Volksmythologie als Anthropologie

Von Claude Lecouteux wäre vergangenes Jahr besser nur ein Buch erschienen

Von Nils MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Nils Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was steht zu erwarten unter dem Titel "Das Reich der Nachtdämonen. Angst und Aberglaube im Mittelalter", so herrlich wage gehalten? Alles oder Nichts. Der französische Originaltitel "Chasses fantastiques et cohortes de la nuit au moyen âge" schafft etwas Klarheit. Es geht also um die "Wilde Jagd" und andere, verwandte Umzüge übernatürlicher Art, von denen die mittelalterlichen Quellen erstaunlich häufig zu berichten wissen.

Der Pariser Germanist und Mediävist hat sich den mittelalterlichen Mythen und Legenden verschrieben. Seine Welt ist die der Kobolde, Feen, Elfen und Zwerge, die durch die germanische und nordische Volksmythologie geistern. Damit bewegt er sich stets an der Schwelle zum Irrationalen und Wunderbaren, mit großem Eifer, bilden doch diese "Legenden und Vorstellungen" Lecouteux zufolge, "eine häufig verkannte, heterodoxe Anthropologie."

Begründer der literarischen Tradition des Topos "Wilde Jagd" im Mittelalter scheint der Mönch Ordericus Vitalis gewesen zu sein. Im frühen 12. Jahrhundert berichtet er von einem jungen Geistlichen, der des Nachts eine schaurige Menschenmenge vorbeiziehen sieht: "Alle wehklagten sie und spornten sich an, schneller zu gehen. Der Pfarrer erkannte in diesem Zug einige seiner vor kurzem gestorbenen Nachbarn, und er hörte sie über die großen Qualen klagen, die sie wegen ihrer Verfehlungen erdulden mussten." Aufeinander folgen Sargträger, ein Riese, zwei Teufel und ein Dämon, der den Mörder eines Priesters foltert; ferner eine Gruppe von Frauen, deren Damensättel mit glühenden Nägeln gespickt sind, so dass sie jammern und schreien und laut um Vergebung ihrer Sünden bitten. Dann "erschien ein gewaltiges Heer von Rittern: keine andere Farbe war zu erkennen außer Schwarz und loderndes Feuer. Sie ritten alle auf riesenhaften Pferden und stürmten voran, mit allen möglichen Stücken bewaffnet, als ginge es zur Schlacht, und sie trugen schwarze Feldzeichen." Gauchelin - so der Name des Geistlichen - wird von den toten Rittern angesprochen, und reitet gar ein Stück mit ihnen. Die Ritter tragen ihm auf, lebenden Bekannten Nachrichten zu übermitteln oder ihre Geschäfte im Diesseits in Ordnung zu bringen, um ihres Seelenheils willen. Schließlich darf eine Verletzung, die er durch die Pferde dieses fahrenden Fegefeuers erleidet, nicht fehlen - als notwendiger Beweis der Wahrheit seiner Geschichte.

Damit ist das Muster gegeben für eine reichhaltige literarische Verwertung des Themas. Im Mittelalter sind es zumal Geistliche Schreiber, die von derlei Jagden berichten. Entsprechend ist eine "interpretatio christiana" mitzulesen, nach der die nächtlichen Gestalten zwar nicht die Seelen der Verstorbenen sein können, sondern lediglich vom Teufel hervorgerufene Ebenbilder derselben, die dennoch, aus pädagogischen Gründen, nur zu gerne die gequälten Sünder aufmarschieren lässt. Mit Beginn der Neuzeit schließlich beginnen sich die Konturen des Phänomens zu lösen; Andere Elemente mischen sich mit der "Wilden Jagd", wie etwa der Hexenglauben, und es entsteht ein neues Personal der Legenden, zu dem sich etwa Frau Holle zählen darf.

