Wundervolle Tochterschaft

Zur Ausgabe des Briefwechsels zwischen Fontane und seiner Tochter Martha

Von Alexandra PontzenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Alexandra Pontzen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum Ruhme des Briefschreibers Fontane bleibt schwerlich noch etwas zu sagen. Seit der Veröffentlichung der ersten Briefausgaben zu Beginn des letzten Jahrhunderts ist die Bewunderung ständig gewachsen, und dem Briefwerk wird der gleiche literarische Rang zuerkannt wie den fiktionalen Texten. Der allgemeinen Wertschätzung entspricht die große Zahl der Editionen. Mehr als 30 Briefausgaben liegen vor. Leider fehlt noch eine Gesamtausgabe; die fünfbändige Auswahlausgabe des Hanser-Verlags muss vorläufig als Ersatz dienen. Begrüßenswert ist, dass die Tendenz der modernen Briefphilologie, nicht nur die Briefe eines Autors zu edieren, sondern nach Möglichkeit Ausgaben von Briefwechseln zu veranstalten, auch von der Fontane-Philologie verfolgt wird. Jüngstes Beispiel ist der von Gotthard Erler herausgegebene "Ehebriefwechsel" zwischen Emilie und Theodor Fontane (1998). In mancher Hinsicht lässt sich die Ausgabe des Briefwechsels zwischen Fontane und seiner Tochter Martha (genannt Mete) als Ergänzung und Fortsetzung begreifen.

Der hohe Bekanntheitsgrad der Fontaneschen Briefe erlaubt es kaum, noch Entdeckungen zu machen. Auch die vorliegende Ausgabe bietet wenig Neues. Alle 180 abgedruckten Fontane-Briefe - von insgesamt 331 Briefen der Löwenanteil - waren bekannt; hinzugekommen sind in 17 Fällen lediglich die Nachschriften von Emilie Fontane. Auch die 90 Briefe Marthas an ihren Vater beziehungsweise ihre Eltern waren bereits publiziert. Nur bei ca. 40 Briefen aus dem familiären Umfeld handelt es sich um Erstveröffentlichungen. Das hinzugekommene Material dient der Intention, nicht einfach einen zweiseitigen Briefwechsel, sondern ein mehrseitiges "Familienbriefnetz" zu präsentieren, das neben Martha und ihren Eltern auch die Brüder umspannt. Da die Fontanes eine Briefschreiberfamilie waren oder nach Wunsch und Bedürfnis des Vaters zumindest sein sollten, ist der Ansatz sinnvoll. Er macht allerdings die Literatur im engeren Sinne und die Literaturgeschichte zur Nebensache. Dokumentiert wird die Sozial- und Mentalitätsgeschichte einer Familie im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts.

Die soziale Zuordnung der Familie Fontane fällt schwer. Weder klein- noch großbürgerlich, gehörte sie zum Bildungsbürgertum, doch ohne dass ein Amt oder ein akademischer Beruf des Familienoberhaupts materielle Sicherheit gewährt hätten. Obwohl sie nicht ärmlich lebte, fehlten die Mittel, die den Freunden und Bekannten aus Bourgeoisie und Adel zur Verfügung standen. Dass Fontanes Frau darunter gelitten hat, ist bekannt. Ob die Tochter die prekäre Situation immer mit Leichtigkeit ertragen hat, ist fraglich. Oft war sie monatelang Gast in befreundeten wohlhabenderen Familien, was in ihr ein Gefühl des Missbehagens an der eigenen sozialen Situation zumindest unterschwellig genährt haben dürfte.

