Wen kümmert's, wer spricht?

Bettine Menke untersucht die rhetorische Figur der Prosopopoiia in romantischen Texten und bei Kafka

Von Axel SchmittRSS-Newsfeed neuer Artikel von Axel Schmitt

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Am Ende des 20. Jahrhunderts stand das Stichwort von der "Unlesbarkeit" der Texte, das einen tief greifenden Wandel der hermeneutischen Vorgaben indizierte. Es handelt sich dabei um eine Strategie der Lektüre, die den hermeneutischen Drang zum Sinn auf Schritt und Tritt absichtlich frustriert. Nicht die Unauffindbarkeit von Sinn im Text, sondern die Verweigerung von Sinn motiviert diese Leshaltung. Die Figur solcher Unlesbarkeit hat Paul de Man bekanntlich "Allegorie" genannt, einen Begriff, den Geoffrey Hartman folgendermaßen erläutert: "Die Dekonstruktion faßt die Lektüre des Unlesbaren als einen allegorischen Prozeß auf. Allegorie, die einst als Kontrastfigur zu Bild und Symbol als blutleer und abstrakt verschrien war, erfährt ihr Comeback als eine Leitfigur des Schreibens und Interpretierens. Allegorie hatte von jeher eine Rätsel-Seite, so daß ihre Verbindung mit 'Unlesbarkeit' schon fast ein Gemeinplatz ist." Besonders die dekonstruktive Literaturtheorie hat Formen der Lektüre entwickelt, die den Texten ihre Fremdheit zurückgibt, anstatt sie in Sinn zu übersetzen und dem Verstehen preiszugeben. Texte auf ihre Unlesbarkeit hin zu lesen bedeutet, das herauszustellen, was die Sinnproduktion notwendig verstellt: das Widerständige, Unzusammenhängende, Fragmentarische, Entzogene, Verlorene. Diese neuen Formen der Lektüre sind kalkulierende Re-Lektüren, die es in den Texten auf das abgesehen haben, was früher übergangen und vergessen worden war: die Spuren der Opfer, die zum Schweigen gebrachten Stimmen der von der offiziellen Kultur Ausgegrenzten und Marginalisierten. Die Re-Lektüren geben den Texten ihre Fremdheit zurück bzw. lassen die gegen sie unterdrückten und vergessenen Stimmen zu Wort kommen. Die Aufmerksamkeit für den Buchstaben verbindet sich dabei mit einer Suche nach dem Anderen des subjektiv gemeinten Sinns, nach etwas, was sich an diesem vorbei in den Text eingeschrieben hat: die Gewalt der Diskurse sowie das Andere, vom Autor Verschwiegene und von der Gesellschaft Verdrängte.

Als Allegorie für diese Lektüre-Bewegung figuriert in der Literaturtheorie immer wieder auch die athenische Königstochter Philomele, von der es unter Verweis auf Ovids "Metamorphosen" in Karl Philipp Moritz' kunsttheoretischem Aufsatz "Die Signatur des Schönen" heißt: "Als PHILOMELE ihrer Zunge beraubt war, webte sie die Geschichte ihrer Leiden in ein Gewand, und schickte es ihrer Schwester, welche es auseinander hüllend, mit furchtbarem Stillschweigen, die grässliche Erzählung las. Die stummen Charaktere sprachen lauter als Töne, die das Ohr erschüttern, weil schon ihr bloßes Dasein von dem schändlichen Frevel zeugte, der sie veranlasst hatte. Die Beschreibung war hier mit dem Beschriebenen eins geworden - die abgelöste Zunge sprach durch das redende Gewebe." Die von Moritz als bekannt vorausgesetzte "Geschichte ihrer Leiden" liest sich bei Ovid als Gewalttat des Tereus, der seine Schwägerin Philomele verschleppte und sie anschließend durch Verstümmelung zum Verstummen brachte, indem er ihre Zunge heraustrennte. Auch Geoffrey Hartman widmet sich in seinem Essay "Das Philomela-Projekt" den verstummten, im Verstummen lesbar gewordenen Stimmen der Texte: "Das Philomela-Projekt, das den Stimmlosen eine Stimme, den Anonymen einen Namen gibt, verschmilzt am literarischen Horizont der Geschichte mit einem anderen Mythos. Orpheus zwingt Acheron, ein verlorenes Objekt des Begehrens freizugeben und zurückzuerstatten." Auch in weniger blutigen Fassungen als der des Ovid, in der die Metamorphose der Philomele zur Nachtigall im Fluge verharrt und nicht die Stimme, sondern die Zeichen der geschehenen Gewalt davonträgt, ist der Vogelsang der Philomele trügerischer Nachklang. Ovids Metamorphose registriert die Spuren des Bluts, die sich in den Text einschreiben, nicht aber den Gesang der Nachtigall. In der absoluten Schönheit der klagenden Stimme, die man mit dem Vogel dieses Namens verbindet, mag ein später Trost liegen, der den Schmerz hinter sich lässt.

In ihrer Habilitationsschrift "Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka" thematisiert Bettine Menke die Stimme als Figur und als Imagination der Texte und damit auch die Stelle dieser Imagination, an der diese auftritt und für die sie eintritt. Rhetorisch handelt es sich dabei um die Prosopopoiia, die Figur, durch die den Toten und Abwesenden im Text in deren fiktiver Rede eine Stimme und ein sprechendes Gesicht verliehen werden. "Durch Prosopopoiia lässt ein Text konkrete Dinge oder abstrakte Begriffe als redende Personen auftreten; er verleiht ihnen, Toten, Abwesenden, Kollektiva, in der Fiktion ihrer Rede ein Gesicht, die Maske (prosopon-poiein), durch die sie gesprochen haben sollen. 'Eine-Stimme-Geben' ist die rhetorische Figur, die ein Subjekt der Rede (erst) voraus-setzt und einsetzt, das nachträglich, als sprechendes, immer schon gegeben zu sein scheint. Insofern verstellt diese Figur in ihrem Effekt 'lebendigen Sprechens' auch schon ihr Funktionieren als rhetorische Figur und ihre Voraussetzung von Stummheit und Tod." Neben Philomele wird vor allem die tönende Memnon-Statue, ein spätantiker griechisch-ägyptischer Synkretismus seit Mitte des 18. Jahrhunderts zum "emblematischen Fall der (poetischen) Stimme für das Stumme, die gedacht wird als Verlebendigung des Toten und Zerschlagenen, ein Fall zugleich der romantischen Leseanweisung für die buchstäblichen Texte." Bettine Menke gelingt es nachzuweisen, dass die romantischen Inszenierungen der Stimme immer auch für die Frage nach der Lesbarkeit der Texte insgesamt stehen. Dabei ist Prosopopoiia die rhetorische Figur, "durch die dem Text ein sprechendes Gesicht gegeben, vor und hinter den Buchstaben ein Gesicht vor-aus-gesetzt wird, durch das dieser (sich transparent machend) gesprochen werde." Auf diese Weise rekurriert die 'Stimme' als romantische Figur der Lesbarkeit auf ein "verlebendigendes Verstehen", die 'Fülle des Sinns', in die die buchstäbliche Schrift sich transzendiert. Die romantischen Texte sprechen, wie die Verfasserin unterstreicht, "die rhetorische Figur des Stimme-Verleihens in metapoetischen Modellierungen an und entfalten sie narrativ oder deskriptiv - allerdings ohne von Rhetorik zu sprechen."

Als fehlgehende Verlebendigung der Toten ist die Prosopopoiia in jedem Fall ein Gegenmodell zur Allegorie. "Während die Prosopopoiia die Verlebendigung der schriftlichen toten Texte in der Stimme fingiert, ist die Allegorie die Figur der Schriftlichkeit und der toten Bedeutung. [...] Als Figur ist sie - so Benjamins Konzept wie de Mans Ausführung - auch Meta-Figur, die ihr Bedeuten, also die Dissoziation, die sie in ihrem Bedeuten (auch wieder) einträgt, mitbezeichnen muß. Stets wird etwas anderes 'erzählt' (oder 'abgebildet') worden sein, was die (einstimmige) Lesbarkeit der Allegorie blockiert. Wo die Allegorie die Disjunktion ausstellt, verstellt die Prosopopoiia den Abgrund des (/ihres) Verfehlens, mit einem Gesicht, das spricht." Menkes Differenzierung findet ihre Bestätigung in einer der neueren Arbeiten zur Struktur und historischen Systematik des Allegorischen, Heinz J. Drüghs Dissertation "Anders-Rede". Drügh gelingt es, mit seiner Studie zu zeigen, "dass die Allegorie keineswegs wie ein Fixierbad für sprachlichen Sinn funktioniert. Vielmehr kennzeichnet die allegorische Struktur die in ihr vollzogene semantische Synthesis als ein prekäres, weil niemals zum Stillstand kommendes Unternehmen." So reduziert man heute im Anschluss an Benjamin die Allegorie immer noch zum Indikator ausgefallener Transzendenz oder stilisiert sie unter Berufung auf de Man zu einem Synonym für eine nahezu totale Sinnbeliebigkeit. Dem tritt Drüghs Ansatz entgegen, nach dem das Allegorische bei Benjamin nie losgelöst von einem metaphysischen, ja theologischen Hintergrund funktioniert, der den Wunsch nach einer sprachlichen Erfassung letzter, göttlicher Wahrheiten stiftet. Ebenso betont Paul de Man, dass die Allegorie zwar aufgrund eines unentscheidbaren Angebots von zum Teil disparaten Bedeutungsangeboten eine gewisse Unlesbarkeit des Textes bewirkt, jedoch, darauf verweist Drügh zurecht, darf sie nicht als unlesbar fixiert werden.