Doch Lecouteux bleibt dankenswerterweise bei seinen mittelalterlichen Quellen wie der Schuster bei den Leisten. Durch den breit angelegten Vergleich mit verwandten volkstümlichen Mythen eröffnet er seine Interpretation der "Wilden Jagd". Aus seiner Quellensammlung wird ein sehr schönes Lesebuch, das vielerlei Formen nächtlicher Umtriebe kennt: Einzelne Reiter, Jäger, die Nacht für Nacht jene Frauen töten, mit denen sie sich zu Lebzeiten der Sünde hingaben; oder die Guten Frauen, von denen Wilhelm von Auvergne berichtet, sie "nähmen von den Speisen und Getränken, die sie in den Häusern finden, ohne sie vollständig zu verzehren und nicht einmal ihre Menge zu verkleinern, besonders wenn die Gefäße, in denen die Speisen aufbewahrt werden, nicht zugedeckt sind [...]. Finden sie aber diese Gefäße zugedeckt und verstopft, so [überlassen] die Frauen jene Häuser dem Unglück und dem Mißgeschick."

Fruchtbarkeit scheint ein zentrales Motiv auch der Wilden Jagd zu sein. So wird von deren indoeuropäischen Verwandten berichtet, die den stürmischen Nachthimmel des Subkontinents durchziehen: Lassen ihre Pferde Wasser, so regnet es. Die europäischen Quellen wiederum kennen den Vergleich des begrabenen Toten mit dem in der Erde ruhenden Samen. Auf diese Weise sind die Toten für das weitere Schicksal der Lebenden mit verantwortlich. Auch sie haben ihre Geschäfte mit den Lebenden noch nicht abgeschlossen, wie Ordericus berichtet. Kurz: Die Toten bleiben präsent. Sie sind handlungsfähig und sind nicht nach christlichem Muster in ein Jenseits entrückt, womit dem vorliegenden Legendenschatz seine vorchristlichen Wurzeln nachgewiesen wären.

Plötzlich jedoch, während der Sichtung des Quellenfundus, schleichen sich erste Zweifel ein: "Haben wir es eigentlich mit Toten zu tun oder mit verkleideten Lebenden?" Anlass dazu gibt der "Roman de Fauvel" des frühen 14. Jahrhunderts. Dort wird ein Charivari-Umzug geschildert, der just in der Hochzeitsnacht des Fauvel stattfindet: Das Gassenvolk beginnt ein großes Geschrei und Lärmen, es ist "auf großartige Weise verkleidet" und hat "nur Übeltaten im Sinn". Die Tobenden schmettern ein Lied über den "Hellequin", als dessen Heer bereits der Geistliche des Ordericus seine nächtliche Beobachtung identifiziert hat. Auch einen Riesen führen sie mit sich. Der ganze Aufzug hat etwas Karnevaleskes, doch ist der Bezug zur Wilden Jagd nicht von der Hand zu weisen und die Verbindung von Maskerade und den Toten hat Tradition, wie etwa das im Lateinischen für beides identische Wort "larva" andeutet. Liegt dem Mythos also eine rituelle Handlung, ein Totenkult zugrunde?

Lecouteux sammelt Indizien: Die Wilde Jagd erscheint bevorzugt in den Zwölfnächten zwischen den Jahren, an Ostern, Pfingsten oder Walpurgis, dem 1. Mai. Allesamt Zeitpunkte, die einmal das Ende und den Beginn des Jahres und somit Ende und Neubeginn markierten, also die Themen Tod und Fruchtbarkeit zueinander brachten und von jeher Anlass zu allerlei kultischer Handlung waren. Von Otto Höfler wurde bereits eine Theorie aufgestellt, derzufolge diese Umzüge sich alten kriegerischen Männerbünden verdanken, die durch Maskerade die Toten ehrten, und ähnlich den baltischen Werwölfen zu den erwähnten Zeiten aktiv waren. Vielleicht mag die Vorstellung eines "elitären Klubs für tote Krieger" auch das häufige Auftreten der Jagd als Heer erklären?

