Vom jungen Dichter zum Mythopoeten: Rainer Maria Rilke

Anmerkungen zu einigen Neuerscheinungen

Von Stefan SchankRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Schank

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"'Nirgends, Geliebte, wird Welt sein, als innen. Unser / Leben geht hin mit Verwandlung. Und immer geringer / schwindet das Außen.' Diese Worte schrieb Rilke gegen Ende seines kurzen Lebens, von hohen Schweizer Bergen umgeben, in einem Turm. Ein Mann, der älter aussah, als er war, der fieberhaft an einem Stehpult schrieb, Erinnerungen wachrief und weghielt und anders erstehen ließ: ein Künstler, ein Verwandler." - Mit dieser Imagination des Dichters beginnt Ralph Freedman den ersten Teil seiner Rilke-Biographie, die kürzlich unter dem Titel "Rainer Maria Rilke. Der junge Dichter. 1875 bis 1906" im Insel Verlag erschienen ist. Rilke der Einsiedler, der Künstler, der Verwandler, der weltentrückte Dichter, der versucht hat, das Unsagbare in Worte zu kleiden - es sind wohlbekannte Attribute, denen der Leser bei Freedman anfangs begegnet. Es gehört jedoch zu den Verdiensten des Autors, dass er die dichterische Leistung Rilkes "gegen Ende seines kurzen Lebens" zwar stets im Blick behält, sich damit jedoch nicht den Blick verstellt auf die mühseligen Entwicklungsprozesse, die Krisen im Menschlichen wie im Künstlerischen, die ebenfalls zu Rilkes Leben und zu seinem Werk gehören. Doch dazu später mehr.

Schon vor etwas mehr als einem Jahr hat der Insel Verlag Rilkes "Gesammelte Werke in neun Bänden" herausgebracht, basierend auf der 1996 erschienenen, vierbändigen "Kommentierten Ausgabe". Die "Kommentierte Ausgabe" hat Lob, aber auch Kritik erfahren - beides lässt sich in den "Blättern der Rilke-Gesellschaft (Band 23/2000)", in den Besprechungen von Hans-Albrecht Koch bzw. Wolfram Groddeck nachlesen. Die Diskussion über dieses editorische Projekt kann und soll hier nicht weitergeführt werden.

Die vier Herausgeber der "Kommentierten Ausgabe", allesamt renommierte Rilke-Forscher, haben nun auch die Herausgabe der "Gesammelten Werke" unter sich aufgeteilt. Die neun Bände enthalten: "Die Weise von Liebe und Tod des Cornets Christoph Rilke" und "Die weiße Fürstin", "Das Stunden-Buch", "Das Buch der Bilder", die beiden Teile der "Neuen Gedichte", "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge", die "Duineser Elegien" und die "Sonette an Orpheus", einen Band mit Erzählungen sowie einen "Von Kunst und Leben" betitelten Band, in dem unter dem Oberbegriff "Schriften" einige Rezensionen, Vorträge, Aufsätze und für seine Dichtungskonzeption wichtige Briefe Rilkes zusammengestellt sind.

Die Prinzipien, nach denen diese "Gesammelten Werke" zusammengestellt wurden, werden nirgendwo offengelegt, weshalb es spekulativ wäre, über die Deskription hinauszugehen und eine Bewertung der Auswahl zu riskieren. Ein paar Hinweise auf das, was fehlt, müssen jedoch erlaubt sein, denn einiges, was den 'ganzen Rilke' ausmachen würde, wird in dieser Ausgabe komplett ausgespart: das zumindest quantitativ wichtige Frühwerk, von dem Rilke sich distanziert hat; die Dramen, die Rilke zumindest in der Zeit, als er sie schrieb, wichtig waren; die meisten Erzählungen - die, zugegeben, von sehr unterschiedlicher Qualität sind; die Gedichte in französischer Sprache und schließlich die Übertragungen, deren zum Teil hoher literarischer Rang und werkgeschichtliche Bedeutung nicht erst seit dem Erscheinen des siebten Bandes der "Sämtlichen Werke" im Jahr 1997 intensiv diskutiert wird. Wer Rilke kennenlernen möchte, der findet somit in den nun vorgelegten neun Bänden zwar den für die Beschäftigung mit diesem Dichter unverzichtbaren Kanon von Texten. Die Selektion, die jeder Kanonbildung inhärent ist, wird aber nicht begründet und auch in den Nachworten der Herausgeber nicht reflektiert, vielmehr fokussieren die Nachworte durch ihre Gewichtung und Anlage noch einmal auf bestimmte Texte innerhalb der Auswahl.