Im Unterschied zur Allegorie ist Prosopopoiia die rhetorische Figur für jenes 'romantische Projekt', das Hartman in seinem Text "Wordsworth and Goethe in Literary History" auf die Formel bringt: "to convert absence into presence, or silence into restituted speech." Die Texte der Romantik situieren sich dabei an der Stelle einer Figur für das Absente, als Stimme für das Stumme, für das Tote und werden von Menke vor dem Hintergrund dreier Paradigmen der Texttheorie näher untersucht: 1. 'Moderne' als texttheoretischer Begriff; 2. die Diskussion der Texte in Termini von Bildlichkeit und Musik und 3. die These von der Oralisierung der Schrift um 1800. Dabei wird vor allem auch gefragt, welche Funktion das Argument des Geräusches, des Klanges auch der Musik in Texten der Romantik einerseits und den diese rezipierenden Texten Kafkas andererseits hat. In der Fokussierung der Poetik auf das Paradigma der Stimme statt auf das des Bildes folgt die Verfasserin romantischer Vorgabe. Unter dem Gesichtspunkt der Rhetorizität wird die Verschiebung vom Bild zur Musik von Menke jedoch neu gelesen. " ,Romantisch' wird die Stimme als die Figur der Lesbarkeit konzipiert." Der evidente Riss zwischen Textualität und Musikalität führt Menke zu der Frage, "wie sich die [in den Texten] thematisierte Verstimmlichung als metatextuelle Vorgabe für die Texte in den Texten selbst präsentiert und realisiert. Zu lesen ist, was Texte praktizieren, wenn sie die 'stimmlich' vermittelte Teilhabe an einer als 'Naturpoesie' gedachten Musik predigen." In diesem Zusammenhang gelingen Bettine Menke interessante und neue Beobachtungen zum Zusammenhang von Literatur, Poetik und Musikästhetik.

Neben der romantischen Funktion der Stimme als Figur der Lesbarkeit untersucht die Verfasserin vor allem auch die Interdependenz von Stimmen und akustischen Phänomenen in Texten Kafkas (Disartikulationen der Stimme, unlokalisierbare Klänge, Rauschen). Die Signifikanz von Klängen und Geräuschen in Kafkas Texten verleiht ihrer intertextuellen Lektüre im Kontakt mit den romantischen Konzeptionen der poetischen Stimme und von der Klanglichkeit, der Akustik und des Hörens eine besondere Prägnanz. In Kafkas Text "Der Bau" etwa wird das Lesen unter der Vorgabe einer Stimme und damit auch die Voraussetzung metaphorischen Lesens insgesamt thematisiert. Der Text bringt in Menkes Sicht "die Stimme als einen narratologischen Terminus in Anschlag und etabliert die Stimme des Erzählers, das Erzähler-Tier, wie im Erzählten, so im Erzählen in bauherrlicher Funktion." Der Text thematisiert und inszeniert damit seine eigenen Grenzen und deren Unhaltbarkeit und er tut dies, indem er das Paradoxon seiner systematischen Nicht-Geschlossenheit und Unlesbarkeit exponiert und austrägt. Weitere Allegorien der Unlesbarkeit finden sich in Kafkas "Josefine, die Sängerin oder das Volk der Mäuse". Die Paradoxie der Nicht-Stimme im Text, ein paradoxes Gelingen im Verfehlen, verdeutlicht, dass sich im negativen Prozess der Lektüre nur noch Wiederholung und Zitation, ein nicht mehr schönes Gestotter und Geplapper einstellen. Folgerichtig kommt Bettine Menke zu dem Ergebnis, dass Kafkas Bearbeitungen der romantischen Metaphorik der Lesbarkeit der Texte "mit der Stimme die Figur des Lesens an ihre Ende [führen], in die Zonen ihrer Dis-Figuration, (in akustischer Metaphorik) das Geräusch oder Rauschen" und "im Verschwinden-Machen der Sängerin ein Verschwinden ihrer selbst, eine Disartikulation ohne Neukonstitution und ohne Rückhalt" suchen. Das negative Telos dieser Texte - alles, was gesagt wird, ist Zitat und Wiederholung, die jedem Sprechen vorausgeht - verweist damit auf Kafkas Babel der Moderne: die einzelne Stimme des Textes verliert sich im anonymen Gemurmel aller, im Gewirr "alles Gesagten und Weitergesagten, des Wiederholten, sich Doppelnden und Differierenden". Die von Menke konstatierte Exzitation der poetischen Stimme aus dem Stimmengewirr der Wiederholungen und Zitationen, aus den intra- und intertextuellen Echos rekurriert explizit auf Michel Foucaults Überlegungen am Ende seines Textes "Qu' est-ce qu'un auteur?". Dort wird der Paradigmenwechsel von der Funktion 'Autor' zur Funktion 'Diskurs' verdeutlicht: "Ganz gleich welchen Status, welche Form und welchen Wert ein Diskurs hätte und welche Behandlung man ihm angedeihen ließe, alle würden sich in der Namenlosigkeit des Gemurmels entrollen. Folgende so lange wiedergekäute Frage würde man nicht mehr hören: 'Wer hat eigentlich gesprochen? Ist das auch er und kein anderer? Mit welcher Authentizität oder welcher Originalität? Und was hat er vom Tiefsten seiner selbst in seiner Reihe ausgedrückt?' Dafür würde man andere hören: 'Welche Existenzbedingungen hat dieser Diskurs? Von woher kommt er? Wie kann er sich verbreiten, wer kann ihn sich aneignen? Wie sind die Stellen für mögliche Stoffe verteilt?' Und hinter all diesen Fragen würde man kaum mehr als das gleichgültige Geräusch hören: 'Wen kümmert's, wer spricht?'"