An dieser Stelle hält sich der Autor jedoch klugerweise zurück. Ob zunächst der Ritus oder der Mythos da war, lässt sich sowieso nicht klären und ähnelt der Frage nach dem Huhn und dem Ei. Ebenso vorsichtig muss mit der Unterscheidung zwischen - indoeuropäischer - Mythologie und einem anthropologischen Bodensatz der Vorstellungen über den Verbleib nach dem Tode umgegangen werden. Es bleibt jedoch das Gefühl, dass Lecouteux durch sein gründliches Quellenstudium an jene Grenze vorgedrungen ist.

Nur kurze Zeit später erschien unter dem wiederum reichlich unverbindlichen Titel "Die Geschichte der Vampire" sein nächstes Werk. Es lohnt sich, zunächst einen Blick auf die darin erarbeiteten Ergebnisse zu werfen: Der Vampir-Mythos "sagt uns, dass die Aussagen des Christentums, der beherrschenden Religion, über Leben und Tod ungenau sind, dass es keine exakt gezogene Grenze zwischen beiden gibt, dass der Tote noch eine Existenz besitzt, dass er sprechen und handeln kann, wenn man ihm nur Veranlassung dazu gibt. [...] Der Mythos bezweifelt den Dualismus Körper/Seele und transportiert weiterhin den Begriff der vielfältigen Seele [...]." Das hätte auch das Fazit des Vorgängers sein können.

Leider hat Lecouteux nicht widerstehen können, einen Teil seiner laufenden Arbeiten zu einem eigenen Buch aufzubauschen, der als ein Kapitel auch sehr schön in "Das Reich der Nachtdämonen" gepasst hätte. Hier verfolgt er die Herkunft des "klassischen" Vampirs, wie er in der Literatur des 19. Jahrhunderts "kodifiziert" wurde, zurück in seinen eigenen Arbeitsbereich - jene Quellen, die zum Großteil auch für die "Nachtdämonen" als Belege herhielten. Dort treffen wir wiederum auf eine Menge Toter, die aus veschiedenen Gründen keine Ruhe finden. Für die Vampire in der Tradition Bram Stokers wird von Bedeutung sein, dass Liebe und Hass jene Kräfte sind, die Tote umtreiben. Sie legen dabei eine erstaunliche Bösartigkeit an den Tag, so dass Lecouteux sie danach klassifizieren kann, wie sie den Lebenden zu schaden trachten: Einige gehen Nachts in ihren Dörfern um und zeigen jenen, deren Namen sie rufen, ihren baldigen Tod an; Andere klopfen an die Tür des Todeskandidaten, während wieder andere ganz direkt töten, durch Erwürgen eines Schlafenden etwa.

Der Autor ist Vertreter einer Sündenbock-These, die in den Kontext der zu Ende gehenden Hexenverfolgungen gehört: Da in deren Rahmen gar ein wenig zu viel Blut geflossen sei, habe man nun die Toten als Schuldige an jenen Epidemien erkoren, die im 18. Jahrhundert weite Landstriche des Balkans befielen. Führte man diesen Ansatz fort, so passte auch der Antisemitismus des Mittelalters, des 19. und des 20. Jahrhunderts in die Reihenfolge der "Sündenböcke". Stattdessen versucht sich der Autor jedoch an einem Themenkomplex, dem mit der mittelalterlichen Philologie einfach nicht beizukommen ist. Schade.

Titelbild

Claude Lecouteux: Das Reich der Nachtdämonen. Angst und Aberglaube im Mittelalter.
Übersetzt aus dem Französischen von Harald Ehrhardt.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2001.
320 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3538071209

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Titelbild

Claude Lecouteux: Die Geschichte der Vampire. Metamorphose eines Mythos.
Übersetzt aus dem Französischen von Harald Erhardt.
Artemis & Winkler Verlag, Düsseldorf 2001.
224 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-10: 3538071276

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