Viel Herzeleid

Leben und Leiden Nicolaus Lenaus in der Biographie von Michael Ritter

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Runde Geburts- oder Todestage bekannter Schriftsteller und Schriftstellerinnen bieten sich immer zur Publikation von Werkzusammenstellungen, Interpretationen, Einführungen, Lebensbeschreibungen und ähnlichem mehr an. Je populärer die JubilarInnen, desto zahlreicher die Veröffentlichungen. Nun gehört Nikolaus Lenau zwar nicht zu den ganz Großen, deren Ruhm erst vor der Schleuse des Big-Brother-Containers endet; zum literarischen Kanon gehört er jedoch allemal. So ist auch pünktlich zu seinem 200. Geburtstag eine Biographie erschienen. Verfasst hat sie Michael Ritter, Publizist in Wien und Redakteur des "Lenau-Jahrbuches".

"Lenaus Tage verliefen gleichförmig" heißt es dort, und dies scheint für das ganzes Leben des Dichters zuzutreffen. Alleine hieran kann es jedoch nicht liegen, dass Lenaus Biograph es nicht versteht, uns zu fesseln. Die zahlreichen, mehr oder weniger belanglosen Einzelheiten, die er offenbar mangels eindrücklicher Einschnitte in Lenaus Vita mit geradezu detailbesessener Ausführlichkeit referiert, vermögen es nicht, einem Lenau wirklich nahe zu bringen. Man erfährt etwa nicht nur den Namen der Lehrenden, bei denen Lenau während seines Studiums hörte, und bekommt eine kurze Charakteristik jedes einzelnen geliefert, was ja noch von einem gewissen Interesse ist, sondern es werden auch die Belegstunden mit Wochentag und Uhrzeit aufgeführt. Ebenso genannt wird Lenaus Matrikelnummer. Ritter berichtet, wie groß der Ausländeranteil der in Heidelberg Studierenden war, wie viele Badener, wie viele Studenten insgesamt immatrikuliert waren, wie viele Medizin belegt hatten - und selbst den Namen des Händlers, bei dem Lenau seine Zigarren zu kaufen pflegte, bekommt man geliefert. All das ermüdet eher als dass es wirklich informiert oder wenigstens unterhält. Hinzu kommen die nicht seltenen Wiederholungen, Ritters oft etwas umständlicher Stil ("Ein wenig etwas von einer Midlifecrisis scheint durchzuschimmern"), störende stilistische Eigenheiten und schiefe Bilder fragwürdigen Inhalts. So heißt es etwa angesichts von Lenaus Vorliebe für Billard unter Anspielung auf die ruinöse Spielsucht seines Vaters, er sei vielleicht ein wenig in dessen "genetischen Fußstapfen" gewandelt.

Trotz Lenaus zu seiner Zeit durchaus noch ungewöhnlichen Amerikareise, trotz seiner Konflikte mit österreichischen Zensurbehörden, trotz der Bespitzlung, der er ausgesetzt war, gewinnt man im Wesentlichen nur das Bild eines nicht sonderlich sympathischen Griesgrams, der ein kümmerliches, ereignisarmes Leben führte. Hieran vermögen letztlich auch Lenaus Melancholie und seine unglücklichen Liebschaften nichts zu ändern.

Lenaus Vater war ein früh verstorbener Halodrie, der das bestehende Vermögen innerhalb kürzester Zeit verspielte; für die Mutter war Lenau das Ein und Alles. Wenn Ritter als Beleg hierfür allerdings anführt, dass er zum Frühstück "sein täglich Kipferl" bekam, während die Schwestern sich mit Schwarzbrot begnügen mussten, so dürfte sich das im nicht nur seinerzeit durchaus üblichen Rahmen der Bevorzugung männlichen Nachwuchses bewegt haben.

Nach dem Tod des Vaters kam Lenau gegen den Widerstand seiner Mutter bald zu seinen herrischen Großeltern, die er mit Vater und Mutter anreden musste und die ihn mittels finanzieller Druckmittel zum Studium des deutschen Jus drängten. Irgendwann begehrte er gegen die Bevormundung und das ungeliebte Studium auf, ließ sich jedoch schnell wieder von den finanziellen Zuwendungen korrumpieren. Erst als beide Großeltern verstorben waren wagte er es, sein Studium endgültig abzubrechen.

Die Melancholie, die im Laufe der Jahre immer stärker von dem stets Kränkelnden Besitz ergriff, fasste er als Krankheit auf, die ihm, wie Ritter schreibt "eingepflanzt sei und gegen die er sich letztlich kaum wehren könne". Allerdings, so der Biograph, habe sich Lenau des öfteren einer "gespielten, manierierten Form der Melancholie" bedient, "um sich interessant zu machen". Denn, so zitiert er seinen Protagonisten, "der Dichter muß unglücklich sein". Und was bietet sich dazu besser an als eine unerreichbare Liebe? Lenau suchte und fand sie in der verheirateten Sophie von Löwenthal. Die wichtigste Frau seines Lebens war jedoch seine Mutter, an der er nicht nur seine Geliebten maß. Die "enge Mutter-Sohn-Bindung" beider kann Ritter zufolge "sicher nicht als normal bezeichnet" werden. Therese Lenau liebte ihren Sohn "abgöttisch" und "verzärtelt[e] und verwöhnt[e]" ihn. Ritter sieht darin den Grund für Lenaus "Rücksichtslosigkeit" und seinen "Egoismus". Dem mag zu einem Gutteil wohl so sein. Umso mehr überrascht es allerdings, dass der Biograph die Schuld an allen Problemen in Liebesdingen ausschließlich bei den Frauen sucht, für die Lenau Zuneigung empfand. Mit zu den Schwierigkeiten beigetragen haben mag allerdings auch Lenaus ausgeprägte Misogynität. Sie und ihre Geschlechtsgenossinnen, meinte er einmal Sophie von Löwenthal gegenüber, könnten tun was sie wollten, sie blieben doch nichts weiter als "Gänse". Lenaus Sexismus scheint auch Ritter nicht gänzlich fremd zu sein, nennt er doch seinen Protagonisten und dessen Geschlechtsgenossen stets beim Nachnamen, die Frauen und insbesondere die Geliebten Lenaus mit Vorliebe in plumper Vertraulichkeit beim Vornamen.

