Wanderer zwischen den Welten

Michael Klein über das Leben Jack Londons

Von Stefan FüllemannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Füllemann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

"Auf der einen Seite der Schienen lagen die Theater, die Hotels, die Kaufhäuser, die Banken, die großen, respektablen Handelshäuser. Auf der anderen die Fabriken, die Kesselhäuser, die Wohnstätten der arbeitenden Klasse, die Slums. Er kommt von der falschen Seite der Schienen. Und seit er denken kann, will er auf die andere."

Die Rede ist von Jack London. Ein Mensch mit Überzeugungen, Ideen, Werten, die ihn umtreiben, mit offenen Fragen, Krisen und der Sehnsucht nach wahrer Nähe. Aufgewachsen in ärmlichen Verhältnissen, hat er schon von Kindesbeinen an den Wunsch, der Armut zu entfliehen und der "besseren Gesellschaft" anzugehören. Als am 14. Juli 1897 die S. S. Excelsior im Hafen von San Francisco anlegt und sich die Kunde von unglaublichen Goldfunden in Alaska wie ein Lauffeuer verbreitet, scheint die Möglichkeit gegeben, dass dieser Wunsch in Erfüllung geht. Jack London ist in diesem dokumentarischen Roman die Hauptfigur, er steht zugleich für die Sehnsüchte und Wünsche vieler Menschen am Ausgang des 19. Jahrhunderts in Amerika. Der letzte große Goldrausch am Yukon versetzt die ganze Nation in eine Euphorie, die den großen Pioniertraum, den großen amerikanischen Mythos greifbar erscheinen lässt. Viele Menschen, auch London, suchen ihr Glück in den unendlichen Weiten Alaskas. Zusammen mit ihm macht sich der Leser auf die Reise von San Francisco Richtung Norden. Er überquert noch einmal den Chilkoot-Pass, den Dead-Horse-Trail und haust in der Hauptstadt des Goldrausches, Dawson. Immer den Traum vom Gold vor Augen.

Für Jack London wird diese Reise zu einem Erlebnis - es prägt sein Leben, seine Weltanschauung und sein Schreiben. Wie für die meisten Pioniere verwirklicht sich auch für ihn der Traum vom Goldfund nicht. Die anfängliche Begeisterung und Entdeckerfreude wird durch Plage und Mühsal abgelöst. Inmitten von Eis und Schnee macht er Erfahrungen in Grenzbereichen des Lebens. Es sind die Stationen des "weißen Schweigens", die sein Leben von da an verändern. Enttäuscht, aber reich an Erfahrungen für mehr als ein Menschenleben kehrt er in die Zivilisation zurück. Erst nach Jahren werden seine zahlreichen Manuskripte beachtet, und seine ersten Bücher erscheinen. In kurzer Zeit wird er zum gefeierten Schriftsteller. Jack London schafft den Aufstieg in die "bessere Gesellschaft". Doch je länger er sich in dieser Gesellschaft aufhält, desto mehr verfliegen die Illusionen, und er erkennt, dass der Schein ein trügerischer ist. Er hoffte, edle und idealistische Menschen mit einer Moral anzutreffen. Gleichgesinnte eben. Was Jack London aber vorfand, waren oberflächliche Menschen, kaum bewandert und mit abnormem wirtschaftlichen und geschäftlichen Interesse ausgestattet. Er lebte ein Leben lang für diese Hoffnung, musste aber nach seinem Aufstieg feststellen, dass es nur Äußerlichkeiten und Verpackungen waren, zu denen er als Junge neidvoll aufgeschaut hatte. Er steht jetzt auf der anderen Seite der Schienen. Diese erweist sich aber als genauso falsch.

Seine Theorie der weißen Logik, die er sich in den Weiten Alaskas aufgebaut hat, überträgt er auch auf die "bessere Gesellschaft". "Die weiße Logik spricht die Wahrheit, und das ist ihr Fluch. Die Wahrheiten des Lebens sind nicht wahr, es sind notwendige Lügen, um das Leben möglich zu machen, und die weiße Logik beweist, daß sie Lügen sind. Und wenn der Mensch das Leben mit dem unbestechlichen, kalten Blick der Weißen Logik betrachtet, erkennt er seine einzige Freiheit: Er kann dem Tag seines Todes vorgreifen."

Das oberflächliche Leben in Wohlstand und Reichtum scheint Jack London die Luft zum Atmen zu nehmen. Er möchte wieder auf die andere Seite, zurück in sein ursprüngliches Milieu. Ein Milieu der Armut, aber auch der Ehrlichkeit. Doch die Menschen dort verstehen ihn nicht und er sie nicht. Er hat sich selbst seiner Wurzeln beraubt und ist zu einem Wanderer zwischen den Welten geworden. Die eine Welt hat er im Glauben auf ein besseres Leben verlassen, dort angekommen, den Illusionen und der geistigen Leere gewahr geworden, ist ihm der Rückweg versperrt. Konsequent der Theorie seiner weißen Logik folgend, begeht Jack London, der viel gefeierte, aber auch umstrittene und vereinsamte Schriftsteller, Selbstmord.

Autor Michael Klein entwirft in seinem Roman durch die Vermischung von erzählenden und autobiografischen Texten mit zeitgenössischen Schilderungen ein sehr kompaktes und realistisches Bild der damaligen Verhältnisse. Insbesondere die extremen Welt- und Naturerfahrungen aus den Büchern Jack Londons erzeugen beim Leser das Gefühl einer unmittelbaren Beteiligung am Geschehen. Der Leser erlebt die Entwicklung Jack Londons vom armen Gelegenheitsarbeiter über den gescheiterten Goldsucher bis hin zum gefeierten, innerlich aber tief entmutigten Schriftsteller hautnah mit. Nicht nur in Wintermonaten ein empfehlenswerter Roman.

Titelbild

Michael Klein: Das weiße Schweigen. Jack Londons Weg durch das Eis.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2001.
264 Seiten, 20,30 EUR.
ISBN-10: 3552051678

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