Zehn weitere Alternativen zu Habermas
Joseph Jurt präsentiert Facetten des französischen Denkens
Von Johan Frederik Hartle
Besprochene Bücher / Literaturhinweise1998 hatte der Freiburger Romanist Joseph Jurt bereits einen Aufsatzband herausgegeben, in dem die Phalanx des französischen Denkens, insbesondere des Strukturalismus und Poststrukturalismus vorgestellt und der Ertrag ihres Denkens bilanziert wurden. Als zweiten Band legte der Rombach Verlag 1999 die Aufsatzsammlung "Von Michel Serres bis Julia Kristeva" vor. Die darin porträtierten Denker sind kaum von geringerem Rang als die Hauptvertreter der strukturalistischen Tradition. Maurice Merleau-Ponty, Paul Ricoeur oder Jean Baudrillard werden kaum als zweitrangige Denker bezeichnet werden können, die nicht selbst schon Beachtung in dem wohl bedeutenderen ersten Band verdient hätten. Eine Reihe von Denkern könnten genannt werden, die noch immer unberücksichtigt geblieben sind. Aber jedes Buch ist nur eine arbiträre Begrenzung seines eigenen Textes. Und auch so wie sie vorliegt, verleitet Joseph Jurts Zusammenstellung immerhin dazu, sich Vielfalt und Reichtum des jüngeren französischen Denkens vor Augen zu führen und darüber ins Staunen zu geraten: ob eine andere Kultur in den letzten Jahrzehnten vergleichbar viele eigensinnige und umfassende Denkansätze hervorgebracht hat wie die französische?
In seiner Einleitung, die eine sehr gute Übersicht über den Zusammenhang und Gestus der porträtierten Denker gibt, werden drei Aspekte hervorgehoben, die das Denken der Porträtierten zusammenhalten: ein Denken der Differenz, eine Semiotik kultureller Symbolzusammenhänge und das Philosophieren im Medium souveräner Rhetorik. Insofern ein deutsches Denken - man würde es wohl mit Jürgen Habermas in Verbindung bringen, der ja unlängst erst als "der Denker der Bundesrepublik" (Reemtsma) bezeichnet und gekürt wurde - durch Konsensualismus, einen Primat des Normativen gegenüber kultursemiotischer Analytik und eine kognitivistische Absage an die philosophische Rhetorik gekennzeichnet ist, präsentieren sich in dem Sammelband zehn Alternativen zur philosophischen Kultur in Deutschland, zehn weitere Alternativen zu Habermas.
Die disziplinären, politischen, rhetorischen Prägungen der einzelnen Aufsätze sowie der Porträtierten differieren. Man wird beim Lesen eigene Vorlieben entwickeln und eigene Entdeckungen machen. Die Textgestalt der einzelnen Aufsätze changiert zwischen Einführung und systematischer Kritik. Eine klassische Einheit von Darstellung und Kritik wird immerhin in einigen glücklichen Fällen erreicht. Alle Aufsätze jedoch machen neugierig auf Primärlektüren, auf ein Weiterlesen über den Text des Buches hinaus. Darin mögen allerdings auch die Schwächen der Publikation bestehen: sie bietet nur sekundäre Texte, etwas zufällig angeordnete Vortragsmanuskripte - eine Zufälligkeit, die sich auch im Titel spiegelt. Angesicht seines Einführungscharakters ist der Band zudem immens teuer: ein sporadisches Einführungsbändchen zum Preis einer detaillierten wissenschaftlichen Abhandlung erscheint prima facie nicht unbedingt plausibel.
Als Entdeckung nicht nur für den einzelnen Leser, sondern auch für die Theoriediskussion insgesamt ist das Porträt Jacques Rancières von Antonia Birnbaum ein besonderer Gewinn. Rancière zählt wohl von all den Unterrezipierten zu den Unterrezipiertesten, während er der politischen Kultur einige Auswege aus dem sklerotischen Konsensualismus andeutet, der vor allem ihre bundesdeutsche Gestalt kennzeichnet. Indem er auf die unaufhebbare Spannung von realisiertem und flottierendem Politischen verweist, generiert er die Idee der Gleichheit aus den Kämpfen um den Begriff des Politischen. Die Ideen von Gleichheit und Universalität ziehen sich in den Widerstand gegen konkrete Hegemonien und Ungleichheiten zurück, die sich in den Hypostasen des Politischen verdichten. Rancières Bestreben auf dem Feld der politischen Theorie harmoniert dem rhetorischen, sprach- und zeichentheoretischen Gestus anderer französischer Denkansätze. Der Kampf um die Differenz im Denken bemüht sich um die Legitimation des Ausgeschlossenen, das zuerst einmal denk- und erkennbar gemacht werden muss. Nicht nur der Strukturalismus eines Michel Serres, nicht nur die Rehabilitierung des sperrig Semiotischen durch Julia Kristeva weisen in diese Richtung.
Das französische Denken der ersten und zweiten Reihe, von Maurice Merleau Ponty bis hin zu Michel Serres und Jacques Rancière ist ein Denken in Mehrdeutigkeiten, das die Kontingenz der politischen, kulturellen und textuellen Ordnungen hervorkehrt und Spiel- und Handlungsräume eröffnet. Die Trägheit des antirhetorischen Kognitivismus, der auf verfrühte Konsense setzt, wird durch die zehn Alternativen erschüttert und ergänzt. Der Facettenreichtum des französischen Denkens ist in den von Joseph Jurt zusammengestellten Aufsätzen andeutungsreich und kritisch dokumentiert.
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