Ein wenig Statistik verdeutlicht, was ich hier mit ,fokussieren' meine. Von den 1.600 Seiten der Ausgabe entfällt etwa ein Fünftel auf die Nachworte. Ein Viertel davon, knapp 70 Seiten, bezieht sich auf die "Duineser Elegien", und die Nachworte zu den "Elegien", den "Sonetten", dem "Malte" und dem "Stunden-Buch" machen zusammen mehr als 50 Prozent des Umfangs der Nachworte insgesamt aus. Ausgerechnet das Nachwort zu den "Schriften" - die einem breiten Publikum kaum bekannt sein dürften und nach Meinung des Herausgebers "unverzichtbar für jede Annäherung an [Rilkes] Werk" sind - hat dagegen gerade mal acht Seiten.

Die ausführliche Besprechung vor allem der "Elegien" und des "Malte" mag angesichts der Bedeutung, die gerade diese Texte in der Forschungsliteratur seit Jahrzehnten haben, berechtigt sein. Aber, und dies halte ich für weitaus gravierender als Ungleichgewichte im Umfang, diese Forschungsliteratur ist in den Nachworten fast ausschließlich in ihrer Verarbeitung durch die Herausgeber präsent, und das, obwohl fast alle Nachworte neben Erläuterungen zu Quellen und Einflüssen und der Zitierung relevanter Briefstellen Rilkes auch Deutungen des jeweils behandelten Textes geben und sich damit ihrem Inhalt nach in die wissenschaftliche Diskussion stellen. Wörtliche Zitate aus der Sekundärliteratur gibt es kaum, Anmerkungen gibt es überhaupt nicht, auch kein Verzeichnis 'verwendeter' Literatur, nicht einmal die ansonsten üblichen Hinweise auf 'weiterführende Literatur'. August Stahl nennt immerhin einige Namen von Forschern, auf die er sich bezieht, doch sind solche Hinweise ohne Angabe der Quelle nur für Spezialisten verwertbar. Ansonsten entsteht bei der Lektüre der Nachworte über weite Strecken der Eindruck, als gäbe es keine erwähnenswerte Diskussion über die behandelten Texte und als hätte es eine solche nie gegeben. Lediglich an den gelegentlichen Anspielungen darauf, wie Leser dieses oder jenes bei Rilke aufgefasst haben oder nicht auffassen sollten, kann man erkennen, dass es unterschiedliche Meinungen zu den behandelten Texten wohl doch gibt.

Bei aufmerksamer Lektüre der Nachworte wird immerhin deutlich, dass die Herausgeber unterschiedliche Meinungen haben. So schreibt etwa Manfred Engel in seinem Nachwort zu den "Elegien", dass es dem "Ansehen Rilkes als eines modernen Lyrikers [...] eher geschadet" hat, dass manche Leser in seinen Werken "Lebenshilfe" und eine "ausformulierte Weltanschauung" gesucht haben. Denn, so Engel weiter, "wenn über eines Konsens besteht, so darüber, dass moderne Lyrik nie Lehrdichtung sein kann". Ulrich Fülleborn meint dagegen in seinem Nachwort zu den "Sonetten an Orpheus", diese nähmen "gleichsam die Form einer 'Lehrdichtung' an, vergleichbar den altgriechischen Hymnen, die unter dem Namen des Orpheus verbreitet waren". Und während Engel bekanntlich eine ausgesprochene Abneigung gegen biographische, psychologische und soziologische Deutungsmodelle hegt, verweist Stahl in seinen Nachworten häufiger auf die biographischen Bezüge des Werkes und bezieht gesellschaftliche Bestimmungsfaktoren wenigstens andeutungsweise in seine Interpretation des "Malte" mit ein, wenn er sagt, Rilke habe "seinem Malte die Hoffnung gelassen, dass es für sein 'tiefes Elend' eine 'Seligkeit' gebe, jenseits der vermittelten Normen, Konventionen und Zwänge und außerhalb vorgegebener Deutungen 'sehend' werden, die Wirklichkeit 'begreifen und gutheißen' und schließlich schreibend, als Künstler, gestalten zu können".