Die als Lehrerin ausgebildete Martha war nur kurzfristig berufstätig. 1880/81 hatte sie eine Stelle als Erzieherin auf einem neumärkischen Gut. Was sie darüber in ausführlichen Briefen erzählt, wird für einen Leser, der zwischen den Zeilen zu lesen versteht, zu einem subtilen sozialpsychologischen Roman. Nahezu beflissen will sie sich in die Misslichkeiten der abhängigen Stellung schicken und ihren Arbeitgebern, über die sie viel Freundliches schreibt, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In der Tat scheinen der neuadelige Junker und seine aus dem Bürgertum stammende Frau umgängliche und cum grano salis gutmütige Leute zu sein. Doch fehlt es ihnen an Feingefühl, die Empfindungen ihrer Angestellten, die von ihrem eigenen Wert und dem Wert ihrer Familie keineswegs gering denkt und für Kränkungen hochsensibilisiert ist, hinreichend zu schonen. Martha berichtet wiederholt von "slights" - wie ihr Vater liebt sie es, englische Vokabeln einzuflechten - und ist letztlich außer Stande, den Geiz, die Unbildung ("es ist doch furchtbar, wenn von Göthe, wenn er ausnahmsweise erwähnt wird, gesprochen wird, als wäre er ein unsittlicher Mensch gewesen, der langweilige Bücher geschrieben hat") und die Taktlosigkeit von Leuten demütig hinzunehmen, denen sie sich überlegen fühlt. Obschon die Stimmungen schwanken, steht ihr Urteil über ihre "Prinzipale" fest: Sie ist unvornehm, er brutal. Vom Hofmeisterschicksal junger männlicher Intellektueller im 18. Jahrhundert wird viel Aufhebens gemacht; sollte einmal das Gouvernantenschicksal weiblicher Intellektueller im 19. Jahrhundert näher ins Auge gefasst werden, wären Marthas Briefe eine ergiebige Quelle.

Gemessen an den Maßstäben des 19. Jahrhunderts, ist Marthas langjährige Ehelosigkeit ein erhebliches gesellschaftliches Handicap, Fontane nennt es schlichtweg "Pech". Von der Familie und Bekannten wird sie schonungslos bemitleidet. An die erst Sechzehnjährige leitet der Vater die Verlobungsanzeige einer ihrer Schulfreundinnen weiter und tröstet: "Lies die vorstehende Anzeige mit so wenig Neid wie möglich. Da Du noch Müller= und Schmidt=los bist, darfst Du Dein Selbstgefühl an der Möglichkeit eines Grafen aufrichten." Der Vierundzwanzigjährigen wünscht er, schon ernsthafter, obwohl immer noch ironisch, dass "ein angenehmer deutscher Jüngling, ein Amtsrichter, ein Doktor, ein Oberlehrer, selbst ein Pastor" Veränderung in ihr Leben bringen möge. Eine mütterliche Freundin versucht mit dem "Verschen" zu trösten: "Meine liebe Marthe, Warte, warte, warte, Du kriegst noch einen Mann". Martha wartet lange. Erst kurz vor Vollendung des 39. Lebensjahrs und vier Monate nach dem Tod des Vaters heiratet sie den Architekten K. E. O. Fritsch. Dass die Eheschließung und der Tod des Vaters zeitlich so nahe beieinander liegen, mag eine zufällige Koinzidenz sein; doch dass der Ehemann 22 Jahre älter ist, also ihr Vater sein könnte, darf schwerlich als Zufall abgetan werden. Die Worte, mit denen sie dem befreundeten Paul Heyse die Verlobung mitteilt, erlauben den Schluss, dass sie einen nicht ganz vollwertigen Ersatzvater heiratet: "Ich bin seit Kurzem verlobt [... ] Es ist der Herausgeber der Deutschen Bau-Zeitung, Architekt, Fritsch, für die Welt ein sehr angesehener, wohlhabender Mann für mich ein spätes ernstes Lebensglück. Ich muß nun umlernen und meine wundervolle Tochterschaft ist vorbei." Für ihre Schwierigkeit, einen altersmäßig zu ihr passenden Ehemann zu finden, sind die Bindung an den Vater, "den vorzüglichsten der Männer", und eine daraus resultierende Gerontophilie vermutlich weit mehr verantwortlich als das Fehlen einer ansehnlichen Mitgift.

