Wie kommt das Datum 'um 1800' in die Textur der Moderne?

Ein Sammelband widmet sich den "Poetologien des Wissens um 1800"

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zu Beginn dieses Jahrhunderts dringen die Echos der Aufbruchsstimmung von einst nur noch schwach an unser Ohr. Oder korrekter, wir hören wohl die Botschaft, allein uns fehlt das notwendige Quäntchen Wissensoptimismus: Der futurische Überschuss, der die Ansätze der frühen und klassischen Moderne und der "zweiten Moderne" nach dem Zweiten Weltkrieg begleitete, scheint aufgezehrt. Die Vermehrung und Zersplitterung der Wissenstypen ist weiter fortgeschritten. Virulent werden daher Fragen nach der Sicherung, Speicherung und Übermittlung der vorhandenen Bestände unseres Wissens. Damit einher gehen notwendigerweise auch Problematisierungen der "Ordnung des Wissens", d.h. der Wege und Hüter der Überlieferung, der Modi, diese zu organisieren und schließlich auch der Bilder und Konzepte, in denen Überlieferung und Übertragung gedacht werden.

Literatur- und kulturtheoretische Konzepte wie Diskursanalyse, Mediengeschichte, Kulturanthropologie, New Historicism oder Poststrukturalismus haben in den letzten Jahrzehnten dafür gesorgt, dass das Projekt einer Geschichte und Überlieferung von Wissen neue thematische und methodische Ausrichtungen erfahren hat. Ausgehend von diesen Impulsen nähern sich die einzelnen Beiträge eines Sammelbandes, der unterschiedliche "Poetologien des Wissens" zum Gegenstand hat, einer Perspektive, die "die Herkunft von Wissensobjekten und Aussagen unmittelbar mit der Frage nach deren Inszenierung und Darstellbarkeit verknüpft". Ausgehend von der "notorischen Epochenschwelle 'um 1800'" geht es dabei neben der Arbeit an literarischen und nicht-literarischen Texten um die Veränderungen und Repräsentationsformen des Wissens. Im ersten Kapitel beschäftigen sich die Beiträger mit der Frage nach Zeichenproduktionen und deren Zusammenhang mit physiologischen, medialen und textuellen Umgebungen. Albrecht Koschorke liest die Revolutionierung der Sinnesphysiologie parallel zur Entstehung der modernen Hermeneutik um 1800. Sichtbar wird ein tiefgreifender Paradigmenwechsel - der Wechsel von "analogischen Relationierungen zwischen Vorstellungen und Sachen zu nichtanalogen, in gewisser Hinsicht arbiträren Perzeptionsabläufen" - und ein epochaler Wandel der kommunikativen Standards. Das Neue der postrhetorischen Lesekunst um 1800 liegt nun darin, "die unhintergehbare Distanz zwischen Autor und Leser, den trennenden und mortifizierenden Charakter des modernen Schriftverkehrs zu betonen." Damit wird nach Koschorke erst im Gründungszusammenhang der Hermeneutik die Schrift zu einem differentiellen Prinzip, das dazu dient, "einen Schirm zwischen den selbstreflexiven Subjekten aufzurichten". Bereits in der Literatur um 1800 tritt der Leser "als Koproduzent" an die Seite des Autors und "zeugt das Werk neu". In dieser Systematik kann das Lesen mit der reinen Autoreferentialität verglichen werden: "Es hat mit Zeichen zu tun, die nur in einem äußerst verminderten Maß Stofflichkeit an sich binden, die aber, als 'tote Buchstaben', insistent genug sind, um zwischen den Subjekten einen ausreichenden Spielraum offenzuhalten". Während sich Bernhard Siegert mit der "Kantische[n] Signaltechnik" und Stefan Rieger mit der um 1800 sichtbar werdenden Kybernetik des Menschen beschäftigen, rückt Bettine Menke den Zusammenhang und den Widerstreit von Text und Stimme in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Sie untersucht akustische Phänomene in Texten dieser Zeit, die spezifischer Art sind: unsituierbare Klänge, Geräusche, Disartikulationen der Stimme. In Auseinandersetzung mit dekonstruktiver Rhetorik und Medienanalyse macht Menke darauf aufmerksam, dass das Hören zwar auf ein neues Projekt der poetischen Sprache verweist, dies aber nur auf eine paradoxe, aporetische Weise geschieht. Der Bezug von Klängen auf Texte kann "nur als Riß [...] zwischen der Sprache in Worten und den Schällen gedacht werden. Das Phantasma der Klänge ist eine Auseinandersetzung der romantischen Texte mit (der sogenannten Stummheit) der Schrift". Diese "Teilhabe am und im (Mit)-Tönen" wird im romantischen Paradigma vor allem in einer Textbewegung, in der Spannung zwischen Figuration und Defiguration, entwickelt und vorgestellt.

