Kritikerluder oder: The trend is your friend!
Zur Boulevardisierung des (kaum noch) seriösen Feuilletons
Von Oliver Pfohlmann
Mal ehrlich: So ganz geheuer erscheint die Literaturkritik zur Zeit nicht - nach all den Elogen auf ihre langjährigen Prügelknaben und -mägdlein.
Erste Erklärungsversuche führten zur Entdeckung des "Kritikerluders". Denis Scheck wies auf die Existenz dieser Spezies jüngst in der "F. A. Z" (20.3.2002) hin. Gemeint waren Frauen wie Lea Rosh oder Gaby Hauptmann, die in Literaturmagazinen wie der "Bunte" ihre Urteile über Peter Handke et. al. zum Besten geben. Ulrich Greiner fühlte sich von Schecks bissigem Beitrag in der "Zeit" (5.4.2002) zur Ehrenrettung seines Standes herausgefordert. Zwar sei derartiges Celebrity-Geschwätz in Klatschmagazinen allein nicht weiter nachdenkenswert. Die hymnischen Besprechungen des neuen Handke, des neuen Grass (und, darf man hinzufügen, der neuen Christa Wolf; einen Namen, den Greiner vielleicht nicht zufällig unter den Tisch fallen ließ), schon. Das neue Wohlwollen der Kritik, so Greiner, rühre daher, dass sie langweilig wäre, herrschte stets Einigkeit. Für den Kritiker gäbe es geradezu eine Pflicht zum Widerspruch. Literaturkritik solle keine Urteile für die Ewigkeit fällen, sondern das Gespräch über Literatur lebendig halten: "Grass zum Beispiel ist seit Jahr und Tag von der deutschen Kritik verrissen worden. Was schadet es, dass sich nun einige bemüht haben, an ihm ein gutes Haar zu finden?"
Zumindest bleibt der Eindruck von Beliebigkeit, vom bloßen Schielen nach Aufmerksamkeitsgewinnen. Auch "widersprechen" nicht "einige", sondern mit einem Mal alle. So wenigstens im Fall von Christa Wolf. Nachdem sich gut zehn Jahre lang im Feuilleton kaum ein Fürsprecher für sie mehr finden ließ, wird ihre neue Erzählung nun beinah einstimmig gefeiert. Zeitungen, die im Literaturstreit 1990 eine führende Rolle spielten wie etwa "Die Zeit", veröffentlichten jetzt anlässlich des "Deutschen Bücherpreises" für Wolfs Lebenswerk wohlwollende Porträts. Staunend konnte man in den Rezensionen lesen: Die Autorin sei nunmehr in der Bundesrepublik angekommen. Mit ihrem neuen Buch habe sie endlich mit ihrem Festhalten an der DDR Schluss gemacht. Auch ihrem Deutungswahn und Selbstmitleid begegne sie inzwischen mit Selbstironie, gar Humor. Gründe genug offenbar, um die ehemalige "Staatsdichterin" und "IM Margarete" wieder ans Herz der Literaturkritik zu drücken.
Nun ist es aber so: Verglichen mit Wolfs früheren Werken stellt "Leibhaftig" (zum Glück) nichts Neues dar, im Gegenteil. Diese Erzählung ist sozusagen Christa Wolf pur. Naht- und bruchlos schließt sie an Texte wie "Sommerstück" und, vor allem, "Was bleibt" an. Frage: Hätte sich das, was man für "Leibhaftig" ins Feld geführt hat, nicht genauso gut gegen es verwenden lassen? Hätte man die Erzählung nicht auch mit Argumenten verreißen können wie: "Die Autorin schreibt ja schon wieder über olle DDR-Kamellen, stilisiert sich noch immer zur leidenden Märtyrerin, zum Stasi-Opfer?" Warum nur will die Kritik jetzt in "Leibhaftig" eine neue Christa Wolf erkennen? Auch hier die "Pflicht zum Widerspruch"?
Womöglich führt ein Vergleich weiter: Vielleicht ähneln die Verhältnisse im Literaturbetrieb mitunter denen an den Finanzmärkten! (Dass Autorennamen wie Aktien steigen und fallen, hat unlängst ja auch Reich-Ranicki behauptet.) Der Literaturkritik käme dann die Rolle der Analysten zu. Nicht, wie Greiner behauptet, Widerspruch, antizyklisches Handeln sozusagen, wäre folglich das Lebenselixier der Kritik. Vielmehr lautete ihre Devise: "The trend is your friend!" Wenn an der Börse die Kurse steigen, können die Indizes noch so hoch stehen, die Herde der Analysten wird die hohen Kurse trotzdem rechtfertigen und noch höhere prognostizieren. Und natürlich umgekehrt. Faszinierenderweise werden dabei, je nach Trend und Stimmung, dieselben Sachverhalte mal positiv, mal negativ, ausgelegt: Das, was in der Baisse als Zeichen für weiter fallende Kurse gilt (steigende Zinsen, die Verschuldung eines Unternehmens usw.), wird in der Hausse als Argument für weiter steigende Kurse ausgelegt. Wer dem Trend doch einmal widerspricht, erzielt allenfalls kurzzeitig Aufmerksamkeit. Langfristig erfolgreich sind Analysten nur, wenn sie das sagen, was die Anleger gerade hören und somit auch glauben wollen.
Analysten und vielleicht sogar Kritiker folgen und reflektieren somit Stimmungen. Ihre Wirkung besteht darin, diese Stimmungen zu verstärken; ihre Funktion, ihrem jeweiligen Publikum Argumente und Rechtfertigungen für Kauf- und Verkaufs- bzw. Nicht-Kaufs-Entscheidungen zu liefern. Ihr Geschäft läuft so lange, so lange der Trend läuft. Kippt der Trend (und das geschieht meist aus einer diffusen allgemeinen Veränderung heraus, die von Analysten und Kritikern nur nachträglich konstatiert wird), kippen Analysten und Kritiker früher oder später mit. So gesehen, wäre Schecks Wort vom "Kritikerluder" vielleicht gar nicht so unpassend: 1990 kippten diese recht früh, 2002 eigentlich sehr spät.
Zugegebenermaßen hat dieser Vergleich auch seine Grenzen: Ein Finanzanalyst, der glaubwürdig sein will, ist darum bemüht, seine Kommentare so gefühlsfrei und betont rational wie möglich anzubringen. Das gehört zum Spiel, auch wenn es kaum einen Realitätsbereich gibt, der so von Gefühlen dominiert wird wie die Börse. Die Literaturkritik bezieht ihre Legitimation immer auch aus dem persönlichen, emotionalen Engagement des Kritikers: Die Wolf-Kritiker, darunter vor allem Ulrich Greiner, präsentierten sich 1990 moralisch empört über "Was bleibt". Jüngst soll die Lektüre des neuen Grass Reich-Ranicki "zu Tränen gerührt" haben.
Hier empfiehlt sich wohl die Wahl eines anderen Vergleichsobjekts, die Politik beispielsweise. Frei nach dem Kulturwissenschaftler Peter Müller: Es ist halt alles Inszenierung, Theater; legitim, gewiss - aber irgendwie auch lächerlich.