Als Einstieg in die Beschäftigung mit Rilke vermögen die "Gesammelten Werke in neun Bänden" zu dienen, und das, was in den Blick des Lesers gerückt wird, ist grundlegend und wichtig (und ich beziehe das ausdrücklich auf die ausgewählten Texte und auf den größten Teil des Inhalts der Nachworte). Die Komplexität von Rilkes Werk, seine plurale Sinnstruktur als ein Teil der literarischen Moderne und auch die Vielfältigkeit der Forschungsansätze wird in dieser Ausgabe allerdings nicht so repräsentiert, wie dies wünschenswert und meiner Meinung nach auch in den relativ engen Grenzen einer auf eine breite Leserschicht hin konzipierten Leseausgabe möglich gewesen wäre.

Gewiss nicht auf eine breite Leserschicht zielt der Band "Rilke und die Weltliteratur". Er enthält vierzehn Aufsätze, die aus Vorträgen für ein von den Herausgebern 1998 in Mainz veranstaltetes Symposion hervorgegangen sind. Drei Themenbereiche bilden die Schwerpunkte des Bandes: Rilke als Leser und Übersetzer, Rilke als Autor der Moderne sowie Rilkes weltliterarische Rezeptionen. Methodisch verbindet die Studien ein komparatistischer Zugang zu Rilkes Werk, wobei "der in der Einflussforschung noch immer dominierende positivistische Grundgestus durchgängig vermieden wurde". Was die Herausgeber hier als Tugend formulieren, resultiert aus der Notwendigkeit, "mittelbare und vielfältig gebrochene Prätext-Bezüge" zu erfassen, weil "markierte Intertextualität in Rilkes Werk die seltene Ausnahme bleibt". Anders ausgedrückt: Man weiß meist nicht so genau, ob Rilke sich in seinem Text nun auf einen anderen Text bezieht oder nicht. Der Vorbehalt der Herausgeber bezieht sich wohl vor allem auf die ersten fünf Beiträge des Bandes, die sich mit Rilke als Leser befassen, doch ist die Argumentation der Autoren hier fast durchweg überzeugend. Sie bleiben allerdings thematisch auch auf bereits recht gut abgesichertem Terrain.

Ulrich Fülleborn und Uwe Spörl beschäftigen sich mit "Rilkes Gebrauch der Bibel" bzw. "Rilkes poetische[r] Bezugnahme auf die Antike" und belegen, dass Rilkes Umgang mit Bibel und Antike einerseits von seinem jeweiligen poetologischen Erkenntnisinteresse geleitet war, andererseits aber auch in vielfältiger Weise auf die Entwicklung seiner Dichtungstheorie zurückwirkte. Nicht weniger komplex gestaltete sich Rilkes Auseinandersetzung mit dem belgischen Dramatiker Maurice Maeterlinck. Monika Ritzer zeichnet diese Auseinandersetzung nach, in der Maeterlinck zunächst Vorbild für Rilkes eigene dramatische Versuche war, bevor dieser sich später von dem Belgier abgrenzte. Anthony Stephens untersucht Rilkes produktiven Umgang mit den Werken Charles Baudelaires, dessen Prosagedichten Rilke wichtige Grundzüge des Erzählmodells für den "Malte" verdankt, wie der Autor überzeugend nachweist. Judith Ryans Thema ist "Pastiche und Kontrafaktur bei R. M. Rilke", und diese Arbeit begegnet nun in der Tat dem oben angesprochenen Problem des fehlenden nachweisbaren Textbezugs. Auch nach wiederholter Lektüre vermag ich jedenfalls nicht zu sehen, dass Rilke sich in seinem Gedicht "Auf der Kleinseite" tatsächlich auf Eichendorffs "In Danzig" bezieht.

