Paradox des unmännlichen Mannes

Hausväter, Priester, Kastraten

Von Antje StannekRSS-Newsfeed neuer Artikel von Antje Stannek

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Männer werden seit einiger Zeit unter dem Aspekt ihrer Geschlechtlichkeit beobachtet. Die anglo-amerikanische Forschung liefert im Rahmen der sogenannten men's studies interessante Analysen historischer Virilitätsformen, die mittlerweile schon so manche Selbstverständlichkeit relativiert haben. Allerdings befassen sich diese Studien in der Regel mit den Lebenswelten nord-amerikanischer Männer des 20. Jahrhunderts. Um so begrüßenswerter ist der Umstand, daß nun ein Sammelband vorliegt, der sich der Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit widmet.

Wie Martin Dinges in seiner Einleitung "Geschlechtergeschichte - mit Männern!" treffend aufzeigt, haben die Untersuchungen zur Männlichkeit in der europäischen Vormoderne Konsequenzen für unser bisheriges Verständnis von Geschlechtercharakteren, -rollen, -identitäten und -beziehungen. Zu Recht wird als Defizit erkannt, dass bisher vornehmlich der weibliche Teil der Menschheit in seiner Geschlechtlichkeit thematisiert wurde. Damit seien die überkommenden Vorstellungen vom Mann als einem geschlechtlichen Neutrum (der Mann = der Mensch) gleichsam reproduziert worden.

Die vorliegenden neun Beiträge des Sammelbandes belehren uns nun eines Besseren und zeigen eine solche Vielfalt von Männlichkeiten auf, daß die im Titel angezeigten Rollen "Hausväter, Priester, Kastraten" allenfalls exemplarisch verstanden werden können. Die ersten fünf Beiträge firmieren unter der Kategorie "Diskurse über "zentrale" und "periphere" Männerrollen", die folgenden vier unter der Rubrik "Praktiken zur Konstruktion von "Männlichkeit"":

Heike Talkenberger rekonstruiert die "Männerrollen in württembergischen Leichenpredigten des 16.-18. Jahrhunderts". Sie geht davon aus, daß diese Quellengattung vorwiegend über die gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenklischees unterrichtet, weshalb die im Personalteil der Leichenpredigten geschilderten Lebensläufe keineswegs mit den Lebensrealitäten der Verstorbenen verwechselt werden dürften. Talkenberger kommt zu dem interessanten Ergebnis, daß adeligen Männern eine größere Breite an Verhaltensmodellen zur Verfügung gestanden haben als den Männern niederer sozialer Herkunft. Allerdings lesen sich die von ihr rekonstruierten Männerrollen (der erfolgreiche Kriegsheld, der weise Regent, der liebende Ehemann, der fromme Adelige, der arbeitsame Bürger) doch ein wenig wie "tatsächlich" absolvierte Karrieren.

Renate Dürr untersucht das Selbstverständnis katholischer Seelsorgegeistlicher des 17. und 18. Jahrhunderts anhand von 30 Predigtsammlungen aus den Beständen der Wiener Staatsbibliothek. Die Predigtvorlagen, die aus Anlaß einer Primizfeier, eines Amtsjubiläums oder eines Todesfalls herangezogen wurden, geben Einblick in die Selbststilisierung katholischer Geistlicher, wobei der propagierte Tugendkanon durchaus "weibliche" Eigenschaften, wie etwas Fürsorglichkeit und Sanftmut, umfassen konnte. Dürr zeigt ferner, wie im Verlauf zweier Jahrhunderte das Selbstverständnis der Priester immer allmächtiger wurde, bis es in letzter Konsequenz sogar Gott selbst übertraf.

Bernd-Ulrich Hergemöller berichtet davon, wie sich die Demarkationslinien zwischen den gesellschaftlich anerkannten Geschlechtermodellen in Zeiten politischen und wirtschaftlichen Drucks verengen. Seine Beispiele stammen aus der Stadt Venedig des 15. Jahrhunderts. Anhand von rund 500 Einzelprozessen des städtischen "Collegium contra sodomitas" identifiziert Hergemöller drei "Sodomiter-Modelle": den "Dauersodomiten", der in einer langfristigen, eheähnlichen Lebensgemeinschaft lebte; den minderjährigen Sodomiten, den die Obrigkeit zunächst als passives Opfer betrachtete und später ebenfalls kriminalisierte; und schließlich die "Sodomiterin", eine Prostituierte, die angeblich verbotenen Sexualpraktiken nachging. Gerade in den Schauprozessen gegen die Bordellbesitzerinnen betrieb die städtische Obrigkeit nach Hergemöller in schlechten Zeiten die Verfolgung "innerer Feinde".

"Über die Männlichkeit der Kastraten" weiss Patrick Barbier in seinem Beitrag verblüffend Unspektakuläres zu berichten. Da er die Praxis der Kastration in den zeitgenössischen Kontext einordnet, kann er zeigen, dass diese Praxis in Süditalien als ein Dienst an der Kirche verstanden wurde. Das dargebrachte "Opfer" sei angesichts der Substitenznöte relativ gewesen, und zeitgenössische Theologen hätten die Stimme eines werdenden Mannes mitunter für ein wertvolleres Körperglied als dessen Hoden betrachtet. Mit dieser Relativierung kann Barbier dann auch überzeugend darlegen, daß es dem Publikum des Barockzeitalters keineswegs in den Sinn kam, die Kastraten nicht als Männer zu betrachten.

Auch Cordula Bischoff analysiert das nur scheinbare Paradox eines unmännlichen Mannes. Sie wählt das Herkules und Omphale Motiv zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Der griechische Held verliert durch seine Liebe zu Omphale seine Männlichkeit, so die Erzählung. Er wird in Frauenkleidern und mit einem Spinnrocken ausgestattet dargestellt, während Omphale die Keule als Herrschaftszeichen schwingt. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts sei dieser Satire auf die Herrschaftsverhältnisse zwischen Mann und Frau dann nicht mehr viel abgewonnen worden, berichtet Bischoff, das Thema sei fortan als Liebesgeschichte dargestellt worden. Ursächlich verbunden mit dieser Veränderung ging eine Neuorientierung der adeligen Männlichkeitskonzepte in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts einher. Die Einführung (Erfindung?) der Mätresse habe dem adeligen Mann die Erfahrung einer sinnlichen Liebe erst ermöglicht und anschließend auch in der Kunst ihren Niederschlag gefunden.

Michael Frank befaßt sich mit der scheinbar anthropologischen Konstante, ein "richtiger" Mann demonstriere seine Männlichkeit im Konsum von Rauschmitteln. Er zeigt, daß Geschlechterrollen durch den Konsum von Alkohol nicht nur konstituiert sondern auch gefährdet werden konnten. Der Alkoholkonsum trage zur Verstärkung des Mannes bei, wenn er ohne den Verlust von Selbstkontrolle vonstatten gehe. Trinkende Frauen wurden hingegen schärfer kritisiert, da sie sich mit dem öffentlichen Trinken Männerrollen aneigneten. Frank hält die am Becher ausgefochtenen agonalen Trinkrituale für eine Ersatzleistung anderweitig nicht mehr zu vollbringender Heldentaten und überträgt damit ethnologische Forschungsergebnisse auf historische Lebenswelten.

Heinrich R. Schmidt gewinnt dem Patriarchalismus eine neue Sichtweise ab. In der Analyse von Berner Ehegerichtsprozessen kommt er zu dem Ergebnis, daß die städtische Obrigkeit in den Verfahren häufiger mit Frauen paktierte. Die Ehefrauen nutzen diese Unterstützung, um ihre Männer zu arbeitsamen Hausmännern zu erziehen. Mit dem Ideal des disziplinierten Hausvaters lag ihnen ein Mittel in der Hand, welches bei Gericht Anerkennung fand und mit welchem sie die Gewaltanwendung verurteilen sowie die ökonomische Versorgung der Familie durch den Mann einfordern konnten. Schmidt zeigt anhand der Berner Beispiele, daß Männer sich diese neuen Rollen und Verhaltensanforderungen des arbeitsamen und familientreuen Hausvaters nicht ohne Widerstand aneigneten.

