsame Stadt katapultiert, in deren Bars die Menschen auf Monitore starren, auf deren Plätzen menschenhohes Gras wächst, durch das wohlgeformte Nackte wandeln, und in der das Museum der Geburten einlädt. Vereinzelt tauchen dann Bruchstücke von Erinnerung auf, die sich schließlich zur prägnat skizzierten Geschichte eines "jämmerlichen" Lebens zusammenfügen.

Die Novelle lebt bei der ersten Lektüre auch von der aus dem Nichtwissen resultierenden Spannung. Deshalb soll in dieser Rezension, im Gegensatz zu anderen - das Buch wurde inzwischen in allen großen Feuilletons goutierend besprochen - so wenig wie möglich von der Lebensgeschichte Christian Rauchs gesprochen werden. Es genügt, an dieser Stelle die zentralen Motive der Geschichte zu erwähnen: Schuld und Erlösung. Für den Protagonisten ist letztere nur im Tod zu haben, der Tod stellt sich ihm dar als "eine Heilung im Ausmaß einer Verheerung" aller physischen und damit auch seiner psychischen Gebrechen. Der Tod ist der Eintritt ins Paradies, er ist der Frühling.

Titel und Aufbau sowie Einzelheiten in Personal und Lokalitäten entleiht Lehr Dantes "Göttlicher Komödie", der zweifellos bedeutendsten Jenseitswanderung der Literaturgeschichte. Das gelehrte Spiel mit intertextuellen Verweisen ist fester Bestandteil der Lehrschen Literatur. Was sein jüngstes Werk betrifft, so sind vielleicht die Gegensätze zur literarischen Folie aufschlussreicher als die zwangsläufig ziemlich konstruierten Parallelen. Ein Beispiel: Für die "Divina Commedia" erwählt sich Dante einen weisen Führer durch das Totenreich. Es ist Vergil, dessen "Aeneis" - der sechste Gesang - zudem das wichtigste literarische Vorbild für die "Göttliche Komödie" bildet. Das Zusammentreffen Dantes mit Vergil bekräftigt die Kontinuität der Geschichte von der Antike zum lateinischen Mittelalter und darüber hinaus. Thomas Lehrs Protagonist findet ebenfalls einen Begleiter. Der bleibt aber allezeit ein "dunkler Freund", ein schweigender und daher unverstandener Schatten. "Frühling" kreist um einen Sündenfall, der jede positiv teleologische Sicht von Geschichte ad absurdum führte und einen unüberwindlichen Abgrund zwischen nur zwei Generationen schuf.

Formal bedeutet "Frühling" einen Neuaufbruch im Werk Lehrs. Dessen dickleibige Romane "Zweiwasser oder Die Bibliothek der Gnade", "Die Erhörung" und "Nabokovs Katze" waren mit wohlstrukturierten, gelegentlich auch etwas manierierten langen Sätzen gefüllt. Die neu gewählte Form ist dem Thema angemessen. "Frühling" erzählt Unaussprechliches, eine "sich ereignete unerhörte Begebenheit" ganz im Sinne der Goetheschen Definition der Novelle. Parallelen finden sich auch zu einem der berühmtesten Beispiele der Gattung, auf dessen Autor "Frühling" ebenfalls verweist, zur "Marquise von O..." von Heinrich von Kleist. Hier wie dort tritt hinter einer nur augenscheinlich unerhörten Tat die ganze Abgründigkeit des Menschen hervor, hier wie dort bedroht die Realität den menschlichen Verstand, und wo der Verstand nicht mehr greift, da muss auch die Sprache ins Stocken geraten: "Es gibt keine. Erklärung für. Kinder, Robert, es. Ist etwas in. Unser Haus gekommen wie. Eine Kälte / Starre eine gestaltlose bedrohung ein ständiges zerbrechen von dingen deren vorhandensein man gar nicht bemerkt hat und deren scherben lautlos fallen und unsichtbar."

In "Frühling" wechseln sich Syntax zertrümmernde Interpunktion und Passagen ohne Punkt und Komma ab, so dass die Form des Monologs die Erregtheit des Sprechenden unmittelbar widerzuspiegeln scheint. Assoziative Freiräume eröffnen sich im Reichtum der Bilder und dadurch, dass syntagmatische Zuordnungen uneindeutig werden: "Auf den Schienen, Robert, ich: schrie. Nicht ich. Weinte erst Tage später".

Nach drei so anspruchsvollen wie unterhaltsamen Romanen und dieser Novelle, die die bewundernswerte Phantasie Thomas Lehrs inhaltlich knapper und formal weit kühner zum Ausdruck bringt, darf man wirklich gespannt sein, was uns von diesem Autor noch erwartet.

Titelbild

Thomas Lehr: Frühling. Eine Novelle.
Aufbau Verlag, Berlin 2001.
142 Seiten, 16,80 EUR.
ISBN-10: 3351029179

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