Die Künstlerin als Bohémienne
Anne-Rose Meyer über französische und deutsche Bohème-Darstellungen
Von Alexandra Pontzen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Fülle literarischer Bohème-Darstellungen ist unüberschaubar, und auch die Forschungsliteratur ist längst so angewachsen, dass Helmut Kreuzers Feststellung, es gebe zwar einzelne Bohème-Forschungen, aber keine kontinuierliche Bohème-Forschung, nicht mehr ohne weiteres zutrifft. Er macht sie in seinem 1971 erschienenen, bald zum Klassiker avancierten Buch "Die Boheme. Analyse und Dokumentation der intellektuellen Subkultur bis zur Gegenwart", mit dem er selbst eine material- und gesichtspunktreiche Basis für die Forschung gelegt hat. Wie unverzichtbar diese Basis noch immer ist, belegt die Tatsache, dass Kreuzers Arbeit als "Metzler Reprint" neu herausgebracht worden ist.
Auch Anne-Rose Meyer nimmt in ihrer Studie auf Kreuzer Bezug, geht aber oft eigene Wege. Während Kreuzer trotz aller methodischen Ausgewogenheit dazu neigt, die literarischen Texte weniger um ihrer selbst willen zu betrachten, sie vielmehr typologischen, soziologischen und mentalitätsgeschichtlichen Fragestellungen unterzuordnen, fasst Meyer ausgewählte fiktionale Bohème-Darstellungen genau ins Auge. Und anders als Kreuzer, der keine zeitliche Begrenzung der Bohème vornimmt, sondern ihr jüngere Subkulturen wie z. B. die Massenbewegung der Hippies zurechnet und in seinem Bohème-Artikel für die dritte Auflage des "Reallexikons der deutschen Literaturwissenschaft" sogar "bohemische Nischen" in der ehemaligen DDR einbezieht, beschränkt sich Meyer auf die Zeit zwischen der französischen Romantik und dem Ersten Weltkrieg. Dass der Buchtitel 1910 als Schlusspunkt nennt, dürfte ein Versehen sein, denn zwei später erschienene Romane werden ausführlich behandelt. Die Bohème als etwas historisch Abgeschlossenes zu betrachten, da ihre Raison d'être, die Provokation des Bourgeois, in postbürgerlicher Zeit entfällt, scheint heute die vorwiegende Forschungstendenz zu sein. Eigene Schwerpunkte setzt Meyer mit der Interpretation von Bohème-Gedichten (Baudelaire, Verlaine u. a.) und mit dem letzten Kapitel ihres Buchs: Dort gilt ihr Interesse nicht mehr dem Bohémien, sondern der Bohémienne (Franziska zu Reventlow, Else Lasker-Schüler u. a.).
Zu den von Kreuzer nicht erwähnten, aber von Meyer berücksichtigten Werken gehört das erfolgreiche Boulevardstück "Les Bohémiens de Paris" (1843) von Adolphe d'Ennery und Jean Grangé. Es verdient insofern Beachtung, als es noch eine Bohème zeigt, die sich nicht aus armen Künstlern und Personen ähnlichen Zuschnitts zusammensetzt, sondern aus Lumpenproletariern, die z. T. kriminell sind; es wird sogar ein Mord geplant. Erst mit Henry Murgers kurz darauf erschienenen "Scènes de la vie de bohème" (Erstdruck 1845-1849) wird die Vorstellung einer sozial harmlosen und meist liebenswürdigen Bohème endgültig vorherrschend.
Während in diesem und anderen Fällen die Erweiterung des üblichen Textcorpus sachdienlich ist, überzeugt die Ausdehnung des Bohème-Begriffs auf die Romane "Consuelo" (1842-1844) von George Sand und "La Vagabonde" (1910) von Sidonie-Gabrielle Colette nicht. Allein der Umstand, dass ersterer im vorbürgerlichen 18. Jahrhundert spielt, ist ein Gegenargument, und die Protagonistin des letzteren lebt zwar am Rande einer bürgerlichen Welt, die in Frage gestellt wird, doch fehlt die Bohème als soziales Umfeld. Für Meyer scheint jede Künstlerin, die ihr Leben selbst zu bestimmen sucht und dabei notgedrungen jenseits der Norm lebt, eine Bohémienne zu sein. Eine solche im engeren Sinne ist die autobiographisch inspirierte Titelgestalt in Franziska zu Reventlows Roman "Ellen Olestjerne" (1903); als Bohème-Darstellung jedoch wichtiger ist ihr zweiter Roman "Herrn Dames Aufzeichnungen" (1913), der prominente Vertreter der Schwabinger Bohème (George, Wolfskehl, Klages, Schuler) in verschlüsselter Form vorführt. Kurz vorher war bereits ein anderer Schlüsselroman über einige dieser Personen erschienen, Oscar A. H. Schmitz' "Wenn wir Frauen erwachen..." - späterer Titel: "Bürgerliche Bohème" (1912). Dieses von Kreuzer nur in einer Fußnote erwähnte Werk wird von Meyer gänzlich übergangen, obwohl es gerade im Hinblick auf die Bohémienne, die als ein höchst fragwürdiges Produkt der Frauenbewegung dargestellt wird, aufschlussreich ist. Selbst wenn Meyer dieses negative Bild unerfreulich finden und auf den maskulinen Blick des Autors zurückführen sollte, hätte sie doch die Möglichkeit nutzen können, vor dieser Kontrastfolie die eigene Auffassung zu verdeutlichen.
Über die Bohème als kunstsoziologische Erscheinung und über ihre historische Entwicklung erfährt man in Meyers Arbeit wenig Neues; es bleibt bei Ergänzungen, zuweilen werden neue Akzente gesetzt. Das Hauptverdienst ihres Bandes liegt in der ausführlichen und zitatenreichen Vorstellung der analysierten Texte; weil diese nicht immer bequem zugänglich sind, muss die auf diese Weise gebotene Information dankbar begrüßt werden. Hervorzuheben ist, dass das Buch, obwohl aus einer literaturwissenschaftlichen Dissertation hervorgegangen, flüssig und nicht im Jargon geschrieben ist. Das macht die Lektüre angenehm.
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