Gerd Schwerhoff betrachtet die Inszenierung von Männlichkeit am Beispiel der Blasphemie, die er als einen performativen Sprechakt begreift. Die mit der Todesstrafe belegte Gotteslästerung identifiziert er als männliches Delikt. Wie bei den von Frank analysierten Trinkritualen handelt es sich beim Fluchen, Schwören und Gotteslästern um agonale Rituale zur Herstellung und Wahrung männlicher Identität. Die demonstrative Furchtlosigkeit der Gotteslästerer sieht Schwerhoff in enger Verbindung zu anderen Formen aggressiv zur Schau gestellter Virilitäten, wie zum Beispiel dem Herausfordern aus dem Haus, dem Zücken der Waffe oder den Karten- und Würfelspielen. Diese Formen individuell verkörperter Herrschaft seien kennzeichnend für vormoderne face-to-face Gesellschaften. Schwerhoff kommt anhand der Analyse der Gotteslästerung auf allgemeine Bedingungen der Konstruktion von Männlichkeiten zu sprechen, an die weitere Forschungen anknüpfen können, in dem sie zum Beispiel nach der Verlagerung und Veränderung dieser Rituale im Zuge einer zunehmenden Disziplinierung des Mannes fragen.

Francisca Loetz analysiert die Gesten streitender Männer im frühneuzeitlichen Stadtstaat Zürich als körperliche Kommunikationsformen. Wiederum erweisen sich Konfliktsituationen mit Geschlechtergenossen als Orte, an denen Männlichkeit konstituiert wurde. Die Gesten waren erwartungsgemäß bunt und vielfältig und reichten vom Strecken des Hinterteils über das Fletschen der Zähne und das Beißen auf die Finger bis zum Faustschlag auf den Tisch, dem Aufstapfen mit dem Fuss und Demonstrationen der Waffe. Von dort ging die frühneuzeitliche Drohkultur über zu den Verbalinjurien und diversen physischen Konflikthandlungen (Ohrfeigen, Haareziehen, Hutabsetzen und Bartzerren etc.). Loetz zeigt, daß vermeintlich chaotische Gesten und Handlungen einer festgelegten und allgemein bekannten Wertigkeit unterlagen und zum Beispiel die Trefferflächen am Körper eines Gegenübers eindeutig identifizierbar waren. Ein Schlag auf den Arm rief andere Reaktionen hervor als ein Hieb auf den Kehlkopf.

Für die von Dinges angekündigten "Umrisse einer empirisch gesättigten Theorie der Konstruktion von Männerrollen" liefern die hier versammelten Beiträge erste Bausteine. Sie zeigen eine Vielfalt von Konstruktionsmöglichkeiten und eine Vielzahl von Männlichkeiten in einem geographischen Raum, der sich von Württemberg über Venedig, Neapel, Basel und Bern bis nach Zürich erstreckt.

Mehrere Beiträge greifen die männliche Ehre als ein zentrales Konzept von Männlichkeit auf. Ob und wie sich der Raum für die individuelle Performanz in den Ehrenhändeln in späteren Zeiten verkleinert, bleibt ein spannendes Forschungsfeld. Auch könnte gefragt werden, inwieweit zum Beispiel das im mediterranen oder mittel- und südamerikanischen Raum angesiedelte Männlichkeitsmuster "Machismo" mit den frühneuzeitlichen Ehrenhändeln vergleichbar ist?

Unterschiedliche Stellungnahmen zu der von Karin Hausen formulierten Leitthese über die Polarisierung der Geschlechtercharaktere am Ende des 18. Jahrhunderts melden Klärungsbedarf an. Während Talkenberger der These skeptisch gegenübersteht und eine Polarisierung der Geschlechtercharaktere bereits vor dem 18. Jahrhunderts konstatiert, beschreibt Dürr die vergleichsweise grösseren Gestaltungsmöglichkeiten von Tugendanforderungen und Standesaufgaben vor einer Ausbildung der Geschlechtercharaktere am Ende des 18. Jahrhunderts.

Die vorliegenden Beiträge versprechen weitere interessante Analysen zur Historizität des unbekannten Wesens Mann. Künftige Analysen spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Männlichkeiten können hier mit großem Gewinn ansetzen.

Titelbild

Martin Dinges (Hg.): Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit Konstruktion von Männlichkeit in Spätmittelalter und Früher Neuzeit.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1998.
297 Seiten, 21,50 EUR.
ISBN-10: 3525013698

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch