Rührselige Geschichten

Richard Rortys pragmatistische Ansichten über Wahrheit und moralischen Fortschritt

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zwei Bücher waren es vor allem, mit denen der amerikanische Philosoph Richard Rorty bekannt wurde: zum einen der 1967 von ihm herausgegebene Sammelband "The Linguistic Turn" und zum anderen sein zwölf Jahre später erschienenes Hauptwerk "Philosophy and the Mirror of Nature" (dt.: "Der Spiegel der Natur"), in dem er mit der akademischen Philosophie abrechnete. In der Folge gab er den philosophischen Lehrstuhl in Princton auf und übernahm 1983 die Professur für Humanties an der University of Virginia.

Im Jahre 2000 hat der Suhrkamp Verlag die deutsche Übersetzung seiner zwei Jahre zuvor erschienenen Aufsatzsammlung "Truth and Progress" unter dem Titel "Wahrheit und Fortschritt" herausgebracht. Dem ersteren der beiden titelstiftenden Begriffe hat Rorty längst abgeschworen und befindet, "daß wir gar keine Wahrheitskriterien außer Rechtfertigung oder Begründung kennen" und dass diese ebenso "hörerrelativ" seien wie das Gute "zweckrelativ" und das Richtige "situationsrelativ". Kurz, Wahrheit sei nichts weiter als die "Substantivierung eines billigenden Adjektivs". Praktischer als eine Philosophie, die Wahrheit intendiert, findet der ehemalige Philosophieprofessor den Pragmatismus, der die "dialektischen Vorteile der Postmoderne" biete, während er ihre "selbstwidersprüchliche Entlarvungsrhetorik" vermeide.

Der Band enthält Texte aus den 90er Jahren, die nicht zuletzt durch die fast schon salopp zu nennende literarisch Leichtigkeit seines Stiles gefallen, den Rorty seit den 80er Jahren zunehmend kultiviert hat. So rät er etwa, die "großen Philosophen des Abendlands" solle man nur "zu therapeutischen Zwecken" lesen, nämlich um zu erfahren, "welche Probleme nicht erörtert werden sollten". Auch nehmen seine typischen und stets mit etwas Ironie gewürzten Understatements für den kritischen "Anhänger von James und Nietzsche" ein, der bekennt, nur den "Abfall [...] fortzukehren und zu entsorgen", der bei der Arbeit der wenigen anfalle, die die Philosophie wirklich voranbringen. Er selbst sei nur ein "Handlanger", der die "Schmutzarbeit" erledige. Die "wahrhaft heroischen philosophischen Leistungen" hätten hingegen Gottlob Frege, John Stuart Mill, Bertrand Russel, Martin Heidegger, John Dewey sowie aktuell Jürgen Habermas und Jacques Derrida vollbracht, den er als "Nietzsche-Pedant unseres Jahrhunderts" bezeichnet. Mit ihnen setzt sich Rorty im ersten und letzten Teil des dreigliedrigen Buches auseinander, wobei er einem Kontrahenten schon mal mit dem philosophischen Seziermesser zu Leibe rücken kann.

Unter dem Titel "Moralischer Fortschritt" fordert der Autor in den vier Beiträgen des mittleren Teils "integrativere Gemeinschaften" und unternimmt den Versuch, Feminismus und Pragmatismus "miteinander zu verbinden". Als Pragmatist könne er allerdings nichts weiter tun, als die Feministinnen "mit ein wenig Munition für ihre speziellen Zwecke auszurüsten". Die Aufgabe eines pragmatistisch verstandenen Feminismus sei nicht, "die Frauen genauer zu beschreiben", sondern "bei der Schaffung von Frauen mitzuwirken". In einem weiteren, sehr differenzierten und sehr genau argumentierenden Essay unterscheidet Rorty jeweils drei Bedeutungen der Begriffe "Rationalität" und "Kultur" und kommt zu erhellenden Schlüssen über das Verhältnis von "Rationalität und kulturelle[r] Verschiedenheit".

Ohne Umschweife bekennt sich der Autor zu der ketzerischen Meinung, "daß unsere Kultur moralisch über den anderen steht", und stellt Überlegungen an, wie der "Menschenrechtskultur" zu mehr "Selbstbewusstsein" und "Einfluß" verholfen werden kann. Zur Durchsetzung einer allgemeinen Achtung der Menschenrechte möchte er sich eher auf "Winke des Empfindens" als auf die "Gebote der Vernunft" verlassen, denn "das Auftauchen der Menschenrechtskultur" verdanke sich nicht etwa einem "Zuwachs an moralischem Wissen", sondern dem "Hören trauriger und rührseliger Geschichten". Daher seien nicht etwa moralphilosophische Abhandlungen die wirklich "nützlichen Hilfsmittel moralischer Bildung" sondern Romane. Eine Behauptung, die von LiteraturwissenschaftlerInnen sicher gerne vernommen wird.

Rortys Ausführungen zur mangelnden Verbreitung der Menschenrechtskultur und den Möglichkeiten ihrer Durchsetzung fallen nicht in jedem Punkt befriedigend aus. Wenn er feststellt, dass der Grund, warum "die meisten Leute" außerhalb des "europäischen Kulturkreises der Nachaufklärungszeit" nicht im Stande sind "zu begreifen", warum die "Zugehörigkeit zu der biologischen Spezies" ausreicht, "um einer moralischen Gemeinschaft zugerechnet zu werden", darin liege, dass sie "in einer Welt leben, in der es schlicht zu riskant, ja häufig irrsinnig gefährlich wäre, den Sinn für moralische Gemeinschaften so weit zu fassen, daß er über die eigene Familie, die eigene Sippe oder den eigenen Stamm hinausreicht", so kann das etwa weder den Schwulenhass erklären, der alleine in Brasilien jährlich über 100 Homosexuelle das Leben kostet, noch die Misogynität, die Moslems in Afghanistan veranlasst, Frauen unter sackähnliche 'Kleidungsstücke' zu zwingen, und deren reiche Glaubensbrüder in Saudi-Arabien, Frauen zu verbieten, ein Auto zu steuern oder Personalpapiere zu besitzen. Ebenso wenig erhellt es den durch die Nazis vollzogenen Ausschluss ihrer Mitbürger jüdischen Glaubens aus der "biologischen Spezies" Mensch und den Genozid, den die Roten Khmer am eigenen Volk begingen. Auch gibt Rortys Forderung nach Lebensbedingungen unter denen die "eigene Verschiedenheit von anderen" für die Selbstachtung und das Selbstwertgefühl unerheblich ist, nicht den geringsten Hinweis, wie dem ebenso unmoralischen wie verbrecherischen Handeln eines Hitler, eines Milosevic oder eines Bin Laden zu begegnen ist.

Titelbild

Richard Rorty: Wahrheit und Fortschritt.
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Joachim Schulte.
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
514 Seiten, 39,90 EUR.
ISBN-10: 3518582976

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