Von der Vaterbindung zeugen ihre Briefe allein schon dadurch, dass sie das ihr vom Vater attestierte "talent épistulaire" in seinem Sinne kultiviert. Sie bemüht sich um seinen Plauderton, indem sie seinen Stil und seine Wortwahl imitiert. Es gelingt ihr Ansprechendes; aber das Vorbild wird natürlich nicht erreicht. Präzise Pointen sind selten; was bei ihm spontan klingt, wirkt bei ihr gewollt; und Altersweisheit wird zu Altklugheit. Bedenkt man die Jugend der Briefschreiberin (von Martha sind fast nur die Briefe bis zu ihrem 23. Lebensjahr überliefert), so versteht sich das Qualitätsgefälle von selbst. Ein Zeugnis für hohe Briefkultur sind auch ihre Briefe allemal.

In einem völlig anderen Punkt erweist sich Martha ebenfalls als Tochter ihrer Familie: Sie ist oft krank, und ihre gesundheitlichen Defizite sind ein Hauptthema der Korrespondenz. Es fällt schwer, an rein physische Übel zu glauben; vielmehr sind psychosomatische Zusammenhänge wahrscheinlich. Bedenkt man Fontanes neurasthenische Krise im Jahr 1992 und Emilie Fontanes vielfache, von ihrem Mann nicht recht ernst genommene Krankheiten, so kann man nicht umhin, auf eine familiäre Disposition zu schließen. Fontane, der eigenen Charakterisierung zufolge "zeitlebens ein nervenkranker Mann", der jedoch gelernt habe, damit umzugehen, versucht vergebens, der Hypochondrie von Frau und Tochter zu steuern, indem er es zur Pflicht erklärt, "eine gewisse Hospitalstimmung von uns fern zu halten". Von den Krankheiten seiner Frau ist weiterhin die Rede, und seine Tochter ist nicht davon abzubringen, sich - wenn auch mit Ironie - zum "Familienwrack" zu erklären. Wie bitter solche Ironie ist, verdeutlicht das Ende: Martha stirbt 1917 durch einen Sturz aus dem Fenster; alles deutet auf Depression und Freitod.

Neben den Briefen enthält der Band eine informative Einführung, ergänzende Dokumente, Abbildungen, einen Stammbaum der Familie Fontane sowie eine familiengeschichtliche Zeittafel. Besondere Anerkennung verdienen die umfangreichen Anmerkungen, in denen allerdings die sorgfältig recherchierten Informationen über Personen die Sacherläuterungen überwiegen. Manche Sachfrage bleibt unkommentiert, wobei der Benutzer im Zweifel belassen wird, ob es sich um Selbstverständliches handelt und nur er begriffsstutzig ist oder ob eine Antwort nicht zu eruieren war. Letzteres dürfte meist der Fall sein; und Hinweise wie "nicht zu ermitteln" wären hilfreich. Die Anmerkungen verzeichnen auch Varianten. Diese mögen bei den Briefen Fontanes aufschlussreich sein, bei den anderen Briefen wirken sie hyperkorrekt. Dass eine Freundin Marthas in einem Brief erst "Kirchhoff" schreibt und dann durch Streichung des zweiten f das Versehen korrigiert, verdient kein Interesse. Die Beispiele ließen sich häufen. Philologische Gewissenhaftigkeit schlägt um in Pedanterie und führt zu unnützem Ballast in einer Dokumentation, die - so jedenfalls der Gesamteindruck - stoffliches Interesse befriedigen will, nicht literarästhetisches.

Titelbild

Theodor Fontane: Theodor Fontane und Martha Fontane. Ein Familienbriefnetz.
Herausgegeben von Regina Dieterle.
De Gruyter, Berlin 2002.
971 Seiten, 99,99 EUR.
ISBN-10: 3110158817

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch