Der Greyhound-Bus als Charons Nachen

Denis Johnsons Roman "Engel”

Von Rolf-Bernhard EssigRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf-Bernhard Essig

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Wer kein Geld hat, das Flugzeug zu nehmen, der nimmt den Greyhound-Bus. Was diese meilenfressenden, brüllenden Stahlungetüme mit den zierlichen Windhunden zu tun haben, merkt man, wenn im Rückspiegel so ein Bus auftaucht, plötzlich zum Überholen ansetzt und bald schon wieder am Horizont verschwunden ist.

Hinter den dunklen Scheiben solch eines Langstreckenbusses sitzen Amerikaner, die nicht in den TV-Serien vorkommen. Hier sieht man das andere Gesicht der USA. Ein Gesicht, dem die Anstrengungen abzulesen sind, dauernd Optimismus ausstrahlen zu müssen, eine Miene, gezeichnet vom harten Alltagsleben, von der Flucht vor den Bedrängnissen der Not, des Sinnlosen. Jamie Mays flüchtet mit Baby und kleiner Tochter aus der Ehe mit ihrem notorisch untreuen Ehemann. Leicht vollzieht sich der Schritt vom gar nicht trauten "mobile home" in den Greyhound. Ihr Weg soll von der Westküste (Oakland) an die Ostküste (Hershey) führen, wo sie Unterschlupf bei ihrer Schwägerin suchen will.

Stattdessen gerät sie an Bill Houston, den Ex-Navy-Angehörigen, Ex-Sträfling und dreifachen Ex-Ehemann. Der hat etwas Geld und überredet sie kurz vor dem Ende der Reise, einige nette Tage in Pittsburgh zu verbringen. Es werden für lange Zeit ihre letzten sein. Das Geld verbrauchen sie schnell, und die netten Tage verfliegen im Alkoholrausch. Der Leser spürt das kommende Unheil, doch vermag er sich dessen tiefschwarze Konsequenz nicht auszumalen. Es trifft zuerst Jamie mit fürchterlicher Gewalt und - fast noch schlimmer - Perfidie, kurz darauf gerät auch Bill in eine Mühle, aus der ein Entkommen nur im Geiste möglich ist. Es verschlägt beide wieder zurück nach Südwesten, wo Bills Familie Rettung bedeuten könnte, doch der Weg endet in der Wüste von Arizona.

Fast zwanzig Jahre dauerte es, bis Denis Johnsons Roman "Engel" ins Deutsche übersetzt wurde, obwohl er in den USA bei Publikum, Kritikern und prominenten Autoren ein unerhört positives Echo fand. Der große Erfolg seines kalifornischen Schauerromans "Schon tot" ermöglichte jetzt die Herausgabe von "Engel", einem Buch, das er bereits 1983 publizierte.

Der genaue Realismus und die gewaltige Drastik, mit der Denis Johnson in "Engel" den rasanten Abstieg des tumben Paares Jamie und Bill aus verschiedenen Perspektiven schildert, lenkt vielleicht etwas ab von den amerikanischen Mythen und Gespenstergeschichten, die dem Roman eine unauslotbare Tiefendimension verleihen. Jesus und Tarot, Dämonen und Pistolen, Hostien und Psychopharmaka, Sadistenteufel und Erlösungsengel, Freiheitsglocken und Dollar-Scheiterhaufen bilden zusammen allerdings ebenso wenig eine geschlossene Mythologie, wie der "melting pot" ein amerikanisches Volk aus den vielen Kulturen zusammenbraut. Bill Houston spielt an einer Stelle des Romans an einem Flipperautomaten, der als Symbol für die Handlung dienen könnte. So wie die Kugel dort, einmal losgelassen, wild hin- und hergeschleudert wird, kurze, punktebringende Ruhepausen erlebt bis zum nächsten Zickzack-Taumel und dann plötzlich im Loch und aus dem Spiel verschwindet, so wirft es die Menschen bei Johnson durchs Leben. Sie lassen sich leben: Geld, Drogen, Mitmenschen, Mythen stoßen sie an, weg, um. Erst im Wahnsinn und in Todesnähe hebt sich der Schleier ihrer passiven Existenz ein wenig, brechen Visionen durch, wird die Gegenwart und der Augenblick schlagartig sichtbar: "Ja ist Jetzt." So düster, undurchschaubar, gefährlich und trüb die Welt in "Engel" auch ist, so fehlt es doch nicht an Gesten der Liebe, Augenblicken des Glücks, des Lachens und der Menschlichkeit. Das eine beweist allerdings nichts gegen das andere, beides hebt sich gegenseitig nicht auf. Johnsons Welt besteht aus Wörtern wie auch unsere Welt. Es gibt unübersehbare Parallelen, doch die "Engel"-Welt prägt die Kunst mit bestürzender Qualität. Johnsons Sprache schließt im Leser durch detailgenaue, alltagsnahe Metaphern Innenwelten auf: "Die Waffe auf den Wachmann zu richten und abzufeuern, war wie mit Farbe zu sprühen - man mußte versuchen, jede Stelle abzudecken. Er wollte sichergehen, daß kein Leben mehr durchschimmerte." Tod, Hölle und Apokalypse durchziehen die Sätze, Träume, Gedanken der Figuren halbbewusst und halbverstanden wie Werbeunterbrechungen im allgegenwärtigen Fernsehen.

"Engel" zeigt nicht einfach die Kehrseite des "American dream", sondern den integralen Bestandteil dieser Ideologie: einen "American nightmare" aus dem Greyhound, der wie Charons Nachen die Seelen in den Hades bringt.

Titelbild

Denis Johnson: Engel.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Bettina Abarbanell.
Wissenschaftlicher Verlag Berlin, Berlin 2001.
242 Seiten, 20,40 EUR.
ISBN-10: 3828601677

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