Insgesamt gelingt es Bettine Menke eindrucksvoll, die Rhetorik der Stimme und den Widerstreit von Text und Stimme in romantischen Texten und bei Franz Kafka unter die Lupe zu nehmen. In ihrer Auseinandersetzung mit dekonstruktiver Rhetorik und Medienanalyse nimmt besonders die rhetorische Figur der Prosopopoiia eine zentrale Stelle ein. Sie ist in den untersuchten Texten von Brentano, Hoffmann und Kleist die Figur für ein romantisches Modell der Verstimmlichung des Textes und die Wiederkehr des Verdrängten in das Gewebe des Textes. Mit dem Blick auf Kafkas Poetik der unsituierbaren Klänge, Geräusche und Disartikulationen der Stimme werden in Menkes Untersuchung jedoch auch die Brüche und Blindheiten des romantischen Phantasmas lesbar gemacht. Die Figuren und Euphemismen der Stimme werden, wie die Verfasserin kenntnisreich hervorhebt, mythopoetisch personifiziert in der Memnon-Statue, in Echo(s) und Sirenen. Die Lektüre der Texte Kafkas legt nahe, dass die Lösung der Stimme von ihrem Körper, ihr Nachklang als Echo, ihr Gebannt-Sein in den Mythos 'großer Erzählungen', die Ortlosigkeit des in ihr Vergessenen, Verschluckten, des 'verlorenen Objekts' nicht überspielt, sondern nur noch konstatiert werden kann. Die Trauerarbeit der Texte Kafkas arbeitet an diesem Zeugnis; die Schrift in ihnen echot stumm den Verlust des in Geschichte Aufgegebenen. Gleichzeitig schärft dies die Sinne für die Resonanz der verschiedenen, niemals in eine Überein-Stimmung zu bringenden Stimmen im Text und präludiert damit gewissermaßen die Polyphonie der Stimmen im Poststrukturalismus. Die Restitution der Stimmen, das in ihnen übertragene Gedächtnis motiviert in poststrukturalistischer Theorie und Praxis des Schreibens eine Topik des Exils, die zugleich eine A-Topik der Entwurzelung, der unwiederbringlichen Verluste und der verlorenen Verständigungen ist. Diese Absenz in der Stimme und die bleibende Ungewissheit über ihre Quelle kann, wie Bettine Menke herausgearbeitet hat, niemals eingeholt werden; sie kehrt in allen romantischen Konstruktionen des Sprechenmachens wieder. Zum Emblem der Belebung der Toten wird Memnons Statue als Monument des Tot- und Stummbleibens der Texte.

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Heinz-Joachim Drügh: Anders-Rede. Zur Struktur und historischen Semantik des Allegorischen. Rombach Wissenschaft.
Rombach Verlag, Frankfurt a. M. 2000.
450 Seiten, 50,10 EUR.
ISBN-10: 3793092380

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Titelbild

Bettine Menke: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka.
Wilhelm Fink Verlag, München 2000.
854 Seiten, 88,40 EUR.
ISBN-10: 3770532937

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