Das zweite Kapitel widmet sich dem Zusammenhang von Regierungswissen und Regulation, der statistische Verfahren und ökonomische Steuerungen ebenso umfasst wie juristische und rechtsförmige Praktiken. Dem entsprechend erhält gerade auch das Nicht-Wissen (Wolfgang Schäffner) und - in der ihr eigentümlichen Interdependenz von Transparenz und Maskerade - die Diskussion über das öffentliche Gerichtsverfahren um 1800 in Deutschland (Peter Friedrich/Michael Niehaus) sowie die Ideologie der Gerechtigkeit (am Beispiel Frankreichs; Tom Holert) eine erhöhte Bedeutung. Eine Re-Lektüre des für diesen Kontext geradezu klassischen Textes - Goethes "Wahlverwandtschaften" - unternimmt Joseph Vogl, indem er darauf verweist, dass "die Flucht der Zeit [...] in Goethes Roman nicht nur als eine Bedingung des Bedeutens, sondern als Grenze des Wissens selbst angesehen" werden kann. Schließlich geht es im dritten Kapitel um die Frage nach der Entstehung jener Konzepte, die spezifische Figuren zur Speicherung und Kodierung historischen Wissens seit dem 19. Jahrhundert zur Verfügung stellen. Rüdiger Campe untersucht die Funktion der Statistik in Kants "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht", Ulrich Johannes Schneider wirft die interessante Frage auf, ob "das Philosophische 'hinter' den Texten in Gedanken, Ideen, intellektuellen Taten der Denker" liegt, oder ob es "eingeschrieben" in das ist, "was uns nach einiger Zeit allein verbleibt: der Text". Schneider zeigt dabei recht anschaulich, dass die Epochenschwelle um 1800 - wirft man einen Blick auf die Geschichte der Hermeneutik und die Geschichte der Geschichtsschreibung - in einem "Schritt vom historischen Rekonstruieren zum hermeneutischen Interpretieren" besteht. Auch Manfred Schneider kommt in seiner Untersuchung "autobiographischen Wissens" zu dem Ergebnis, dass der angesprochene Epochenwandel damit vor allem als ein Wandel des Wissens zu beschreiben ist, ein hermeneutischer Prozess, in dem Text/Bild und Leser/Betrachter wechselseitig aufeinander angewiesen sind.

Insgesamt geht es in diesem Sammelband, wie Joseph Vogl in seiner Einleitung herausstreicht, um eine - abschließend zu betrachtende - dreifache Problemfigur: das Datum 'um 1800', das Konzept des 'Wissens' und die spezifisch 'poetologische' Fragestellung. Mit Wilhelm von Humboldts Rückblick auf "Das achtzehnte Jahrhundert" wird die Vergangenheit des zu Ende gehenden Jahrhunderts in der Aktualität ihres Vergehens virulent. Erst in dieser Perspektive ist das Wissen des 18. Jahrhunderts nach Humboldt so organisiert und strukturiert, dass es erst an seinem Ende Interesse beansprucht. Die Epochenschwelle wird zu einem Ort, an dem die Reflexion auf die Gegenwart und das Wesen des Vergehenden einander bedingen. Die Zeitmarkierung 'um 1800' ist daher als ein doppeltes und ambivalentes Datum, "ein Datum, das unterschiedliche Zeit- und Ereignisgehalte umschließt", zu verstehen. Es ist, nach Vogl, "zunächst eine Markierung und eine Schwelle, die wie bei Humboldt eine jüngste Vergangenheit erzeugt und das ,18. Jahrhundert' als Raum eines spezifischen Wissens und Signatur einer Epoche hervortreten läßt. Und es ist zugleich ein Datum, das nicht aufhört, immer von neuem zu vergehen, mit dem Stand des Wissens zugleich die Aktualität seiner Äußerung hervortreibt und - wie in den Texten Humboldts und Kants präfiguriert - immer wieder die Epochalität der Epoche wiederholt." Dem korrespondiert die Beobachtung, dass die Gegenstände des Wissens ihre größte Evidenz nicht in den Zentren literarischer Diskurse, sondern vielmehr an deren Randgebieten und Übergangsfeldern gewinnen, die selten an logischer Konsistenz gemessen werden können. Von den einzelnen Beiträgern erwähnt und analysiert werden vor allem der Umbau von Sinnesphysiologie und Zeichenlehre, der maßgeblich für die Konstituierung einer modernen Hermeneutik verantwortlich ist. Etabliert wird damit ein diskursiver Raum des Wissens, der auf exemplarische Modellbildung und epistemologisch gesicherte Kohärenz nicht zurückgreifen kann und sich statt dessen einer textuellen Pragmatik und eines "dichte[n] Gefüges aus diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken" bedient.

Die spezifische Poetologie dieses Wissens hat ihren Grund in der These, dass "jede Wissensordnung bestimmte Repräsentationsweisen ausbildet und privilegiert". Die Geschichte des Wissens interessiert sich demnach "für die Regeln und Verfahren, nach denen sich ein Äußerungszusammenhang ausbildet und abschließt und die Darstellungen diktiert, in denen er seine performative Kraft sichert". Nach Vogl geht es darum, die Gegenstände des Wissens nicht in den "Referenten der Aussagen" zu lokalisieren, sondern verstärkt in den Aussageweisen selbst. Eine 'Poetologie des Wissens um 1800' hat sich also weniger auf die Signifikate als vielmehr auf die Materialität der Signifikanten zu konzentrieren, auf die Diskursivität und Selbstreflexivität von Wissensbildern und Gegenständen des Wissens. Daher trägt der Blick auf medientechnische Modelle der Produktion und Transferierung von Zeichen dem Umstand Rechnung, dass die Sattelzeit 'um 1800' eine Bewegung nach sich zieht, die in der Geschichte des Wissens stets eine "kontingente Konstitutionsweise aktueller Gegenwart" erschließt. Die einzelnen Beiträger dieses Sammelbandes situieren auf recht überzeugende Weise Vorläufer der so genannten "semiologischen Wende" bereits 'um 1800', wenn es um die Ablösung des Wortes durch das Bild, die Umkehrung der Hierarchie der Zeichen und die Infragestellung des Textprimats in der westlichen Kultur geht. Somit ließe sich folgern, dass die spezifische Textur der Moderne, in die sich wiederholt bis in die jüngste Gegenwart die Flaneurie von Randgängern eingeschrieben hat, schon im Datum 'um 1800' erkennbar ist.

Titelbild

Joseph Vogl (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800.
Wilhelm Fink Verlag, München 1999.
298 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-10: 3770533089

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