Im Zentrum der Arbeiten zu Rilke als Übersetzer - Manfred Schmeling über Rilke als Übersetzer von Gide und Gide als Übersetzer von Rilke, Bernard Dieterle über Rilkes Michelangelo-Etüden und Andreas Wittbrodt über Rilkes Übersetzung der Sonette Elizabeth Barrett Brownings sowie Louise Labés - steht die Frage nach den hermeneutischen Grundlagen und Interessen, die Rilkes Umgang mit den fremdsprachigen Texten bestimmten. Der besondere Reiz dieser Untersuchungen liegt darin zu erkennen, in wie engem Zusammenhang Rilkes Übersetzertätigkeit mit seiner eigenen dichterischen Praxis und seiner poetischen Entwicklung steht. Dieser Zusammenhang geht weit über die manchmal behauptete 'Ersatzfunktion' des Übersetzens in Zeiten ausbleibender dichterischer Inspiration hinaus.

Das Herzstück der Sammlung "Rilke und die Weltliteratur" bilden drei Studien von Jürgen Söring, Wolfgang G. Müller und Winfried Eckel über Rilke als Autor der Moderne. Der gemeinsame Bezugspunkt der drei aus sehr unterschiedlichen Perspektiven geschriebenen Untersuchungen ist ein ästhetisches Moderne-Konzept, das die Epoche als Absage an Realismus und Naturalismus definiert und die Entwicklung anti-mimetischer Schreibweisen als wichtigstes Kennzeichen der literarischen Moderne annimmt. Rilke erscheint in den Betrachtungen - vereinfacht gesagt - als ein genuin moderner Autor, der jedoch eine ambivalente Stellung zwischen Abstraktionstendenzen und dem Festhalten am Gegenstandsbezug einnimmt. Winfried Eckels Aufsatz über die Konzeption nicht-mimetischer Kunst bei Rilke und Valéry ist die meines Erachtens herausragende Arbeit in einer inhaltlich überzeugenden Sammlung. Eckel gelingt es, seine Thesen, Argumente und Schlussfolgerungen unangestrengt und in einer präzisen, unprätentiösen, weitgehend jargonfreien Sprache vorzutragen, was in der germanistischen Zunft leider nicht die Regel ist.

Drei Arbeiten über Rilke und Marina Cvetaeva, die Rilke-"Imitations" des amerikanischen Lyrikers Robert Lowell sowie "Rilke in Japan und Japan in Rilke" machen den dritten Themenkreis aus, "Rilke-Rezeptionen" genannt, und verschieben den Akzent weg von Rilke und hin zu den jeweiligen Rezipienten. Heather Hahn Matthusens Versuch, Robert Lowells Rilke-Übertragungen zu erläutern und dabei gleichzeitig noch gegen die Kritik von Hartmut Heep ("A Different Poem") zu verteidigen, wirkt ein wenig unstrukturiert, wohl auch weil die Autorin einzelne Übertragungen zwar beschreibt, aber keine einzige wirklich vollständig abdruckt. Mizue Motoyoshis Überblick über die japanische Rilke-Rezeption enthält dann aber wieder viele Anregungen für weitere komparatistische Untersuchungen - und außerdem charmante Hinweise der Verfasserin auf einige Japan betreffende Missverständnisse Rilkes.

"Rilke und die Weltliteratur" ist ein Band für Spezialisten, seien es nun Rilke-Kenner oder Experten für den komparatistischen Anteil der jeweiligen Untersuchung. Leser, die keine Fachgelehrten sind, werden sich mit den doch recht speziellen Themen und dem von einigen Autoren gepflegten exklusiven Diskurs vermutlich schwer tun. Doch ist dem Band in seiner Zielgruppe aufgrund seiner wissenschaftlichen Qualität ein möglichst breiter Leserkreis zu wünschen.