Als Lenau die Frau, die in seinem Leben eine "verhängnisvolle Rolle" spielen sollte, 1833 kennen lernte, war er bereits nicht nur ein "gefeierter Schriftsteller", sondern auch Vater eines Kindes, dessen Mutter Berta Hauer war. Bald, so Ritter, sei Lenau in eine "emotionale Abhängigkeit" zu von Löwenthal geraten, "in der ihn die verheiratete Frau dann auch mehr oder weniger absichtlich" gehalten habe. Das ist so vage wie suggestiv formuliert. Belege für ein solch absichtsvolles Handeln und den "negativen Einfluss" von Löwenthals liefert Ritter kaum, und das Sophie von Löwenthal Lenau geliebt und selbst nicht minder als er gelitten haben könnte, zieht der Autor nicht einmal in Betracht. Ihre 'Schuld' besteht etwa darin, dass Lenau die "Abnabelung" von ihr nicht gelang, als er sich in die Opernsängerin Karoline Unger verliebte, kaum dass er sie bei einem Hauskonzert singen gehört hatte. Gleich darauf schreibt er an Sophie von Löwenthal einen Brief, der ihre Eifersucht wecken musste. Lenau sei "zwischen zwei Fronten" geraten, schreibt Ritter mitfühlend in einer seiner geliebten kriegerischen Metaphern, und schickt Sophie von Löwenthal in einen "Feldzug" gegen Unger. Bald folgt Lenaus Brief an seine 'platonische' Liebe ein zweiter, diesmal ebenso weinerlich wie erpresserisch. "Mein Gefühl für Sie", schrieb der Dichter, "bleibt ewig und unerschüttert, aber Carolines Hingebung hat mich tief ergriffen. Es ist an Ihnen, Menschlichkeit zu üben an meinem zerrissenen Herzen. Caroline liebt mich grenzenlos. Sie hat mir geschrieben. Verstoße ich sie, so mache ich sie elend und mich zugleich, denn sie ist werth, daß ich sie liebe. Entziehen Sie mir Ihr Herz, so geben Sie mir den Tod; sind Sie unglücklich, so will ich sterben. [...] ich wollte, ich wäre schon Todt!" Was Lenau wollte, ist klar: die Liebe beider Frauen. Und er will von Löwenthals Zustimmung zu seinem Verhältnis mit Unger. Um sie zu erlangen schreckt er auch vor einer Suiziddrohung nicht zurück. Doch Ritter sieht von alldem nichts. Vielmehr meint er, dass Sophie von Löwenthal durch den Besitz des Briefes "nur allzu leichtes Spiel mit den Gefühlen und in letzter Konsequenz mit der Lebensgestaltung Lenaus" erlangt habe. Übergeht Ritter einerseits Lenaus Suiziddrohung mit Stillschweigen, betont er andererseits, dass von Löwenthal Lenau "mit gezielten Aussagen über ihren instabilen Gesundheitszustand in Sorge versetzt" habe, so dass Lenau "unsicher" werden musste, ob ihre "Unpässlichkeiten" nicht etwa darauf zurückzuführen seien, "dass er sich von ihr entfernte". Die Belege hierfür liefert der Biograph allerdings ebenso wenig wie für seine Behauptung, "dass Sophie Lenau glaubhaft versicherte, sie wolle nicht mehr länger leben, wenn er sie verlasse". Jedenfalls nehmen sich von Löwenthals Bemerkungen auf ihre angegriffene Gesundheit weit harmloser aus als Lenaus unverhohlene Selbstmorddrohung. Zudem scheint ihn von Löwenthals Gesundheitszustand nie sonderlich beunruhigt zu haben; zumindest, wenn man einer brieflichen Bemerkung von Löwenthals Glauben schenken darf, der zufolge Lenau selbst dann noch "ganz ruhig" von ihrem Tode gesprochen hat, wenn sie erkrankt war. Wie auch immer, Ritter ist der Auffassung, dass Lenaus "Versuch, sich von Sophie zu lösen" aufgrund ihrer Machinationen "nur kläglich scheitern" konnte. Dass Karoline Unger kurz vor dem Ende ihrer Beziehung zu Lenau bei einem Aufenthalt in Dresden einen von dessen Briefen im Kreise Tiecks vorgelesen hatte und das der Grund des Bruchs gewesen sein könnte, verschweigt Ritter. Immerhin veranlasste der Vorfall Lenau, seine Briefe von Unger zurückzufordern.

Nach Beendigung der Affaire mit Karoline Unger wandte sich Lenau erneut einer Liebschaft zu. Diesmal schrieb er jedoch keinen Eifersucht erweckenden Brief an von Löwenthal, sondern ging "vorsichtiger, vielleicht feiger [...] - oder auch entschlossener" zu Werke und schwieg von Löwenthal gegenüber, so dass sie von Lenaus Heiratsabsicht aus der Zeitung erfahren musste. Von ihr zur Rede gestellt droht er auch diesmal mit Selbstmord: "wenn Sie's wünschen, verheirathe ich mich nicht; ich erschieße mich dann aber auch."

Lenau, der das Motiv des "wegen der Liebe wahnsinnig Gewordenen" liebte, wurde am 22. Oktober 1844 in die Irrenanstalt Winnenthal bei Winnenden eingeliefert. Allerdings wurde er nicht infolge der Liebe wahnsinnig, sondern - wie man vermutet - als Langzeitfolge einer früheren Syphilisinfektion. Ein halbes Jahr später wurde er in die Irrenanstalt Oberdöbling bei Wien überwiesen. Sophie von Löwenthal besuchte ihn hier bis zu seinem Tod 1850 mit steter Regelmäßigkeit zweimal im Monat. Zunächst verweigerte man ihr jedoch den Zutritt zu dem Kranken. Lenaus Schwager Anton Xaver Schurz begründete das ihr gegenüber damit, dass man sie für "eine Art Zirze" halte, deren "Zauberstab" Lenau "willenlos" gehorche. Zwar wolle er sich gelegentlich "aufraffen und dem ihn fest umschlingenden Netze sich entreißen, allein vergeblich! er verwickelt sich dabei nur noch mehr darin". Ritter teilt diese Auffassung ohne Abstriche und meint, im Grunde handele es sich bei ihr um eine "kurze, prägnante Analyse dessen, was sich in vielen Jahren zwischen Sophie von Löwenthal und Nikolaus Lenau abspielte". Geradezu obsessiv sucht Ritter nicht nur die Schuld für Lenaus Leiden und schließlich seinen Wahnsinn bei von Löwenthal, sondern auch ein Schuldbekenntnis ihrerseits. Stellt von Löwenthal etwa fest, Lenau habe während ihrer Liebe enthaltsam gelebt, obwohl "seine Sinnlichkeit" Befriedigung gefordert habe, und äußert die Ansicht, dass dieses "unnatürliche Bekämpfen eines Triebes der wahrscheinlich in jedem kräftigen Manne mächtig ist, [...] ein großen Theil an der Verstimmung seiner Nerven gehabt haben" mag, so gibt sie nach Ritters Interpretation indirekt zu, "Auslöserin für Lenaus Erkrankung gewesen zu sein". Auch in ihren Briefen glaubt der Biograph "zahlreiche Passagen" gefunden zu haben, die er als "Schuldeingeständnis" dafür zu interpretieren seien, "dass sie Lenau in einer Beziehung hielt und nicht loslassen wollte, die vom ersten Tag an keine Erfüllung bieten konnte". Der von ihm angeführte Beleg liest sich allerdings eher als das genaue Gegenteil: "Ihr alle habt eine ebenso übertriebene Meinung von meiner Macht als von meiner Schuld". Die Möglichkeit, dass die Schuldfrage an sich schon völlig verfehlt ist, sondern es sich um eine unglückliche Liebe handelte, an der beide, Lenau wie auch von Löwenthal, schuldlos litten, wird von Ritter nicht in Betracht gezogen. Überhaupt hat er für das Leiden von Löwenthals keinerlei Verständnis. Anders als gegenüber Lenau fehlt ihm hier jegliche Empathie. In einem Brief an Schurz verleiht von Löwenthal ihrem Leiden Ausdruck: "Und als dann dieser Freund [Lenau] kam, der nach seiner Liebelei mit der Sgra Ungher, viel Zeit und Athem daran gewendet hatte mich wieder in den Glauben an seine ewige Treue hineinzureden, [...] hätte da mein Herz nicht bluten, nicht verzagen sollen?" Für Ritter ist das jedoch nur eine "Rechtfertigung": "Sophie dreht den gar Spieß um und weist Lenau [...] die Schuld an der missglückten Liebesbeziehung zu." Wenn denn nach Schuld gesucht werden soll, dann liegt sie vielleicht doch eher auf Lenaus Seite. Denn immerhin konstatiert sogar Ritter, dass von Löwenthal ihrem Gatten nach der Geburt des letzten Kindes den Beischlaf verweigert hatte. So war sie treuer als Lenau, der sich trotz aller Liebe zu ihr auch anderweitig umsah und seine gelegentliche Liebschaften pflegte, so gut es ihm eben möglich war.

"Du warst an Liebe reich und Geistesgaben/ Viel Herzeleid ist hier mit Dir begraben", steht auf dem Grabstein nicht Lenaus, sondern Sophie von Löwensthals.

Titelbild

Michael Ritter: Zeit des Herbstes. Nikolaus Lenau. Biographie.
Deuticke Verlag, Wien 2002.
381 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3216305244

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