Krankheit, Widerstand oder Verbrechen?

Franziska Lamotts Untersuchung zur Konstruktion von Hysterie um 1900

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1913 durchbrach eine junge Frau in Berliner Tiergarten des nachts die weibliche Geschlechtsrolle und erschoss einen ihrer beiden Geliebten. Der anschließende Prozess, indem es nicht zuletzt um die Frage ging, ob die Frau als Hysterikerin überhaupt für ihre Tat verantwortlich sei, fand in der Öffentlichkeit breiten Widerhall. So widmete auch H. Friedlaender dem "Liebesdrama" einen Beitrag in dem 1919 erschienen 12. Band seiner Reihe "[i]nteressante[r] Kriminal-Prozesse von kultur-historischer Bedeutung". Friedlaenders Prozessbericht wiederum weckte das Interesse von Franziska Lamott. Sein Text, so die Autorin in ihrer 2001 veröffentlichten Habilitationsschrift "Die vermessene Frau", zeige selbst "deutlich Spuren der Hysterizität" und wirke wie das "Dokument einer hysterischen Szene". Die Metaphorik des Textes sei "schrill", seine Sprache "hyperbolisch". Es fänden sich "Häufungen von Superlativen", und ähnlich wie im Melodram sei die Artikulation "affektbeladen". Friedlaenders Bericht sei ebenso "theatralisch, Aufmerksamkeit heischend, expressiv, agierend und dramatisierend[.] wie die Hysterie". Mit zahlreichen Zitaten nicht nur aus Friedlaenders Text belegt die Autorin die Verknüpfung von medizinischem, juristisch/kriminalistischem und öffentlichem Diskurs der Hysterie ebenso wie deren eigene Hystriesierung, indem sie - mit Foucaults Diskursanalyse als methodischem Bezugsrahmen - nicht nur danach fragt, was die Texte erzählen, sondern wie sie funktionieren, um so "unbewusste Phantasien in wissenschaftlichen und populären Texten zu enträtseln".

Im Zentrum ihrer Arbeit stehen die im Fin de Siècle virulenten wissenschaftlichen Bemühungen um die Aufrechterhaltung bzw. Herstellung einer eindeutigen Geschlechterdifferenz. Ausgehend von der Tatsache, dass die Ambivalenzen des Modernisierungsprozesses "spezifische wissenschaftliche Abwehrstrategien" evozierten, die nicht nur zur Etablierung neuer wissenschaftlicher Disziplinen führten, sondern auch erkenntnisverhindernd wirkten, zeigt die Autorin die Hysterisierung als "zentrale[n] Mechanismus" der Abwehr auf und belegt, dass Hysterie nicht nur Objekt wissenschaftlicher Diskurse war, sondern sie sich ihrerseits der wissenschaftlichen wie der Alltagsdiskurse bemächtigte und damit sowohl "hysterische Texte produzierte" wie auch zu einer "Hysterisierung der Öffentlichkeit" beitrug. Der Topos "Hysterie im Fachdiskurs" gewinnt also eine doppelte Bedeutung: zum einen meint er bei Lamott "Auseinandersetzung mit dem Phänomen" und zum anderen die "Hysterisierung wissenschaftlicher Diskurse" selbst.

Im "Koordinatensystem" Medizin, Recht, Politik, Kunst und Alltagskultur, so Lamott, sei die Ordnung der Geschlechter organisiert worden. Im "Spannungsfeld" zwischen Idealisierung und Anziehung der Frau einerseits sowie ihrer Entwertung und Abstoßung andererseits habe die Hysterie als "soziale Konstruktion zur Abwehr bedrohlicher Gefühle" fungiert. Als "globale Kategorie" versprach das "Konzept der Hysterie" nicht nur in der Abwehr von abweichender Weiblichkeit Erfolg, sondern auch im Umgang mit divergenter Männlichkeit, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist.

Überzeugend gelingt es der Autorin aufzuzeigen, "daß in allen Hysteriekonzepten das therapeutische Potential in der Wiederherstellung der Geschlechterordnung gesucht" und mit dem "'geordnete[n]' Geschlechtsverkehr" gefunden wurde, der den Frauen Fruchtbarkeit versprechen sollte und zudem - nicht minder wichtig - die männliche Potenz sowie den männlichen "Zugang zum weiblichen Körper" garantieren sollte.

In weiteren Kapitel weist Lamott auf die besondere Bedeutung des Körpers als kriminalistisches Beweismittel bei den aufgrund ihrer Erkrankung 'verlogenen' Hysterikerinnen hin und macht den Zusammenhang zwischen unterschiedlichen Hysteriekonzeptionen und der Klassenzugehörigkeit der Patientinnen deutlich. Besonderes Augenmerk richteten die Herren Wissenschaftler und Kriminalisten auf die 'Beweismittel' Jungfernhäutchen, weibliche Brust und weiblicher Mund. Die von Lamott herangezogenen medizinischen und kriminalistischen Untersuchungen erweisen sich als wahres Kuriositätenkabinett sich wissenschaftlich gerierenden Unfugs.

Wie Lamott weiter zeigt, entsprechen die zwischen den beiden Polen Frigidität und Nymphomanie changierenden Auffassungen der Libido von Hysterikerinnnen den "klassenspezifisch gespaltenen Weiblichkeitsstereotypen von der bürgerlichen und der proletarischen Frau". Das jeweilige Libidokonzept bestimmte, "ob damit Phantasien bürgerlicher oder proletarischer Szenarien" einhergingen. Bei aller scheinbaren Gegensätzlichkeit teilten beide Konzepte die "prinzipielle Entwertung" der abzuwehrenden weiblichen Intelligenz.

Lamotts Analyse der Konstruktionen und Inszenierengen von Hysterie um 1900 zeichnet sich durch genaue Quellenarbeit und stichhaltige Argumentation aus. Nicht zu überzeugen vermag hingegen ihr abschließendes Kapitel, in dem sie zunächst noch recht plausibel aufzeigt, dass das, was im 19. Jahrhundert "als Hysterie pathologisiert wurde", heute ein wesentlicher Bestandteil "sich selbst inszenierender Kultur" sei, um sodann jedoch das bei deutschsprachigen Körpertheoretikerinnen immer noch virulenten Unverständnis von Butlers Gender-Theorie zu teilen. Auch Lamott beschuldigt Butler der "Illusion", dass es "keine (anatomische) Differenz der Geschlechter" gebe. Mit der "[k]onstruktivistischen Loslösung vom Leib, als Ort sinnlicher Erfahrung", die dem "Wunsch nach einer 'konfliktfreien, triebbereinigten Sexualität'" entspreche, in der die "Spannung zwischen den Geschlechtern" ebenso aufgehoben sei, wie diejenige "im einzelnen Individuum", werde eine Ästhetisierung betrieben, die eine "abwehrende Funktion" habe. Somit diene sie der "Versöhnung mit den herrschenden Verhältnissen". "[W]as im fin de siècle durch die Zementierung der Differenz beruhigt wurde", werde heute "durch die Verleugnung der Differenz stillgelegt". Womit Butlers (De-)Konstruktivismus mitsamt der von ihr propagierten parodistischen und subversiven Geschlechterperformanz glücklich auf den Kopf gestellt wäre.

Titelbild

Franziska Lamott: Die vermessene Frau. Hysterien um 1900.
Wilhelm Fink Verlag, München 2001.
233 Seiten, 35,80 EUR.
ISBN-10: 3770535685

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