Letzteres gilt uneingeschränkt auch für einen weiteren Band, dessen Titel die kreative Unruhe andeutet, die vermutlich der Anlass für die Konzeption der Sammlung war: "Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den 'Weltinnenraum'". Das Ziel der Aufsatzsammlung besteht darin, in Detailuntersuchungen wie auch in thematisch orientierten Überblicksdarstellungen die "ästhetischen, poetischen, medialen, sozialen und psychologischen Strategien" zu erkunden, "mit denen ein Dichter an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert versucht, Krisenerfahrungen der Moderne abzufangen". Ausdrücklich wenden sich die Herausgeber damit gegen die "Tendenz auch namhafter Rilke-Forscher, Rilke mit Rilke um Rilkes Willen zu erklären" - ein Ansatz, den die Herausgeber in ihrer unbedingt lesenswerten Einleitung fundiert und einleuchtend begründen. Ihre Argumentation mündet in eine Definition zeitgemäßer literaturwissenschaftlicher Interpretationen: "Wer literarische Texte als Medien kultureller Verständigung ernst nehmen will, kann nicht darauf verzichten, ihre gedanklichen und imaginativen Leistungen herauszuarbeiten [...] und für alltagssprachliche und philosophisch-begriffliche Weltbeschreibungen anschlussfähig zu halten. Er kann aber auch nicht darauf verzichten, ihre blinden Stellen, das Ungedachte und Unbedachte, durch den Hinweis auf Problemstellungen zu erläutern, in die Autor und Text - bewusst oder unbewusst - eingelassen sind, ohne über die Mittel zu ihrer Lösung zu verfügen." Durch diese liberale Auffassung von der Aufgabe literaturwissenschaftlichen Arbeitens wird der Raum geschaffen für methodischen Pluralismus, hier konkret: für unterschiedliche Zugänge zu Rilkes Werk, die ihre Plausibilität und Aussagekraft zuerst und vor allem an den Texten beweisen wollen.

Die Beiträge der dreizehn Autorinnen und Autoren des Bandes wurden zu drei Themenkreisen gruppiert: "Exerzitien des Verzichts", "Tier und Engel" und "Im Kreis der Sinne". "Exerzitien des Verzichts" umschreibt die bei Rilke häufig anzutreffende Umwertung der Beschränkung von Lebensmöglichkeiten zu Voraussetzungen für gesteigerte Erfahrung und eine erfüllte Daseinsform. In diesem Sinn interpretiert Hans Richard Brittnacher das freiwillige Sterben der Alkestis im gleichnamigen Gedicht als Verarbeitung des mythologischen Stoffes im Zeichen einer für Rilke spezifischen Opferlogik. Wiebke Amthors Aufsatz über "Rilkes Poetik der Leerstelle" beschäftigt sich, ausgehend und immer wieder Bezug nehmend auf Rilkes Vortrag über Rodin, mit einer rhetorischen Strategie, die eindeutige Denotationen vermeidet, um dadurch suggestive Assoziationsräume zu öffnen.

Die Beiträge von Stephan Porombka, Michael Huppertz und Angelika Ebrecht betrachten Rilkes Leben und Werk aus einer psychologischen, mitunter auch psychoanalytischen Perspektive. Huppertz und Ebrecht beschäftigen sich beide mit Rilkes Liebeskonzeption, gelangen allerdings zu recht unterschiedlichen Ergebnissen. Huppertz erkennt in Rilkes "Szenario" einer Liebe, die zur Bewahrung der Individualität der Liebenden auf Glück und Erfüllung zu verzichten bereit ist, eine Konzeption, die für Rilke lebbar und tragfähig war - und die möglicherweise tragfähiger ist als Beziehungen, die unter dem Druck eingegangen werden, die ganzen ungeheuren Glückserwartungen zu erfüllen, die üblicherweise mit Liebesbeziehungen verknüpft werden. Huppertz' Aufsatz ist das Ergebnis einer sehr persönlichen Annäherung an den Dichter, in einer vorsichtigen und einfühlsamen Sprache geschrieben, so dass es am Ende überhaupt nicht befremdlich wirkt, wenn der Autor fast eine Druckseite lang 'Rilke selbst' auf die Kritik an seinem Szenario der Liebe antworten lässt. Angelika Ebrechts Studie zum Briefwechsel Rilkes mit Magda von Hattingberg - der einzige Aufsatz, der schon einmal veröffentlicht, für den vorliegenden Band aber überarbeitet wurde - kommt demgegenüber zu dem Ergebnis, dass Rilke niemals gelernt hat, sich abzugrenzen, und deshalb nicht in der Lage war, das Erleben von Nähe und Distanz, Liebe und Hass auszugleichen. Stephan Porombka schließlich kann man in Anbetracht der Dynamik und Eloquenz seiner Invektive gegen das Lachverbot bei Rilke fortan in einem Atemzug mit den bekannten Rilke-Kritikern Reinhold Grimm und Egon Schwarz nennen.

Im zweiten Themenkreis, "Tier und Engel", befassen sich Klaus Laermann und Anja Hallacker mit den beiden ambivalenten Bezugspunkten, die Rilke außerhalb der gedeuteten Welt der Menschen einerseits im seiner selbst unbewussten Tier, andererseits im unerreichbaren Engel verortet. Manfred Engel hat in seinem Nachwort zu den "Duineser Elegien" ausgehend von Tier und Engel die Konzeption der "Mythopoesie" als konstitutives Element der Elegien formuliert. Die Arbeiten von Laermann und Hallacker haben Berührungspunkte mit dieser Konzeption. Ihre Studien richten den Blick jedoch nicht nur auf die geistesgeschichtlichen Hintergründe von Rilkes privater Mythologie, sondern auch auf die dem Bedürfnis nach einer solchen Mythologie zugrundeliegende Disposition zu Derealisierungserfahrungen.

Im Zentrum der Aufsätze des dritten Themenkreises, "Im Kreis der Sinne", steht Rilkes Theorie der Sinne und ihrer ästhetischen Medien. Fabian Störmer und Guido Graf verfahren in ihren Abhandlungen über "Rilkes Poetik des Erblindens" bzw. "Rilkes Rauschen" bedauerlicherweise so assoziativ, dass es schwer ist, ihren Gedankengängen zu folgen. Auch Katja Stopka beschäftigt sich mit der Metapher des Rauschens, wobei sie Rilkes Dichtungstheorie und seine poetische Praxis als Versuch begreift, der wissenschaftlich-technischen Analyse der Ding-Welt die Erfassung von Phänomenen entgegenzusetzen, die sozusagen dem 'Hintergrundrauschen' des menschlichen Wahrnehmungshorizonts zuzuordnen sind. Dabei bezieht sie sich unter anderem auf die Texte "Ur-Geräusch" und "Notizen zur Melodie der Dinge". Silke Pasewalk geht in ihrem Aufsatz über "Rilkes Musikauffassung im Übergang zum Spätwerk" erstmals den von Rilke selbst gegebenen Hinweisen nach, denen zufolge seine Musikauffassung wesentlich durch die Schriften des französischen Theoretikers Antoine Fabre d'Olivet beeinflusst wurde. Damit liefert die Autorin einen wichtigen Beitrag zu einem Thema, das von der Forschung lange vernachlässigt worden war, das in letzter Zeit aber häufiger behandelt wird. Susanne Scharnowski befasst sich mit den Briefen Rilkes über Cézanne. Diese waren schon häufiger Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen, doch kommt Scharnowski in ihren Detailanalysen über Rilkes Schwanken zwischen Einfühlung und Abstraktion bei der Betrachtung von Cézannes Bildern zu recht interessanten Ergebnissen. Claudia Öhlschläger schließlich wendet sich einem in der Forschungsliteratur zwar präsenten, bislang aber noch nicht eingehend untersuchten Thema zu: den unterschiedlichen Auffassungen Rilkes und Paul Klees über die Abstraktion in der modernen Kunst.

In wenigen Sätzen lässt sich nur andeuten, wie viele Anregungen man bei der Lektüre dieser Aufsatzsammlung bekommt - unabhängig davon, ob man mit der Vorgehensweise oder den Schlussfolgerungen eines Autors/einer Autorin nun völlig übereinstimmt oder widersprechen möchte. "Poetik der Krise" ist dazu geeignet, ebensolche 'lebendige und streitbare Diskussionen' anzuregen, wie sie nach Aussage der Herausgeber zu Beginn der Arbeit an den Texten stattgefunden haben. Möge das Buch viele Leser finden, die solche Diskussionen zu schätzen wissen.

Wer die Biographie eines Dichters schreibt, muss Farbe bekennen. Er muss auch dann weiterschreiben, wenn er sich tief in seinem Inneren eingestehen muss, dass er nicht genügend Informationen bekommen kann, um die Dinge so darzustellen, wie sie - vermutlich, denn genau werden wir es nie wissen - waren, wenn es in einem Lebenslauf eben einfach Lücken, scheinbar unmotivierte Entscheidungen und Brüche gibt. Er kann nicht ausweichen und muss sich im Zweifelsfall, um überhaupt weiterschreiben zu können, dann eben auf seine Intuition oder seine Lebenserfahrung verlassen; im Idealfall besitzt der Biograph beides. Wenn er versucht, sich hinter Theorien zu verstecken - seien es nun literaturwissenschaftliche, politische oder andere - oder wenn er Unliebsames unterschlägt, wird sein Buch gnadenlos verrissen oder, schlimmer noch, nicht gelesen. Gerät ihm seine Darstellung zu kühn, heißt es, dies sei 'sein Rilke', 'sein Heine', 'sein Hesse' usw. und eben nicht der 'wahre' Rilke, Heine oder Hesse. Ist der Biograph aber zu vorsichtig, wirft man ihm vor, bloß trockene Fakten aneinander zu reihen und keine Zusammenhänge herzustellen. Kurz: das Geschäft des Biographen ist schwierig. Und es wird nicht einfacher, wenn es schon ein paar Vorgänger gibt, die ihre Arbeit glänzend erledigt haben, wenn zentnerweise Forschungsliteratur zu einem Dichter vorliegt und wenn es eine Überfülle an auswertbaren Quellen und Zeugnissen gibt. Denn Quellen und Zeugnisse haben die unangenehme Eigenschaft, einander hin und wieder zu widersprechen.

Wer eine Biographie Rainer Maria Rilkes schreibt, kennt am Ende alle diese Schwierigkeiten. Da gibt es die Vorgänger: die mehr als 1.000 Seiten umfassende Chronik von Ingeborg Schnack, dazu die umfangreichen Rilke-Biographien von Donald A. Prater und Wolfgang Leppmann, beide aus den 80er Jahren; da gibt es mehrere Kurzbiographien; es gibt die unübersehbare Forschungsliteratur; es gibt Dutzende von Briefbänden, Briefwechseln, Erinnerungsbüchern; es gibt drei Archive, darin zahllose Dokumente; es gibt die Lücken: man denke an die unklaren Umstände bei der Trennung der Eltern oder an die Nordafrika-Reise; es gibt die Brüche: etwa Rilkes rätselhafte überstürzte Abreise aus Worpswede im Oktober 1900 und die übereilte Eheschließung mit Clara Westhoff; es gibt zahllose, vielleicht ganz belanglose, vielleicht eminent wichtige Fragen, auf die ein Biograph keine Antwort mehr erhält, weil man die beteiligten Personen nicht mehr befragen kann. Und es gibt, wenn es um Rilke geht, die Frage: Brauchen wir wirklich noch eine Rilke-Biographie? Die Antwort lautet: Wenn es so eine gute ist wie die von Ralph Freedman, dann ja.

Freedman hat alle zugänglichen Quellen und Zeugnisse recherchiert und 'begleitet' den Dichter auf seinem Lebensweg, stets wohlwollend, aber niemals distanzlos oder identifikatorisch. So entsteht eine anschauliche, dichte Schilderung der Atmosphäre und der Beziehungen, in denen Rilke lebte, wobei Freedman Situationen und Eindrücke nicht nur aus der Sicht Rilkes betrachtet, sondern, wo immer die Quellenlage dies erlaubt, auch die Perspektive der anderen Beteiligten einnimmt. Dies gilt in besonderem Maße für die Beschreibung der Rußlandreisen und für die Darstellung von Rilkes Beziehung zu Lou Andreas-Salomé - beides sind Meisterleistungen, sowohl was die Recherche als auch was die Darstellung betrifft. Anbahnung, Entwicklung und Abbruch von Freundschafts- und Liebesbeziehungen stellt Freedman stets vor dem Hintergrund von Rilkes menschlicher und künstlerischer Entwicklung dar. Das bewirkt einen kontinuierlichen Erzählfluss, der zwar gelegentlich die Grenze zum Romanhaften streift, den Boden der Tatsachen aber nie verlässt. Rilkes dichtungstheoretische und poetologische Entwicklungen verdeutlicht Freedman durch konzentrierte Analysen einzelner Texte - etwa der Gedichte "Die Aschanti" und "Der Panther", der "Weißen Fürstin" oder des "Cornet" - oder auch ganzer Werkabschnitte, wie zum Beispiel bei den "Geschichten vom lieben Gott" und bei den einzelnen Teilen des "Stunden-Buchs". An diesen Stellen tritt dann allerdings gelegentlich ein Wechsel in der Diktion ein, der Gestus der Rede wird dozierend und apodiktisch, und manchmal meint man dann, in einen Kommentar hineingeraten zu sein. Doch dies sind Ausnahmen. Den größten Teil des Buches prägt ein ruhige, gleichmäßige Sprache, in der sich kritische Einwände formulieren lassen, ohne dass diese vernichtend wirken, und die humorvolle Kommentare erlaubt, die nie zynisch klingen - etwa wenn Freedman den Besuch von Rilkes Mutter bei ihrem frisch verheirateten Sohn in einem einzigen Satz charakterisiert: "Josef brachte eine silberne Schale samt Krug mit; Phia musste hauptsächlich vor Zugluft geschützt werden."

Der genaue, schöne, sich keiner sprachlichen Modeerscheinung ergebende deutsche Text ist eine große Leistung des Übersetzers Curdin Ebneter. Dass der Veitstänzer aus den "Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" in der deutschen Ausgabe unter "Cholera" leidet, ist gewiss nicht dem Übersetzer zuzuschreiben, sondern wohl eine Verschreibung von "Chorea" - im englischen Text wird der Kranke jedenfalls als 'palsied man' bezeichnet.

Die der deutschen Ausgabe zugrunde liegende englische Erstveröffentlichung aus dem Jahr 1996 wurde vom Autor mit Hilfe seines Übersetzers und der Lektorin des Insel-Verlags, Vera Hauschild, gründlich revidiert und aktualisiert, da seither neue, bisher unzugängliche Lebenszeugnisse erschienen sind. Ergänzt und verändert wurde beispielsweise die Darstellung der Russlandreise. Aber wer die englische Ausgabe kennt, wird sicher überrascht sein, wie sich auch die Sicht des Autors auf einzelne Texte - erwähnt seien hier nur der "Cornet" und der dritte Teil des "Stunden-Buchs" - in den letzten Jahren verändert hat. Man erwartet den zweiten Teil der Biographie mit Spannung.

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Dieter Lamping / Manfred Engel: Rilke und die Weltliteratur.
Patmos Verlag, Düsseldorf und Zürich 1999.
320 Seiten, 30,60 EUR.
ISBN-10: 3538070849

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Hans Richard Brittnacher / Stephan Porombka / Fabian Störmer (Hg.): Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den "Weltinnenraum".
Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2000.
264 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 382601832X

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Rainer Maria Rilke: Gesammelte Werke in neun Bänden.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
1600 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3458345167

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Ralph Freedman: Rainer Maria Rilke. Das Leben eines Dichters 1875-1906.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Curdin Ebneter.
Insel Verlag, Frankfurt a. M. 2001.
450 Seiten, 29,70 EUR.
ISBN-10: 345816801X

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