Fragmentierte Psyche oder falsches Bewusstsein?
Zur Taschenbuchausgabe von Ian Hackings "Multiple Persönlichkeit"
Von Oliver Pfohlmann
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseAuch Krankheiten haben ihre Geschichte. Vor 30 Jahren sprach kaum jemand von "multiplen Persönlichkeiten", von Menschen also, die gleich mehrere Persönlichkeiten in sich bergen, zwischen denen sie "switchen" wie zwischen Fernsehkanälen. Doch seit den 70ern steigt die Zahl der "MPs" vor allem in den USA, inzwischen aber auch in Europa, epidemisch an.
Der Prototyp einer multiplen Persönlichkeit sieht so aus: Eine Frau zwischen 30 und 40, weiß, aus der Mittelschicht. Mit einer großen Zahl an sogenannten alter-Persönlichkeiten, zwischen 10 und 20; darunter auch Kinder, Verfolger, "Helfer" und auch männliche alter. Lange Zeit hat diese Frau deren Existenz geleugnet. Erst die Begegnung mit einem kundigen Therapeuten hilft ihr, verdrängte Erinnerungen zurückzuholen: Erinnerungen an wiederholten sexuellen Missbrauch durch Familienmitglieder, an traumatische Verletzungen der Kinderseele, die diese zersplittern ließen in diverse Einzelpsychen.
So weit, so schlecht. Seltsam nur, dass sich dieses Krankheitsbild mit exponentiellen Zuwachsraten auszubreiten scheint, von Einzelfällen in den 70er Jahren zu geschätzten 300.000 Patienten in den 90er Jahren. Aber auch die Zahl der alter-Persönlichkeiten steigt: Trat zunächst nur eine auf, so sind heute 16 üblich. Seltsam auch, dass die wiedergewonnenen Erinnerungen immer bizarrer werden: Hatte "Sybil", eine der ersten und prominentesten MPs, in den 70er Jahren noch, bizarr genug, erinnert, wie ihre Mutter sich mit Küchenutensilien an ihr verging, so waren in den 90ern wiedergewonnene Erinnerungen an Kulthandlungen, satanistische Rituale und Kannibalismus an der Tagesordnung. Sie ließen darauf schließen, dass ein Geheimbund von Satanisten in den USA jährlich 50.000 Ritualmorde durchführte - von denen freilich kein einziger nachgewiesen werden konnte. Trotzdem führten die wiedergewonnenen Erinnerungen dazu, dass zahllose MPs den Kontakt zu ihren Eltern abbrachen, ermutigt dabei von einem dichten Netz von Selbsthilfegruppen und gläubigen Therapeuten. Da die Erinnerungen der MPs aber nur selten einer Überprüfung standhalten, wurde inzwischen eine Gegenbewegung gegründet, die "False Memory Syndrome Foundation", die leichtgläubige Psychiater anklagt, fiktive Erinnerungen an Kindesmissbrauch zu produzieren und damit Familienleben zu zerstören.
Die amerikanische Kulturwissenschaftlerin Elaine Showalter bezeichnet Massenphänomene wie das der "Multiplen Persönlichkeit", die sich in unserer Gegenwart erschreckend häufen, mit einem glücklichen Ausdruck als "Hystorien". Solche hysterischen Epidemien wie etwa das Golfkriegssyndrom oder das Chronische Müdigkeitssyndrom mögen einen wahren Kern haben oder auch nicht. Zum Massenphänomen werden sie durch einen Prozess, in dem sich verschiedene Faktoren wechselseitig verstärken und zusammen einen hochexplosiven Mix bilden: charismatische, ruhmsüchtige Ärzte, suggestible Patienten und, vor allem, die Medien, die über Fernsehen, Presse, Romane und Theaterstücke "Wissen" verbreiten: Wissen um neue Möglichkeiten der Selbstbeschreibung. Showalter beruft sich in ihrer Studie ("Hystorien", 1997) vor allem auf die materialreichen, luziden Untersuchungen des kanadischen Wissenschaftshistorikers Ian Hacking, dessen 1995 in Amerika und ein Jahr später auf Deutsch erschienene "Geschichte der Seele in der Moderne" (so ihr Untertitel) jetzt im Fischer Taschenbuch Verlag neu aufgelegt wurde.
Hacking analysiert zahlreiche Aspekte der MP-Bewegung; mit frappierenden Ergebnissen. Etwa, wie sich die Beschreibungen der "Multiplen Persönlichkeit" in den diagnostischen Handbüchern veränderten - und damit einhergehend die Symptome der in den Arztpraxen auftauchenden Patienten. Oder die haarsträubenden methodischen Augenwischereien, mit denen Spezialisten ihre Hypothesen verifizieren und die von den Wissenschaftskollegen prompt beglaubigt werden, ein Phänomen des Wissenschaftsbetriebs, das vermutlich nicht nur in der MP-Forschung zu finden ist: "Hat man einmal behauptet, eine Hypothese zu testen, dann ist es so, als ob man dies auch wirklich getan hätte. Die gleichrangigen Kollegen und Zeitschriftenherausgeber schauen nicht nach, ob Sie die Hypothese getestet haben. Kontrolliert wird vielmehr, ob Sie die verschiedenen vorgeschriebenen Statistikverfahren benutzt haben. Nach der Bedeutung dieser Verfahren fragt kein Mensch."
Hacking geht es aber gerade nicht um Verifizierung oder Falsifizierung des MP-Phänomens: "Vom Kindesmissbrauch und von unterdrückten Erinnerungen an Kindesmissbrauch wird angenommen, daß sie starke Wirkungen auf die Entwicklung des Erwachsenen haben. Was mich interessiert, ist weniger die Wahrheit oder die Falschheit dieses Satzes, sondern vielmehr, wie seine Annahme Menschen dazu veranlasst, ihre eigene Vergangenheit neu zu beschreiben. Die Individuen erklären ihr Verhalten anders und haben ein anderes Selbstgefühl." Als Foucault-Schüler fokussiert Hacking vor allem den genetischen Aspekt: Wie, wann und warum kam es dazu, dass Menschen sich im Rückgriff auf ihr Gedächtnis beschreiben und begreifen? Dass wir alle wie selbstverständlich davon ausgehen, in unserer Kindheit diese oder jene Beschädigung erlitten zu haben, diese oder jene Prägung, die unsere Handlungsmöglichkeiten beschränkt? Und, unter moralisch-praktischer Perspektive: Worin liegt die Attraktivität dieser Selbstbeschreibung, die dazu führt, dass sich Tausende von Menschen als Opfer beschreiben?
Überzeugend konstatiert Hacking eine epochale Veränderung in der kulturellen Semantik, in der Tiefenstruktur des diskursiven Wissens vom Menschen: Diese Transformation führte um 1880 in der sich konstituierenden Psychologie zu einem neuen Menschenbild, das heutige Diskussionen, aber auch Krankheitsbilder untergründig strukturiert, vorher jedoch unbekannt war: Die Vorstellung nämlich, dass der Mensch traumatische psychische Verletzungen erleiden kann, die sich seinem Gedächtnis dauerhaft einprägen und seine Persönlichkeit mehr oder weniger irreversibel beschädigen. Den positivistischen Wissenschaften, so Hacking, sei es dabei vorrangig um eine Säkularisierung bzw. Neudefinition der "Seele" gegangen, die bis dahin, anders als der Körper, noch immer in der Hand der Theologen und Philosophen war. War die Seele etwas Spirituelles, ist das Gedächtnis etwas positivistisch Greifbares. Dieses, von Hacking als "Gedächtnispolitik" bezeichnete Projekt, das direkt auf das Selbst, das Subjekt zielt, stellt für den Wissenschaftshistoriker die Komplettierung der beiden bereits von Foucault analysierten Projekte der Anatomie-Politik des menschlichen Körpers und der Bio-Politik der menschlichen Population dar.
Mit gravierenden moralisch-praktischen Folgen für das Selbstverständnis des Individuums. Denn wie und was wir erinnern, ist nicht "wertfrei". Vielmehr beschreiben wir unsere Vergangenheit mit unserem aktuellen "Wissen" neu und "verändern" sie damit. Wer unglücklich und leidend in eine therapeutische Praxis kommt, greift dankbar nach attraktiven Definitionsangeboten: "Gestörten und unglücklichen Menschen wird zunächst ein gewisses Bild von den Ursachen zugeordnet. Dann benutzen diese Menschen das Bild selbst, um ihr eigenes Verständnis der Vergangenheit neu zu ordnen oder zu organisieren. [...] Es gibt keine kanonische Vorgabe dafür, wie wir unsere Vergangenheit denken sollen. Auf der endlosen Suche nach Ordnung und Struktur greifen wir nach jedem vorbeihuschenden Bild und rücken unsere Vergangenheit in seinen Rahmen." Und sind froh, zu wissen, warum wir leiden und, vor allem, wer die Schuld daran trägt.
Hackings Kritik an der MP-Bewegung ist also letztlich eine moralische: Im Anschluss an die Moraltheorien Foucaults und Kants (!), die von den Ideen von Freiheit und Autonomie, von Verantwortung für das eigene Tun bestimmt werden, wirft er der MP-Bewegung und -therapie vor, massenhaft "falsches Bewusstsein" zu produzieren: "weil das Endprodukt eine durch und durch künstlich erzeugte Person ist und keine Person, die jenen Zwecken dient, aufgrund deren wir Personen sind. Keine Person mit Selbsterkenntnis, sondern eine Person, die um so schlimmer dran ist, weil sie über ein reibungslos funktionierendes Muster verfügt, das Selbsterkenntnis simuliert."